22 Abschied

Die Magusch, die eine Hand tief in Chiamhs Mähne bohrte, schloß die andere um den Talisman. Sie mußte der unvertrauten Magie ihre ganze Konzentration widmen, indem sie das Energiefeld, das ihre eigene Aura bildete, zusammenzog und es mit dem des Xandim unter ihr und den wirbelnden Silbersträhnen des Windes verschmelzen ließ. Chiamh schoß mit solcher Heftigkeit nach vorn, daß Aurian um ein Haar heruntergefallen wäre. Er setzte seine Hufe auf einen Weg aus funkelnder Luft und streckte die Beine zu etwas, das wie ein gewöhnlicher Galopp erschien – nur daß er und die Magusch mit jedem Schritt höher und höher in den Himmel stiegen.

Das erste, was Aurian auffiel, war die Kälte, die mit zunehmender Höhe schärfer wurde. Auch der Wind wurde kräftiger, ließ ihr die Augen tränen, die Ohren schmerzen und wehte ihr das Haar aus dem Gesicht. Chiamhs rhythmischer Schritt schien sich nicht sehr von dem anderer Pferde zu unterscheiden, seine Bewegungen waren nur glatter und fließender, und es fuhr einem nicht jedes Mal ein Ruck durch die Glieder, wenn die Hufe des Pferdes den Boden berührten. Bis auf diese Einzelheit hätte Aurian sich einbilden können, in gewohnter Manier über den Boden zu reiten – solange sie nicht hinabbückte. Eine ganze Weile achtete sie sorgfältig darauf, genau das nicht zu tun. Sie klammerte sich an Chiamh fest, duckte sich tief über seinen Hals und hielt die Augen fest geschlossen. Als sie dann endlich die Kühnheit fand, sie zu öffnen – vor allem, weil es noch beunruhigender war, nichts zu sehen –, heftete sie den Blick starr auf die aufgestellten, dunklen Ohren des Windauges.

Schließlich brachte Aurian genug Mut auf, in die Tiefe zu bücken. In den sinnverwirrenden, kristallinen Abbildungen der Andersicht flog den Boden schwindelerregend schnell unter ihr dahin; die Erde unter ihr war fern, aber doch makellos gestaltet, genauso wie sie es erlebt hatte, als sie vor so langer Zeit mit Chiamh auf den Winden nach Aerillia geritten war. Nun reiten wir also wieder zusammen, dachte die Magusch – und mit einemmal war ihre ganze Furcht wie weggeblasen, ausgelöscht von einer Woger der Wärme und des Vertrauens zu ihrem Gefährten. Auch die Sorgen, die sie in den letzten Stunden gequält hatten, ließen sich plötzlich leichter ertragen.

Lähmende Verzweiflung hatte die Magusch bedrückt, seit es Anvars Geist nicht gelungen war, mit ihr aus dem Brunnen der Seelen zurückzukehren, denn wenn er anderswo wiedergeboren wurde, konnte man ihn nicht einmal mit dem Kessel in seinen alten Körper zurückholen. Jetzt schien er endgültig für sie verloren zu sein, und dieser Gedanke war eine große Last. Gegen diesen Schmerz mußte die ankämpfen, um ihr wichtigstes Ziel, nämlich den Sieg über Eliseth, weiterverfolgen zu können. Auch Wolfs Feindseligkeit hatte sie verletzt, obwohl sie im Grunde verstehen konnte, warum er so wenig Liebe für eine Mutter verspürte, die ihn vor vielen Jahren scheinbar im Stich gelassen hatte. Und dann die Sache mit Vannor – irgend etwas stimmte nicht mit dem Mann, stimmte ganz und gar nicht, obwohl die Magusch, und wenn es um ihr Leben gegangen wäre, nicht hätte sagen können, was das war … Aber je höher Aurian mit dem Windauge emporstieg, um so leichter wurde ihr ums Herz, als hätte sie ihre Sorgen wahrhaft hinter sich gelassen, irgendwo tief unten am Boden.

