30 Der Späher auf den Winden

Als Grince erwachte, stellte er fest, daß er auf einem vibrierenden Bett lag. Da er zuerst nicht genau wußte, ob er sich im Halbschlaf befand oder sich irgend etwas einbildete, legte er eine Hand flach auf den Boden der Höhle. Nein – es war kein Traum. Der Stein bewegte sich: ein schwaches Vibrieren, das mit jedem Augenblick stärker wurde. Um ihn herum regten sich nun auch einige seiner Gefährten. Schiannath und Iscalda, die zusammen in einer Ecke lagen, wachten langsam auf. Vannor, der auf einer der Steinbänke an der Wand der Höhle schlief, rollte sich mit einem leisen Murmeln herum. »Nein, nein. Ich gehe nicht zurück. Nein!« Eine letzte Zuckung seines Körpers Heß ihn zu Boden fallen, wo er sich unbeholfen aufsetzte; die grobe Art, wie er aus dem Schlaf gerissen worden war, machte ihn noch immer ein wenig benommen.

Linnet richtete sich ebenfalls auf, und die Spitze eines ihrer großen Flügel fegte durch die Asche, die am Rand der Feuerstelle lag. Sie gähnte herzzerreißend und rieb sich mit dem Handrücken die verschlafenen Augen.

»Was ist denn los?« Dann veränderte ihr Gesichtsausdruck sich plötzlich. »Yinze, steh uns bei! Es ist ein Erdbeben! Schnell – raus aus der Höhle!«

Grince wußte nicht, was ein Erdbeben war, aber die Panik in der Stimme des geflügelten Mädchens, die verstand er. Im Nu war er auf den Beinen und stürmte dem Ausgang entgegen. Erst als er in dem dämmrigen Feuerschein über Wolf stolperte, kam ihm zu Bewußtsein, daß einige seiner Gefährten einfach nicht aufwachten.

»Wo ist Chiamh?« schrie Iscalda und machte die allgemeine Verwirrung damit noch schlimmer. »Und Aurian?«

Grince stellte fest, daß die beiden großen Katzen ebenfalls verschwunden waren.

»Ich bekomme ihn nicht wach!« Vannor schüttelte den reglosen Körper des Mannes, den sie Forral nannten. »Und er ist verletzt – seht nur all das Blut!« Vannors Stimme wurde schrill vor Panik.

»Hier!« Schiannath lief herbei und schob die Hände unter Forrals Arme. »Du nimmst die Füße.«

Vannor schob sich Forrals Füße unbeholfen unter den Arm und hielt sie mit seiner einen Hand fest. Gemeinsam trugen die beiden, auch wenn sie unter dem Gewicht taumelten, den reglosen Körper des Schwertkämpfers aus der Höhle, während Grince und Iscalda dasselbe mit der starren Gestalt Wolfs taten. Linnet sprang hierhin und dorthin und sammelte Waffen, Decken und Essensreste ein. Der Boden zitterte und bebte mittlerweile so heftig, daß man Mühe hatte, sich überhaupt auf den Beinen zu halten.

Draußen war das Wasser im Teich über die Ufer getreten, und in dem Kieferwäldchen sah es aus, als schlügen die Bäume wild um sich. Zwei Tannen stürzten mit dem gequälten Aufstöhnen gefällten Holzes zu Boden und zogen ihre stärkeren Brüder mit sich hinab. Mittlerweile zitterte der ganze Berg. Ein gewaltiger Felsbrocken schoß den steilen Hang des Tals hinunter und grub sich tief in den Rasen dort – keine drei Meter von der Stelle entfernt, an der Grince nun aus der Höhle trat.

»Weg da! Bring dich in Sicherheit«, schrie Iscalda, als sie ins Freie stürzten. »Flieg, Linnet! Wir kümmern uns um die anderen!« Dann wechselten sie und Schiannath schneller, als Grince das je erlebt hatte, ihre Gestalt und standen als Pferde vor ihnen.

»Hilf mir, Grince«, rief Vannor, der es nicht einmal mit zwei Händen geschafft hätte, den schlaffen Leib Forrals auf Schiannaths hohen Rücken zu hieven. Mit Grinces Hilfe gelang es ihm jedoch, Forral über den Widerrist des Xandim zu legen. Einen Augenblick später sprang Vannor hinter dem Schwertmeister auf den Xandimhengst. Der Dieb rannte zurück und legte Wolf auf Iscaldas Rücken, bevor er sich hinter ihn auf die Stute setzte. Dann jagten die Xandim davon, galoppierten das Tal hinunter und versuchten, so schnell wie nur möglich von der zitternden Bergspitze wegzukommen.