Chiamh kreiste über den Felsen und machte sich an den Abstieg, verlor immer mehr an Höhe und strebte dem wartenden D’arvan entgegen. Die Landung war perfekt; so leichtfüßig, daß Aurian den Aufprall kaum spürte. Sie glitt hastig von seinem Rücken, beglückt von dem, was sie gesehen hatte, aber trotzdem froh, wieder festen Boden unter sich zu haben. Als sie zurücktrat, hüllte Chiamh sich in einen flirrenden Schimmer und verwandelte sich wieder in seine Menschengestalt. »Nun?« fragte er sie herausfordernd. »Nein, wenn ich so drüber nachdenke, erzähl’s mir lieber nicht. Du hast mir fast die Rippen zerquetscht, und ich werde wahrscheinlich eine ganze Woche lang blaue Flecken haben.«

Aurian nahm den Talisman vom Hals und ließ ihn behutsam in die Tasche ihres Gewandes gleiten. »Ich könnte mich wahrscheinlich daran gewöhnen«, gestand sie vorsichtig. Dann tauschte sie einen Blick mit dem Windauge, und sie beide lachten. Aurian hielt ihm die Hände hin. »Es war wunderbar«, sagte sie, »wie du sehr wohl weißt …«

Sie brach ab und blickte über Chiamhs Schulter hinauf in den Himmel. In weiter Ferne tauchte ein dunkler Punkt auf. Er schien sich ihr mit atemberaubender Geschwindigkeit zu nähern. Die Magusch hielt den Atem an. »Sei nicht dumm«, schalt sie sich, »es ist wahrscheinlich nur eine Möwe …«

Aber der Anblick hatte die erkalteten Kohlen der Hoffnung in ihrem Herzen von neuem entfacht, und als der Vogel nahe genug war, um zu sehen, daß es sich tatsächlich um einen Bussard handelte, war die zaghafte Flamme bereits zu einem hellen Feuer aufgelodert.

Chiamh schüttelte sie. »Was ist los, Aurian? Was siehst du?« Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, ihrem Blick zu folgen – dafür war er viel zu kurzsichtig.

»Ich glaube …«, begann die Magusch – und verfiel abrupt in Schweigen. Seit der Bussard von der Nachtfahrersiedlung weggeflogen war, hatte sie sich für ihre Hoffnung gescholten, ein solches Geschöpf könne Anvars Geist beherbergt haben. In ihrer Verlegenheit hatte sie daher Schweigen bewahrt und ihren Verdacht keiner Seele gegenüber erwähnt. Jetzt jedoch schien dieser Verdacht sich zu bestätigen, denn der Bussard hatte hoch oben über ihrem Kopf innegehalten, um seine Kreise zu ziehen.

»Bei allen Göttern, es ist …«, hauchte Aurian. Dann streckte sie den Arm nach dem Vogel aus. »Anvar?« rief sie leise.

»Anvar?« rief D’arvan. Er sah sie besorgt an. »Aurian, ich glaube, du kommst jetzt besser mit hinein«, sagte er sanft.

Er wollte nach ihrer Hand greifen, aber Chiamh hielt ihn davon ab. »D’arvan, sieh doch …« Der Bussard gab seine Position am Himmel auf und Heß sich seitlich zu Aurian hinabgleiten. Er landete auf ihrem Unterarm und legte die Flügel an den Leib, als wolle er dort bleiben. Dann heftete er seinen wilden, bernsteinfarbenen Blick auf das Gesicht der Magusch.

Die warmen Farben lösten sich vor Chiamhs Augen auf und verwandelten sich in das reflektierende Silber seiner Andersicht. Die von Quecksilber überhauchten Augen weiteten sich. »Beim Lichte der Göttin«, stieß er hervor. Obwohl die körperliche Gestalt des Bussards eine drastische Veränderung darstellte, war das Geistlicht, das sie in einem vielfarbigen, funkensprühenden Strahlenkranz umfing, unverändert und vertraut. Aurian hatte wie immer recht gehabt. Nur die Göttin wußte, wie das geschehen war, aber irgendwie war Anvar in den Körper des Bussards gelangt. »Du wußtest es, nicht wahr?« beschuldigte er die Magusch.

Ohne den Vogel aus den Augen zu lassen, nickte Aurian. »Ich habe es vermutet – ich hatte gehofft … Ich werde dir später davon erzählen, Chiamh.«

»Mir hoffentlich auch«, warf D’arvan ein. »Das ist eine Erklärung, die ich mir nicht gern entgehen lassen möchte.«

Aus seiner Position hoch oben in der Luft blickte Anvar auf die hochgewachsene Gestalt der Frau herab. Das war richtig – das war der Ort, an dem er sein wollte! Schon hatte er wieder vergessen, wer er war, oder warum er überhaupt auf die Suche gegangen war, aber diese Menschenfrau war eindeutig sein Ziel gewesen. Da war etwas in ihr, das nach ihm rief … Er vertraute ihr, wie er keinem anderen Menschen vertraut hätte, und legte die Flügel an den Leib, um sich auf ihrem dargebotenen Arm niederzulassen.

Als Anvar in die grünen Augen der Menschenfrau bückte, wurde er von einer Woge tiefster Freude verschlungen: ein Gefühl der Zugehörigkeit, das ihn in einen Sog des Jubels zog. Obwohl er nicht verstand warum, wußte er, daß sein Platz genau hier an der Seite der Menschenfrau war.

»Ist der Kurier, den du zu der Königin der Khazalim schicken wolltest, aufgebrochen?« fragte Eliseth.

»Jawohl, Lady. Alles ist genauso geschehen, wie du es angeordnet hast«, erwiderte Sonnenfeder. »Die Nachricht wurde genauso formuliert, wie du gesagt hast. Königin Sara hat ihre Bereitschaft bekundet, sich mit dir zu verbünden und mit Truppen auszustatten, um Dhiammara zu verteidigen. Als Gegenleistung sollst du ihr in ihrem eigenen Land behilflich sein, sobald die Drachenstadt gesichert ist. Was den geplanten Angriff auf Fink und Sturmvogel und ihre Kolonie betrifft – deine Krieger haben sich oben versammelt und sind bereit. Wir warten nur noch auf deinen Befehl.«

Die Wettermagusch wandte sich an Skua. »Und du, Hoherpriester? Bist du bereit, diesen großen Angriff zu führen?«

Skua nickte, und obwohl sich an seinem gewohnten finsteren Gesichtsausdruck nichts änderte, konnte Eliseth doch das Glitzern unterdrückter Erregung in seinen Augen sehen. »Ich habe mich mein ganzes Leben auf diesen Augenblick vorbereitet, Lady. Du brauchst keine Furcht zu haben – in meinen Händen wird die Stadt während deiner Abwesenheit blühen und gedeihen.«

Eliseth lächelte ihn an. »Ich habe absolutes Vertrauen zu dir, Skua.« Wenn du nur wüßtest, wie wenig ich von dir zu befürchten habe, dachte sie. Dein schwarzes Herz mag voller Verrat sein – aber dein Geist steht unter meiner Herrschaft.

Eliseth schenkte ihren beiden geflügelten Verbündeten Wein ein und griff selbst nach dem dritten Becher auf dem Tisch. »Was hält das Himmelsvolk von unserer glorreichen Mission zur Auslöschung der Kolonie Eyrie?«

Der Hohenpriester zog eine Grimasse – seine Art, ein Lächeln anzudeuten. »Ich habe im Tempel gegen die bösen, gottlosen Abtrünnigen gepredigt«, sagte er. »Die Bevölkerung von Aerillia ist davon überzeugt, daß Sonnenfeder und seine Krieger die Eyrianer in Yinzes Namen auslöschen werden, und dieser Gedanke findet starke Befürwortung. Nachdem die Gerechten einigen Andersdenkenden ihren Irrtum mit Hilfe von Steinen und Keulen klargemacht haben, lernen selbst jene, die Freunde und Verwandte in der Kolonie haben, den Wert des Schweigens zu schätzen.«

»Das ist sehr zufriedenstellend.« Eliseth lachte. »Laßt uns unser Land unbedingt von diesen gottlosen Eyrianern befreien – ganz zu schweigen von der Tatsache, daß die Kolonie meinen Dhiammaraplänen im Weg steht.« Sie hob ihren Becher. »Auf unseren Erfolg, meine Freunde – große Taten harren unser.«

Als am nächsten Tag die Sonne unterging, machte Aurian allmählich Fortschritte in der Magie, die den Xandim das Fliegen ermöglichte. Der Tag war grau, aber trocken und windig gewesen, und sie hatte die meiste Zeit mit D’arvan, Chiamh, Schiannath und Iscalda draußen zugebracht, um den Umgang mit der Alten Magie zu üben, damit sie mehr als einen einzigen Xandim auf einmal mit ihrem Zauber berühren konnte. Es war nicht so schwierig gewesen, wie sie erwartet hatte, obwohl sie einige Konzentration brauchte, um die Energien so vieler Auren mit der Macht der Winde zu verbinden. Linnet hatte sich für einige Stunden zu ihnen gesellt und ihren frisch geheilten Flügel erprobt. Wegen der fehlenden Federn war ihr Flug noch etwas unbeholfen, aber zumindest konnte sie sich wieder in die Lüfte erheben.