Forral blinzelte nur, als der Körper des Erzmagusch durchsichtig wurde und in einem trüben Nebel verschwand, der das zerfallende Schlachtfeld darstellte. In diesem schauerlichen Reich, Jenseits der Welt, behielt offensichtlich nichts lange dieselbe Gestalt bei. Einen Wimpernschlag später löste sich auch die Landschaft, die Forral endlich vertraut erschienen war, wieder in die gewaltige, schimmernd grüne Sphäre auf, in der er vor einiger Zeit angekommen war. Ein kalter Speer der Furcht durchschoß den Schwertkämpfer. Wie real war dieser Titanenkampf wirklich gewesen? Wenn er in die normale Welt zurückkehrte – würde er dann immer noch diese Wunde tragen? Und was war mit Miathan? »Oh, ihr Götter«, stöhnte Forral. »Erzählt mir nicht, daß ich den Bastard noch einmal umbringen muß.«

»Mußt du nicht. Wo auch immer sein Körper liegt, er ist tatsächlich tot. Das haben wir dir zu verdanken.«

Als Forral sich umdrehte, stand er Aurian und Wolf gegenüber. Die Magusch hatte immer noch ihre normale irdische Gestalt, aber Wolf – der Schwertkämpfer war auf einmal von einer wilden Freude und einem unendlichen Stolz erfüllt. Neben der Magusch stand ein kräftiger Junge von ungefähr zehn Jahren, mit braunen Augen und dunklem, gelocktem Haar.

»Sieht aus wie sein Vater, wie?« sagte Aurian weich.

»Aber er hat die Magie seiner Mutter – sonst wäre er nicht hier«, erwiderte Forral stolz. »Und was noch schlimmer ist«, fügte er mit gespieltem Ingrimm hinzu, »er besitzt dasselbe Talent, an Orten aufzutauchen, wo er nichts zu suchen hat, wie du in diesem Alter.« Lächelnd streckte er die Arme aus und umfing sowohl Aurian als auch seinen Sohn. An diesem Ort war eine Umarmung ein seltsames Gefühl – sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit körperlicher Berührung, sondern war eher wie eine Ver- Schmelzung – ein Austausch von Energien und Freude, der auf seine Art und Weise genauso guttat wie eine fleischliche Umarmung.

Aurian berührte ganz leicht Forrals Gesicht. »Ich hätte nie gedacht, dieses geliebte Gesicht jemals wiederzusehen«, sagte sie. »Und auch Wolf – nach all diesen Jahren hat er nun endlich die Gelegenheit, seinen Vater kennenzulernen. Ich bin ja so froh, daß du zurückkehren konntest, mein Liebster. Dieser Augenblick wiegt alles andere auf.«

»Ist es vorüber?« fragte Forral sie, als er endlich seine Stimme wiederfand, »Jetzt, da Miathan tot ist, ist der Fluch, mit dem er Wolf belegt hat, von ihm genommen?«

»Nein, Vater«, sagte der Junge – und Forral war glücklich darüber, daß er für sich selbst antworten konnte.

»Der Fluch ist nur zum Teil von mir genommen. Jetzt, da der Erzmagusch tot ist, kann ich zwar an diesem Ort meine Menschengestalt tragen, aber solange meine Mutter nicht den Gral findet, werde ich in der normalen Welt immer noch ein Wolf sein.« Er blickte verwundert an sich herab. »Unheimlich, nicht wahr? Und es funktioniert nicht besonders gut, finde ich. Man braucht furchtbar viel Energie, bloß um aufrecht zu stehen …«

Die Stimme von Basileus unterbrach ihn. »Ihr müßt sofort von hier weg! Ihr habt nicht nur ernsten Schaden von meinem Kampf mit Ghabal zu befürchten – gerade in diesem Augenblick sind eure Körper in eurer eigenen Welt in schwerer Gefahr!«

Forral fluchte. Seine Familie hatte sich so sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt – dem Tod Miathans und der lang ersehnten Vereinigung mit Wolf in seiner menschlichen Gestalt –, daß sie an den Kampf zwischen den beiden Moldan, der sich auf der gegenüberliegenden Seite dieser gewaltigen, grünen Fläche abspielte, überhaupt nicht mehr gedacht hatten.