Der Bussard war ebenfalls gegenwärtig und flog in flatternden Kreisen um sie herum. Manchmal entfernte er sich ein Stück, um über den Klippen zu jagen, kehrte aber stets zu Aurian zurück. Der Vogel blieb der Magusch ein Rätsel. Seit seiner Rückkehr am vorherigen Tag war sie von Stunde zu Stunde mehr denn je davon überzeugt, daß er wirklich den Geist Anvars barg – aber wenn sie ihre Gedanken ausstreckte, um mit dem Geschöpf in Verbindung zu treten, schien es nichts von seiner eigenen Identität zu wissen. Auch das verworrene Durcheinander einfacher Vogelbilder in seinem Gehirn ergab wenig Sinn für sie. Gewiß, das Tier war immer noch sehr wild – sie hatte es nicht einmal dazu bewegen können, ihr in die Enge der Nachtfahrerquartiere zu folgen. Wann immer sie jedoch hinauskam, wartete es auf sie und klammerte sich mit wilder Treue an sie. Aus irgendeinem Grund schien es auch das Windauge besonders zu mögen, aber jeder Gedanke, daß das Tier sich vielleicht einfach zur Magie hingezogen fühlen könnte, wurde von der Tatsache zunichte gemacht, daß der Bussard D’arvan mit absoluter Gleichgültigkeit behandelte.

Auch Shia war sich unsicher gewesen. »Ich hoffe um unser aller willen, daß du recht hast, Aurian«, sagte sie zweifelnd, »aber bist du sicher, daß deine Hoffnungen dich nicht in die Irre führen? Für mich sieht er einfach aus wie ein Vogel.«

Der einzige, mit dem Aurian nicht über den Bussard gesprochen hatte, war Forral. Sie hatte nicht nur darauf verzichtet, ihm von ihrem Verdacht zu erzählen, sondern hatte auch D’arvan und Chiamh zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. D’arvan hatte sie nach dem Grund gefragt. »Sieh mal«, erklärte sie ihm, »wenn ich in dieser Sache recht habe, wird es Forral nur aufregen und verwirren – und zwar mit gutem Grund –, wenn er erfährt, daß Anvar immer noch auf irgendeine Art und Weise gegenwärtig ist, jeden unserer Schritte beobachtet und darauf wartet, sich seinen Körper zurückzuholen. Wenn ich mich irre, dann würde Forral sich ganz ohne Grund aufregen.« Damals hatte ihre Erklärung überaus plausibel geklungen.

Alles in allem war es gut gewesen, einmal aus den Nachtfahrerhöhlen herauszukommen und der beängstigenden Mischung von Persönlichkeiten zu entrinnen, die während dieser letzten Tage zusammengeführt worden waren. Die Frage, was man gegen den Hunger des Todesgeistes unternehmen konnte, wurde immer drängender, und der Tod eines Menschen schien unvermeidlich. Die Magusch mußte sich eingestehen, daß Forral vielleicht doch recht gehabt hatte – daß es vielleicht ein schwerer Fehler gewesen war, den Geist mitzunehmen. Und was Wolf betraf – der zeigte sich seiner Mutter zwar nicht mehr direkt feindselig, aber doch sehr gleichgültig, und er verbrachte viel Zeit mit Zannas Söhnen. Iscalda meinte, ihm fehle Currain, der wie ein jüngerer Bruder für ihn gewesen war. Sehr zum Kummer des Schwertkämpfers widersetzte sich Wolf den Beteuerungen, daß Forral sein Vater sei. »Du kannst nicht mein Vater sein – der ist tot«, beharrte Wolf.

Aber es gab auch bessere Neuigkeiten. Vannor schien sich dank der entschlossenen Pflege Dulsinas und Zannas langsam zu erholen; die beiden Frauen versuchten ihm unabläßlich klarzumachen, daß es sinnlos war, sich wegen vergangener Fehler zu grämen, und daß er besser mit positiven Taten Buße tun sollte. An diesem Morgen war Forral mit Parric hinausgekommen, um herauszufinden, was die Magusch im Schilde führte. Der Schwertkämpfer war sehr bleich geworden, als er Aurian auf Chiamhs Rücken Seite an Seite mit Schiannath und Iscalda über den Himmel jagen sah. Auf Aurians Drängen hin hatte Forral sich jedoch schließlich überreden lassen, für einen Probeflug auf Schiannaths Rücken zu steigen, und bei seiner Rückkehr hatte er die Magusch freudestrahlend und außer sich vor Begeisterung in die Arme geschlossen. »Bei Chathak, Mädchen – was für eine unglaubliche Erfahrung! Ich hätte nie gedacht, daß ich den Tag erleben würde …«

»Hast du auch nicht«, warf Parric trocken ein und schlug dem Schwertkämpfer hastig auf den Rücken, um seinen Worten den Stachel zu nehmen. Der Kavalleriehauptmann war in bester Laune. Im Gegensatz zu Forral hatte man ihn nicht lange überreden müssen, auf Iscaldas Rücken zu fliegen, und nun war er fest davon überzeugt, daß dieses Erlebnis die Krönung seines Lebens gewesen war.

An diesem Abend nahmen die Magusch und ihre Gefährten mit Zanna und ihrer Familie sowie mit Emmie und Yanis ihr Essen in Emmies Quartier ein, um die Rückkehr des Nachtfahreranführers zu feiern, dessen Schiff am Nachmittag angelegt hatte (und der, gelinde gesagt, äußerst überrascht war, daß Pferde um seinen Mast herumflogen, als er sich dem Land näherte).

Grince hatte nur Augen für Aurian, die ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches saß. Emmie hatte ihre Lagerräume durchstöbert, um alle in feine Gewänder zu kleiden, und die Magusch sah in einem weinfarbenen Samtgewand wie eine lebendige Flamme aus. Ihr Haar, das wieder nachgewachsen war, fiel ihr wie ein üppiger, seidiger Wasserfall über die Schultern. Der Dieb konnte kaum den Blick von ihr abwenden, um zwischendurch einen Bissen zu essen. Obwohl er den größten Teil seiner Zeit im Nachtfahrerasyl mit Emmie zubrachte oder sich von seinem neuen Freund Jeskin, dem Schiffsbauer, etwas über Schiffe erzählen ließ, war Aurian immer in seinen Gedanken gewesen. Sie war tapfer, tüchtig und leidenschaftlich und hatte ihm wie niemand sonst das Gefühl gegeben, wichtig zu sein. Außerdem hatte sie ein wenig Magie in ein Leben gebracht, dem es bis dahin eindeutig an Zauber gemangelt hatte. Niemals würde er ihre erste Begegnung unter der Akademie von Nexis vergessen, genausowenig wie die rauhe, aber vorbehaltlose Freundlichkeit, die sie ihm damals und auch später bei ihrer Flucht über die Moore erwiesen hatte.

Obwohl es ihm damals nicht bewußt gewesen war, hatte Grince der Magusch an jenem ersten Tag schon sein Herz geschenkt, aber erst als er sie kalt, bleich und reglos neben dem Stein liegen sah und glaubte, sie sei tot, war ihm klargeworden, wieviel sie ihm bedeutete. In diesem Augenblick hatte er das Gefühl gehabt, als würde ihm etwas Seltenes und Kostbares genommen, als würde man ihm einen lebenswichtigen Teil seiner Selbst entreißen. In einem Anfall von Leidenschaft, der ihn, als er später daran zurückdachte, zutiefst schockierte, war er zu ihr gelaufen, hatte sie an sich gerissen und angefleht, ihn nicht zu verlassen – und wie durch ein Wunder hatte sie es auch nicht getan. Im Laufe der letzten ein oder zwei Tage hatte er sie jedoch heimlich beobachtet, wenn sie mit den Xandim das Fliegen übte oder sich mit Emmie und Zanna über Schiffe und Vorräte unterhielt. Er wußte, daß sie ihren Aufbruch vorbereitete, und der Gedanke erfüllte ihn mit Angst und Schrecken. Er konnte nicht zulassen, daß sie ohne ihn fortging.