»Zaudert nicht länger!« drängte Basileus sie. »Ihr habt keine Zeit mehr. Geht sofort zurück in eure Körper!«

Mit einem gräßlichen Geräusch rissen die beiden Moldan einander in Stücke; ihre Fangarme fügten einander die furchtbarsten Verletzungen zu. Während ihre Geister sich in dieser tödlichen Schlacht im Jenseits der Welt verkeilten, hatten sie keine Ahnung, daß ihre Titanenkämpfe in der gewöhnlichen Welt solche Verheerungen anrichteten. Basileus befand sich in jämmerlichem Zustand; aus seinem Leib waren gewaltige Brocken weggerissen worden, und viele seiner Glieder waren so grausam zerbissen, daß man sie nur noch als blutige Stumpen erkennen konnte. Ghabal jedoch war in noch schlechterem Zustand, da die meisten seiner Tentakel fehlten und sein Körper bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt war. Der Tod seines Maguschgefährten hatte ihm den letzten Funken Verstand genommen, und er hatte Basileus mit geistloser Wildheit angegriffen, ohne sich darum zu scheren, welchen Schaden sein Gegner ihm dabei zufügte.

In all den Äonen ihrer Existenz – lange bevor Ghabal dem Wahnsinn verfallen war – hatten er und Basileus sich trotz ihrer räumlichen Nähe nie gut verstanden. Jetzt wurde Basileus mit einemmal klar, daß er ihre lange Feindschaft ein für allemal beenden konnte. Obwohl ein Teil seines Selbst in ungläubigem Protest aufschrie, weil ihm die Ermordung eines anderen Moldan undenkbar schien, wußte er doch, daß ihm in diesem Fall nichts anderes übrigblieb. Die Flucht der Katzen von den Hängen Stahlklaues hatten das bewiesen. Wenn er nicht aufgehalten würde, hätte Ghabals verderbter Einfluß weiter die Berge beschmutzt, und er würde niemals Ruhe geben, bevor er Basileus nicht zerstört hatte.

Der Moldan rüstete sich für den weiteren Kampf mit seinem verletzten Feind – als ihm plötzlich etwas einfiel. Die Menschen mußten verständigt werden, damit ihre hilflosen Körper nicht in Ghabals Todeswehen verletzt wurden. Er stieß einige schnelle Worte der Warnung aus, um sie zur Rückkehr in die sterbliche Welt zu drängen – und holte dann zum letzten Schlag gegen seinen Widersacher aus.

Im Laufe des Kampfes wurde ihm jedoch bald klar, daß es hoffnungslos war – die Kräfte der beiden Moldan waren zu ausgeglichen. Basileus konnte in den Randzonen seines Gegners ungeheure Verwüstungen anrichten, aber er kam einfach nicht nah genug an ihn heran, um den Kampf zu beenden – jedenfalls nicht ohne selbst tödliche Verletzung zu riskieren.

»Jetzt Basileus! Ich halte ihn für dich fest!«

Die Stimme war eine absolute Überraschung für den Moldan. »Chiamh! Du solltest nicht hier sein!«

»Kümmere dich nicht darum. Du hast mir so viele Male geholfen – jetzt kann ich dir deine Freundlichkeit endlich vergelten. Laß uns diese Sache hinter uns bringen.« Ein weiteres riesiges, mit Tentakeln bewehrtes Geschöpf ging über den beiden kämpfenden Moldan in Position. Die schlanken, langen Fäden seiner Gliedmaßen schossen hervor und schlangen sich um Ghabal, so fest und unentrinnbar, daß er ihnen nicht entfliehen konnte.

Schneller als das Auge zu sehen vermochte, peitschte Basileus seine eigenen Fangarme um den Körper des Feindes und wirbelte den hilflosen Ghabal auf sein riesiges Maul mit den vielen Reihen schwertscharfer Zähne zu. Der bereits schwer verwundete Ghabal versuchte sich immer wieder gegen seinen Angreifer zur Wehr zu setzen, hatte aber nicht mehr genug Reserven, um zu entkommen. Fauchend spie das wahnsinnige Geschöpf Flüche aus, bis es die Hoffnungslosigkeit seiner Situation erkannte und seine Flüche sich in schrille Angstschreie und ein jämmerliches Flehen um Gnade verwandelten. Im allerletzten Augenblick ließ Chiamh den irrsinnigen Moldan los, und das Kreischen schwoll, während Basileus ihm Glied um Glied aus dem Leibe riß, zu einem qualvollen Crescendo an.

Die ganze Bergkette erbebte unter den Todesqualen des Moldan. Forral kehrte in seinen Körper zurück und spürte als erstes, daß die Erde sich unter ihm aufbäumte, als krümmten sich die Berge selbst unter einer tödlichen Wunde. Wolf hatte sich mit der Unverwüstlichkeit der Jugend – gepaart mit der Tatsache, daß er ja nicht an dieser gewaltigen Schlacht habe teilnehmen dürfen – als erster erholt und stand nun über dem Schwertkämpfer. Mit einem ängstlichen Aufheulen stubste er seinem Vater die kalte Nase ins Gesicht. Mittlerweile hatte sich bereits graues Tageslicht übers Land gelegt. Forral stellte fest, daß er sich auf einem weiten Plateau befand, das er während ihres Fluges zu Chiamhs Tal aus der Luft gesehen hatte – und natürlich war er nicht als er selbst zurückgekehrt, sondern steckte wieder einmal in Anvars Körper. Die Verwandlung war eine grenzenlose Enttäuschung für ihn. Kurze Zeit hatte er die Freude erfahren, wieder er selbst zu sein, ganz und unversehrt – aber das gehörte nun wieder der Vergangenheit an.