Es war eine schwierige Entscheidung gewesen. Nur zu gut erinnerte sich der Dieb an die Qualen, die ihm das Reiten bereitet hatte, und an seine Furcht vor dem weiten, wilden Land, wo kein Haus und kein gepflasterter Weg zu sehen war. Er rief sich die endlose Mühsal ins Gedächtnis, die Kälte, die primitiven, spärlichen Mahlzeiten, die absolute Finsternis der Nacht, die furchtbare Anspannung, im Dunkeln wach zu liegen und darauf zu warten, daß sich irgendein böses, unheimliches Geschöpf anschlich. Und am allerschlimmsten war die Ungewißheit, dieses ständige Grauen, allein in der Wildnis zurückzubleiben – denn wenn seinen Gefährten irgend etwas zustoßen sollte, konnte er sein eigenes Leben in Stunden zählen.

Grince hatte im Lauf der vergangenen zwei Tage so lange über all diese Widrigkeiten nachgedacht, bis ihm schwindelig wurde – und es kümmerte ihn nicht im geringsten. Er hatte Aurian um ein Haar an den stehenden Stein verloren, und die Magusch sollte nicht noch einmal in die Situation kommen, ihn zu verlassen. Diesmal konnte er ihr folgen, wo auch immer sie hinging, und genau das hatte er vor. Das Problem war jedoch, daß er sie davon noch überzeugen mußte.

Als die Mahlzeit vorüber war, lauerte Grince der Magusch auf. Eigentlich hatte sie Forral in ihr Quartier folgen wollen, aber Grince nahm sie in einem günstigen Moment beiseite. »Lady, dürfte ich dich einen Augenblick sprechen?« fragte er sie.

»Aber natürlich.« Obwohl Aurian müde aussah, hatte sie wie immer ein Lächeln für ihn. Statt wie geplant in ihr Schlafgemach zu gehen, führte sie ihn in die große Höhle, wo die Schiffe vor Anker lagen. Sie gingen über den Strand und zertraten winzige Teilchen der weißen Muschelpanzer. Die Magusch sah Grince mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Nun?« sagte sie. »Was kann ich für dich tun?«

Sämtliche Argumente, die Grince sich so sorgfältig zurechtgelegt hatte, waren plötzlich wie weggeblasen. »Ich – ich gehe mit dir«, platzte er hervor. »Wenn du aufbrichst. Ich komme mit.« Er sah sie trotzig an.

Die Magusch zog die Augenbrauen noch etwas höher. »Das glaube ich nicht«, sagte sie freundlich.

Dem Dieb wurde flau im Magen. »Lady, du mußt mich mitnehmen. Dieser Chiamh hat erst gestern gesagt, daß du alle Hilfe brauchen wirst, die du kriegen kannst und …«

»Sieh mal, Grince«, sagte Aurian entschlossen. »Ich möchte dich nicht kränken, aber ich glaube, als Chiamh von Hilfe sprach, meinte er den Beistand von Leuten, die ein Pferd reiten und ein Schwert benutzen können oder über Magie verfügen.«

»Du sagst, ich tauge nichts«, murmelte Grince verdrossen und trat in den Sand vor sich.

»Ich sage nichts dergleichen. Es ist nur so, daß du für diese Art von Reise nicht geschaffen bist. Denk doch nur, dieser kurze Ritt von Nexis hierher hat dich fast umgebracht – und erzähl mir nicht, du hättest es genossen, denn das würde ich dir nicht abkaufen. Die Sache war für dich von Anfang an eine Tortur.« Sie seufzte. »Es geht nicht darum, ob du etwas taugst oder nicht – es geht um ganz bestimmte Fähigkeiten und Kenntnisse. Wenn unser Ziel eine Stadt wie Nexis wäre, hättest du dich auf vertrautem Boden befunden. Wenn ich einen Dieb gebraucht hätte …«

»Wer sagt, daß du keinen brauchen wirst?« warf Grince hastig ein.

»Dann werde ich eben zusehen müssen, wie ich zurechtkomme.« Aurians Tonfall duldete keine weiteren Einwände, aber sie milderte ihre Worte mit einem Lächeln ab. »Grince, wenn ich dich mitnähme, bin ich fest davon überzeugt, daß ich deinen Tod verschulden würde. Und das kann ich nicht verantworten. Ich habe zu viele Freunde sterben sehen – ich mag dich viel zu sehr, um zuzulassen, daß dir etwas zustößt.« Dann war sie auch schon mit einem Wirbel ihrer weinroten Röcke verschwunden.