Iscalda versuchte, den Wolf mit dem Ellbogen zur Seite zu drängen, damit sie die Wunden des Schwertkämpfers mit Stoffstreifen verbinden konnte, die sie anscheinend aus den Kleidern sämtlicher Anwesender herausgerissen hatte.

»Aurian«, keuchte Forral. »Wo ist Aurian?«

»Das wissen wir nicht«, sagte Iscalda mit gepreßter Stimme. »Linnet ist noch einmal zum Tal zurückgeflogen, um nach ihr und Chiamh zu suchen. Die Katzen sind ebenfalls verschwunden.«

Forral fluchte und versuchte, sich zu erheben.

»Du bleibst genau da, wo du bist.« Iscalda drückte ihn mit einer Hand zurück auf sein Lager, und Forral mußte zu seinem Entsetzen feststellen, daß sie dies mühelos bewerkstelligen konnte. »Keiner von uns kann irgend etwas tun, bevor Linnet sie findet.«

»Chiamh! Chiamh, komm zurück! Wach auf, verdammt!« Aurian umklammerte ängstlich den Ärmel des Windauges und schüttelte ihn mit aller Kraft, erhielt aber keine Antwort. Sie fluchte. Was war ihm nur zugestoßen? Wenn sie ihn nicht bald aufweckte, würden sie höchstwahrscheinlich alle beide hier oben sterben.

Schließlich versuchte Aurian es auf andere Weise. »Basileus? Was ist da los bei euch? Kannst du dem nicht Einhalt gebieten?« Sie bekam keine Antwort. Weder von dem Moldan, noch von dem Windauge wurde ihr die leiseste Reaktion zuteil.

Als die Magusch in ihren Körper auf dem Berggipfel zurückgekehrt war, hatte sie festgestellt, daß die Kammer der Winde sich in einen höchst gefährlichen Ort verwandelt hatte. Der ganze Turm zitterte und schwankte, und jedesmal, wenn mit einem neuerlichen, scharfen Krachen ein weiterer Teil des Gesteins barst, drohte das Herz der Magusch auszusetzen. Der ganze schmale Felsturm konnte jeden Augenblick in sich zusammenstürzen – die Spinnwebbrücke war bereits vollkommen weggerissen worden. Chiamh war ihre einzige Möglichkeit, von dem Berg herunterzukommen – und sie konnte ihn nicht aus seiner Trance wecken.

Aurian preßte sich flach auf den Boden und versuchte verzweifelt, aber erfolglos, auf den glatten Steinen irgendwie Halt zu finden. »Verdammt noch mal! Chiamh, wach auf!« stieß sie hervor. »Wach auf, bitte.«

»Was ist passiert? Was ist – oh Göttin! Ich hätte nie gedacht, daß so etwas geschehen würde!« Das Windauge versuchte sich aufzusetzen, brauchte jedoch drei Anläufe, bis es ihm endlich gelang. Indem er und die Magusch sich aneinander festklammerten, konnten sie sich mehr oder weniger aufrechthalten, aber das war auch schon alles. Als das Windauge den Moldan anrief, war seine Gedankenstimme so laut, daß Aurian sie deutlich hören konnte. »Basileus? Bist du in Ordnung?«

»Ich kann das Beben nicht beenden, Windauge. Das sind Ghabals Todeswehen – sie müssen ihren Lauf nehmen.«

Das Windauge fluchte leise. »Na schön, Aurian«, sagte er. »Ich werde mich in dieser Position in meine Pferdegestalt wandeln und dann aufstehen müssen. Sobald ich auf den Beinen bin, mußt du dich auf meinen Rücken schwingen, und dann sehen wir zu, daß wir hier wegkommen. Du hast doch dein Amulett bei dir, oder?« Als sie nickte, schenkte er ihr ein Lächeln, das tiefster Erleichterung entsprang. »Nun, das ist ein Segen. Vergiß nicht, wir müssen beide zusammenarbeiten, damit ich fliegen kann. Sobald ich mich verwandelt habe, darfst du keinen Augenblick mehr zögern.« Bevor Aurian Zeit zu einer Antwort hatte, begannen seine Umrisse zu schimmern, und im nächsten Augenblick lag auf den Steinen neben ihr das stämmige, braune Pferd mit der schwarzen Mähne.