Grince sah ihr nach und wußte nicht, ob er unglücklich sein oder sich über ihre Worte freuen sollte. Eines jedenfalls stand fest – sie hatte genau das Gegenteil von dem bewirkt, was sie vorgehabt hatte. Wenn die Magusch ihn so sehr mochte, konnte er auf keinen Fall zulassen, daß sie ihn zurückließ. »Es ist noch nicht vorbei«, murmelte er. »Ich komme mit dir – wart’s nur ab.«

Als die Magusch in ihr Quartier zurückkehrte, hatte Forral das Feuer im Kamin geschürt und zwei Gläser Wein eingeschenkt. »Worum ging es?« fragte er, als er ihren düsteren Bück sah.

Aurian schüttelte den Kopf und seufzte. »Der arme Grince scheint den Verstand verloren zu haben. Er möchte mitkommen, wenn ich nach Süden gehe. Kannst du dir das vorstellen? Der Weg von Nexis hierher hat den armen, kleinen Tropf fast umgebracht, er hat nicht die leiseste Ahnung, wie man in der Wildnis überlebt, ja er kann nicht einmal ein Schwert vernünftig benutzen, und trotzdem erzählt er mir frohen Mutes, er wolle mich auf einer Reise von mehreren hundert Meilen begleiten.«

Forral zuckte die Achseln. »Du hast es wieder mal geschafft, wie? Sieht so aus, als hättest du noch eine Eroberung gemacht. Bei allen Göttern, Aurian – ich weiß nicht, wie du es fertigbringst, daß du den Leuten solche Loyalität abnötigst …« Er hielt inne und lächelte sie an. »Nein – in Wahrheit weiß ich es wohl doch. Du nimmst die Menschen wichtig. Ein paar Minuten, nachdem du Grince kennengelernt hattest, hast du ihn geheilt und ihm geholfen; du hast ihn aus der Stadt geschmuggelt und ihm damit wahrscheinlich das Leben gerettet, und dann warst du die einzige, die ihm beigestanden hat, als wir ihn erwischt haben, wie er Mandzurano bestehlen wollte. Mir ist aufgefallen, daß er dich beobachtet – ich schätze, er hat eine tiefe Zuneigung zu dir gefaßt, meine Liebste.«

»Zu mir? Was für ein Unsinn!« Aurian schnaubte.

»Ich meine es ernst«, entgegnete Forral. »Die meiste Zeit seines Lebens hatte er niemanden. Denk nur, was für eine einsame Existenz das gewesen sein muß, ohne Familie oder Freunde. Er hatte nie jemanden, den er Heben konnte, und niemand hat sich um ihn gekümmert. Dann warst du plötzlich da. Noch nie war jemand so freundlich zu ihm, und zum ersten Mal behandelt ihn jemand wie ein menschliches Wesen … Was denkst du dir denn? Es ist kein Wunder, daß er glaubt, in dich verliebt zu sein.«

Die Magusch funkelte ihn an. »Verliebt, daß ich nicht lache! Was auch immer Grince zu fühlen glaubt, es ist nicht mehr als Heldenverehrung, schlicht und ergreifend – und ich sollte die Symptome kennen. Ich erinnere mich da an ein kleines Mädchen, das vor langer, langer Zeit dasselbe für dich empfunden hat.«

»Ja, und sieh nur, wo das hingeführt hat«, knurrte der Schwertkämpfer.

Aurian seufzte ärgerlich. »Forral, dieser Unsinn ist jetzt weit genug gegangen. Du klingst eher wie ein Küchenmädchen als wie ein Schwertkämpfer!«

Forral zuckte die Achseln. »Nun, vielleicht hast du recht. Vielleicht sehe ich bei Grince die Anzeichen deshalb so deutlich, weil ich auch in dich verliebt bin.«

»Du dummer Kerl.« Aurian schüttelte den Kopf. »Also ehrlich – du mußt mit dem Alter weich geworden sein. Wenn irgend jemand diese Worte aus dem Mund des weltgrößten Schwertkämpfers hören könnte, wäre dein Ruf für alle Zeit ruiniert.« Sie lächelte ihn liebevoll an und streckte die Hand aus. »Hör auf, Unfug zu reden und komm ins Bett.«