Chiamhs Versuch, sich auf diesem unsicheren Grund auf die Füße zu hieven, war ein Alptraum. Endlich, nach mehreren schmerzhaften Stürzen, gelang es ihm, sich mehr oder weniger senkrecht hinzustellen, obwohl er breitbeinig und unsicher dastand wie ein neugeborenes Fohlen. Bei seinen vorangegangen Stürzen fürchtete Aurian jedesmal, Chiamh würde sich die Beine brechen, und dieser Gedanken schnürte ihr das Herz zu. Und dann geschah es. Gerade als Aurian sich auf seinen Rücken ziehen wollte, brach der Stein unter ihren Füßen weg. Die Magusch taumelte und fiel der Länge nach zu Boden. Auch Chiamh geriet ins Wanken, glitt aus – und war über den Rand des Abgrunds verschwunden.

»Chiamh!« kreischte Aurian. Sie barg das Gesicht in den Händen, außerstande, in den Abgrund hinunterzuspähen. Die unmittelbare Gefahr, in der sie selbst sich befand, verlor sich in der überwältigenden Trauer um ihren Freund.

Ein schrilles, forderndes Wiehern durchbrach den dunklen Schleier ihres Kummer. Mit maßlosem Staunen blickte die Magusch auf – und traute ihren Augen nicht. Dort vor ihr schwebte mitten in der Luft und ohne jede Hilfe Chiamh.

Ein neuerliches Beben des Berggipfels riß Aurian augenblicklich aus ihrem Schockzustand heraus. Sie konnte später noch herausfinden, warum und wieso dies geschehen war – sobald sie ihre Füße wieder auf festem Boden wußte. Das Windauge bewegte sich geschickt in die Kammer der Winde und setzte leichtfüßig zur Landung an, wobei seine Hufe kaum den vibrierenden Boden berührten. Irgendwie gelang es Aurian, sich auf seinen Rücken zu ziehen, dann waren sie fort. Die Magusch brauchte ihren Talisman nicht – das Windauge hatte die ganze Angelegenheit auch ohne ihre Hilfe im Griff. Als sie die zerfallende Bergspitze unter sich zurückließen, stieß Chiamh ein triumphierendes Wiehern aus und trug eine verdutzte Magusch in die Sicherheit des Tals hinunter.

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis Forral endlich einen schwarzen Punkt am Himmel entdeckte. Dann erkannte er Aurian auf Chiamhs Rücken. »Sie ist hier, Wolf«, rief er. »Deine Mutter kommt!«

Die Magusch sah sehr bleich aus, als sie abstieg und Forral und ihrem Sohn entgegeneilte. Mit einem einzigen Blick nahm sie die Verbände des Schwertkämpfers in sich auf. »Ich dachte mir schon, daß du deine Verletzungen mit in diese Welt hineinnehmen würdest«, sagte sie. »Ich hätte dich warnen sollen. Trotzdem, ich bin sicher, wir kriegen das schon wieder hin.« Dann nahm sie Vater und Sohn in den Arm, zuerst Forral, dann Wolf.

»Bist du denn in Ordnung?« Forral griff nach ihrer Hand. »Du siehst furchtbar aus, mein Liebes.«

Aurian schnitt eine Grimasse. »Es war auch furchtbar. Ich hoffe, daß ich nie wieder etwas Derartiges erleben werde.«

»Wohl kaum«, versicherte der Schwertkämpfer ihr. »Schließlich ist Miathan tot und …«

»Götter! Ich meinte doch nicht das«, rief Aurian. »Ich rede davon, daß ich mitten in einem Erdbeben hoch oben auf diesem verfluchten Berggipfel festgesessen habe!« Sie erhob sich auf die Füße und wandte sich an das Windauge, das sich in seine Menschengestalt zurückverwandelt hatte und übers ganze Gesicht grinste. »Ich bin ungeheuer froh, daß du getan hast, was du getan hast«, sagte sie, »aber wie, verdammt noch mal, hast du das bloß hinbekommen? Ich dachte bisher, die Xandim könnten nur mit die Hilfe der Alten Magie fliegen.«

Chiamh zuckte bescheiden mit den Achseln. »Das entspricht wohl auch den Tatsachen – jedenfalls, soweit es normale Xandim betrifft. Aber meine Zauberkräfte als Windauge haben ja ihren Ursprung in der Alten Magie. Als du den Talisman das erste Mal benutzt hast und mir deine eigene Andersicht demonstriertest, dachte ich mir schon etwas in der Art. Seither habe ich mich ständig gefragt, ob ich ohne fremde Hilfe fliegen könnte – aber ich hatte bis heute nicht den Mut, es auszuprobieren.« Er zog eine Grimasse. »Es war nicht gerade die beste Gelegenheit, es herauszufinden, glaub mir. Aber wenigstens verstehe ich jetzt, worauf sich deine Höhenangst gründet, Aurian.«

Endlich war zu aller Erleichterung das Beben erstorben, obwohl Basileus dem Windauge empfahl, noch eine Weile zu warten, bevor sie in die Höhle zurückkehrten, nur um ganz sicher zu sein. Die Magusch heilte unterdessen Forrals Verletzungen und hielt ängstlich Ausschau nach Linnet, die ihnen hoffentlich Näheres über den Verbleib von Shia und Khanu berichten würde. Zu ihrem Entsetzen kehrte das geflügelte Mädchen gegen Mittag mit der Botschaft zurück, daß sie keine Spur von den Katzen hatte entdecken können. Es war schon kurz vor Sonnenuntergang, als Shia und Khanu endlich zurückgeschlichen kamen – aus einer völlig unerwarteten Richtung. »Im Namen aller Götter! Wo habt ihr zwei denn bloß gesteckt?« fragte die Magusch.

»Wir waren auf dem Stahlklaueberg«, sagte Shia müde. »Der Drachenschwanz wurde bei dem Erdbeben völlig zerstört. Wir mußten einen meilenweiten Umweg machen – praktisch den ganzen Weg den einen Berg hinunter und den anderen wieder hinauf. Und ich muß euch warnen – wir können auf keinen Fall ungefährdet hierbleiben. Wir sind zwar ungesehen an der Festung vorbeigekommen, aber die Xandim haben sich draußen zusammengerottet. Ich glaube, sie haben die Absicht, hier heraufzukommen und festzustellen, was aus ihrem verfluchten Blinden Gott geworden ist.«

Aurian sah Chiamh an. Dieser nickte. »Laßt uns sofort in die Höhle zurückkehren«, sagte er, »und unsere Sachen packen. Wenn die Xandim hierherkommen wollen, dürfen wir keine Zeit verschwenden.«

Obwohl die Gefährten zu müde waren, um die ganze Nacht weiterzuziehen, kamen sie doch immerhin bis tief in die Berge südlich des Windschleiers, wohin ihnen die Xandim nicht folgen konnten. Chiamh und Aurian hatten Basileus ein trauriges Lebewohl gesagt, obwohl dieser ihnen das Versprechen abgenommen hatte, sobald wie nur möglich zurückzukehren. »Er scheint sehr zuversichtlich zu sein, daß wir zurückkehren werden«, sagte Aurian später zu dem Windauge. »Es tut gut zu wissen, daß wenigstens einer so viel Vertrauen in uns hat.«

»Ich habe auch Vertrauen in uns«, erwiderte Chiamh. »Wir werden vollenden, was wir uns vorgenommen haben, du wirst schon sehen. Und wir werden nach Hause zurückkommen, um unseren Enkelkindern davon zu berichten.«

»Enkelkinder? Bitte, Chiamh – immer schön eine Schicksalsprüfung nach der anderen!«

Auf diese Weise waren sie zumindest lachend aufgebrochen.

Als die Nacht sich ihrem Ende neigte, machten sie endlich halt, obwohl es ohne ein Feuer nur ein kaltes und trostloses Lager wurde. Zwar wagten sich die Himmelsleute nur selten so weit nach Osten, aber die Gefährten wollten jedes Risiko vermeiden, irgendwelche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aurian, die die erste Nachtwache übernommen hatte, sah zu ihrer Überraschung, daß Chiamh sich nach kurzer Zeit von seinem Lager erhob. »Kannst du nicht schlafen?« flüsterte sie.

»Das ist es nicht«, erwiderte er. »Ich dachte nur gerade, daß wir jetzt nicht mehr wissen, wo deine Feindin sich aufhält – jedenfalls nicht sicher. Da die Geflügelten sie unterstützen, könnte sie mittlerweile überall sein. Ich glaube, ich sollte besser die Winde reiten und feststellen, ob ich sie finden kann.«

Aurian war ihm wirklich dankbar. »Was wäre ich nur ohne dich, Chiamh?« flüsterte sie.

»Das wirst du niemals herausfinden müssen«, antwortete das Windauge geheimnisvoll – und war verschwunden, bevor sie ihn fragen konnte, was er damit meinte.

Chiamh entfernte sich ein kleines Stück; er begab sich außer Sichtweite des Lagers, blieb aber in Rufweite für den Fall, daß jemand ihn brauchte. Ein kaltes Gefühl wie ein Guß von eisigem Wasser überflutete seinen Körper, als er in seine Andersicht überwechselte. Dann wählte er einen der flüssigen Pfade aus silbriger Luft und ritt Richtung Aerillia auf den Winden davon.

Eliseth weilte nicht mehr in der Stadt der Himmelsleute. Chiamh machte sich auf eine langwierige Suche gefaßt, als ihm ein glücklicher Zufall zu Hilfe kam. Er belauschte zwei geflügelte Wachen, die über die Expedition nach Dhiammara sprachen; sie unterhielten sich gerade darüber, wie gern sie sich dem Trupp angeschlossen hätten. Das Windauge ließ sich von der nächtlichen Brise treiben und driftete davon. Er wollte gerade zurückkehren und Aurian erzählen, was er herausgefunden hatte, als ihm eine Idee kam. Warum zog er nicht statt dessen weiter, bis nach Dhiammara? Wenn er die Winde ritt, würde die Reise kaum Zeit in Anspruch nehmen, und es könnte Aurian sicher helfen, wenn er herausfand, was da wirklich vorging.

Eliseths Heim in der Drachenstadt war in der Zwischenzeit bei weitem erträglicher geworden. In den wenigen Tagen seit ihrer Ankunft hatte sie unglaublich hart gearbeitet. Sie hatte ihren neuen Sklaven aus der Waldkolonie befohlen, das herabgestürzte Mauerwerk, das die Korridore des Smaragdturmes versperrte, wegzuschaffen, und schließlich hatten die Sterblichen das Gebäude wieder bewohnbar gemacht. Die Magusch hatte sich alles Lebensnotwendige aus der geplünderten Waldkolonie herbeischaffen lassen; hinzu kamen noch allerhand Luxusgüter, die täglich aus Aerillia herbeigebracht wurden.

Heute hatte die Magusch endlich im Turm Einzug gehalten, und das war auch höchste Zeit gewesen. Ihre geflügelten Wächter hatten ihr erzählt, daß die Besucherin, die sie erwartete, noch in dieser Nacht ankommen würde.

Eliseth trat zu dem großen, roten Kristall, der in einer Ecke des Raumes auf einem kunstvollen, metallenen Dreifuß ruhte; sein Leuchten versorgte den Raum mit Licht und Wärme. Während sie sich die Hände wärmte, erfreute sie sich an dem Gedanken, daß sie nicht lange gebraucht hatte, um die Kristallmagie des verblichenen und unbeklagten Drachenvolks zu erlernen. Geistesabwesend ordnete sie die goldenen Kelche auf dem Tisch und strich den üppigen Pelz glatt, der ihren geschnitzten Stuhl bedeckte. Sie war froh, daß ihr neues Quartier gerade rechtzeitig fertig geworden war, um ihren Gast zu beeindrucken, denn der Empfang einer Königin war nichts Alltägliches – selbst wenn diese Königin nichts anderes war als eine kleine sterbliche Schlampe, die sich irrigerweise für etwas Besseres hielt.

Von draußen war dumpfes Flügelschlagen zu hören. Ah – die Khisihn war endlich angekommen. Die Wettermagusch trat an die Tür ihrer Gemächer, um ihren Gast zu begrüßen. Sonnenfeder und eine Ehrenwache, bestehend aus zwei geflügelten Kriegern, hatten die Königin, die in ihrem vollen Staatsornat erschienen war, durch die geschwungenen, grünen Korridore eskortiert.

»Ihre Majestät, Königin Sara«, verkündete Sonnenfeder.

Die Besucherin hatte die tiefe Kapuze ihres Reiseumhangs zurückgeschlagen, und das herzliche Lächeln erstarrte auf Eliseths Zügen, als sie feststellte, daß diese Frau nordblondes Haar hatte und überhaupt keine Khazalim war! Was hatte das zu bedeuten? Wenn sich da jemand einen Betrug oder einen Scherz erlaubte, würde er dafür bezahlen, bei allen Göttern!

Dann stieg von irgendwo tief in ihren Gedanken eine Erinnerung an die Oberfläche – keine Erinnerung aus ihrem eigenen Gedächtnis, sondern etwas, das sie aus Anvars Geist gestohlen hatte, die Erinnerung an seine Jugendliebe, die ihn zugunsten des Königs der Khazalim zurückgewiesen hatte. Eliseth betrachtete die Frau wachsam. Hier stand also jemand vor ihr, der genauso unbarmherzig und gnadenlos war wie sie selbst.

Die kleine, blonde kleine Königin machte keine Anstalten, sich ehrfurchtsvoll zu verbeugen. Statt dessen neigte sie mit fürstlicher Geste den Kopf, ein Gruß von Gleich zu Gleich. Äußerlich änderte sich nichts an Eliseths strahlendem Lächeln. Innerlich schäumte sie vor Wut. »Euer Majestät«, sagte sie und nickte, wie die andere Frau es getan hatte.

»Bitte«, sagte die Königin, »verzichten wir doch auf solche Förmlichkeit zwischen uns. Ich bin sicher, daß Frauen von unserem hohen Rang Freundinnen sein können. Schließlich haben wir so vieles gemeinsam – sogar die Tatsache, daß wir beide aus Nexis kommen – und die Tatsache, daß Aurian auch meine Feindin ist.«

Das Lächeln verschwand aus Eliseths Zügen und ein Ausdruck maßlosen Erstaunens trat an seine Stelle.

Als Chiamh, der unsichtbar in einer Ecke des Raumes an der Decke geschwebt hatte, Aurians Namen hörte, kam er ein wenig näher, um auf keinen Fall etwas von dem Gespräch der beiden Frauen zu verpassen. Er war zusammen mit der Besucherin auf einem Schwall kühler Zugluft eingetreten, weil er noch einmal einen Blick auf Aurians Feindin werfen wollte, die er seit ihrem Angriff auf die Magusch im Tal und dem Diebstahl des Schwerts der Flammen nicht mehr gesehen hatte. Die Besucherin jedoch war ein Rätsel. Sie konnte nur eine Sterbliche sein – aber Königin Sara? Die Königin welchen Landes war sie? Und wann und wie war sie aus Nexis gekommen? Obwohl die eine Frau eine Magusch war und die andere eine Sterbliche, konnte er genau sehen, was die beiden Frauen gemeinsam hatten: ihre goldene Schönheit, ihren nackten Ehrgeiz – und ihren unerschütterlichen, alles verzehrenden Haß auf Aurian.

Auf Eliseths Aufforderung hin setzte die Königin sich, arrangierte mit eleganter Anmut ihre Röcke und nahm einen Kelch Wein entgegen. »Und nun«, sagte sie, »wenn ich direkt zur Sache kommen darf, Lady – die von mir versprochenen Soldaten sind mittlerweile unterwegs und werden vor Morgengrauen in Dhiammara sein. Wie abgesprochen habe ich ihnen Order gegeben, den Eingang auf Bodenhöhe zu benutzen. Die Männer werden in den unteren Höhlen ihr Quartier aufschlagen und gleichzeitig diesen Zugang zur Stadt bewachen. Als Gegenleistung für meine Hilfe garantierst du mir deinen Beistand; sobald Aurian aus dem Weg geräumt ist, wirst du mir bei meinen Plänen helfen; ich will in meinem eigenen Namen über die Khazalim herrschen, statt weiter nichts als eine bloße Regentin zu sein.«

»In der Tat«, pflichtete Eliseth ihr sofort bei. »Da meine Eroberung des Waldkönigreichs so erfolgreich verlaufen ist, habe ich jetzt für die Unterhaltung dieser Stadt eine beträchtliche Anzahl von Sklaven zur Verfügung. Außerdem besitze ich auf diese Weise eine sichere Versorgungsbasis jenseits der Wüste. Aurian sollte uns nur wenig Probleme bereiten. Meine geflügelten Wächter sind stets auf der Hut, und ich habe, ohne daß sie dies wüßte, einen Spion in ihrem Lager. Ganz gleich wann sie kommt oder auf welchem Weg sie zu kommen gedenkt, wir werden es rechtzeitig wissen – und wir werden bereit sein.« Ihre Augen glitzerten boshaft. »Sobald dieses elende Miststück aus dem Weg ist, können wir die Südländer gerecht zwischen uns aufteilen und unter unsere Herrschaft bringen.« Sie lächelte kalt. »Alle werden von diesem neuen Arrangement profitieren …«

»Vor allem wir beide«, brachte Sara mit glockenhellem Lachen ihren Satz zu Ende, und die beiden Frauen hoben ihre Gläser und tranken einander zu.

Nach alledem, was Chiamh gerade gehört hatte, war der Rest des Gespräches der beiden Frauen ziemlich unerheblich. Das Windauge erfuhr, daß Sara noch einige Tage in Dhiammara bleiben würde, hörte aber sonst kaum noch etwas, was ihnen später von Nutzen sein konnte. Unsichtbar in seiner hohen Ecke bebte er schließlich vor Ungeduld und wartete nur darauf, daß endlich jemand die Tür öffnete und ihm die Brise verschaffte, die er für seine Flucht benötigte; dann würde er mit seinen Neuigkeiten eilends zu Aurian zurückkehren.

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