Chiamh zog seine Kleider aus und warf sie ungefähr in die Richtung, in der der Stuhl stand, dann schlüpfte er hastig zwischen die Decken seines einsamen Bettes. Nachdem er einige Augenblicke gezittert hatte, war er endlich warm genug, um sich ein wenig zu entspannen. Dann Heß er sich wie immer tief in sein Kissen sinken und überließ sich der Andersicht. Nachdem er einen zarten Faden Zugluft gefunden hatte, begann er ihm zu folgen, sandte sein Bewußtsein durch die winzigen Risse und Spalten im Gestein und fand den mittlerweile ver- trauten Weg zu Aurians Quartier. Dies war das allnächtliche Ritual des Windauges. Er blieb nicht lange – es wäre ihm falsch und unehrlich erschienen, der Magusch nachzuspionieren, während sie schlief. Nein, er machte sich einfach Sorgen um sie und wollte sie beschützen, jetzt, da Anvar von ihrer Seite gerissen worden war. Immerhin war sie seine liebste Freundin – was könnte da natürlicher sein? Chiamh würde einfach einen Augenblick verweilen und eine Ranke seines Bewußtseins aussenden, um ganz sanft ihr schlafendes Gesicht zu berühren. Erst dann konnte er in sein einsames Bett zurückkehren und den verdienten Schlaf finden.

Heute nacht stellte er fest, daß die Magusch neben Forral schlief, so wie sie es in den letzten Nächten auch getan hatte. Obwohl er wußte, daß es Aurian für den Augenblick gelungen war, ihre Gefühle zwischen der alten Liebe und der neuen miteinander in Einklang zu bringen, hatte er selbst doch gewisse Zweifel, was diesen Eindringling betraf, der Anvars Körper gestohlen hatte. Als er die beiden zusammen sah, spürte Chiamh plötzlich, daß er vor Eifersucht brannte. Entsetzt über die Intensität seiner Gefühle, floh er mit einem lautlosen, unwilligen Aufschrei in seinen Körper zurück.

Die Gedanken des Windauges waren in solchem Aufruhr, daß er irgendwo eine falsche Biegung nahm, und sein Bewußtsein tauchte nicht wie erwartet in seiner Schlafkammer auf, sondern in der Haupthöhle. Und was er dort sah, verscheuchte augenblicklich alle Gedanken an die Magusch! Die Nachtwächter lagen an verschiedenen Plätzen – tot. Fremde Soldaten drangen in die Höhle ein. Sie alle trugen identische, schwarze Uniformen und ihre Augen blitzten wie kalter Stahl. Chiamh wollte gerade Alarm schlagen, als er begriff, daß er sich außerhalb seines Körpers befand und keine Stimme besaß. Auf der Stelle machte er kehrt und floh über denselben Weg zurück, den er gekommen war.

Ein furchtbarer Aufruhr im Korridor riß Zanna aus einem tiefen Schlaf. Sie hörte Rufe und Schreie, und eine der Schiffsglocken leutete Sturm. Tarnal sprang aus dem Bett. »Hol die Jungen«, rief er. »Man hat uns überfallen.«

Zanna hatte sich noch nie in ihrem Leben so schnell angekleidet. Sie warf ihre grobe Matrosenkleidung über, sprang in ihre Stiefel und rannte ins Kinderzimmer. Die Jungen waren bereits wach und hatten sich zusammen mit Wolf in ein einziges Bett geflüchtet. Nun spähten sie mit vor Schmerz weit aufgerissenen Augen hinter einer Barrikade aus Bettdecken hervor. »Mama, was ist passiert?« fragte Valand. Martek, der nun eine Quelle des Trostes im Raum wußte, begann zu weinen.

Zanna hielt es nicht für richtig, ihren Sprößlingen die Realitäten des Lebens vorzuenthalten – sie waren schließlich Nachtfahrer. »Böse Soldaten greifen uns an«, sagte sie rauh. »Steht schnell auf und zieht euch an – wir müssen sofort von hier weg.«

Valand gehorchte ihr ohne ein weiteres Wort, und Zanna eilte ihrem jüngeren Sohn zur Hilfe. Martek schniefte noch immer, als sie ihn in seine Kleider zwang. Zanna kniete neben ihm nieder und legte beide Hände um sein feuchtes Gesicht. »Martek, hör auf damit. Du willst doch Wolf nicht erschrecken, oder? Wir müssen jetzt zu den Schiffen laufen, in Ordnung? Dort werden wir in Sicherheit sein.«

Das Kind biß sich auf die Unterlippe und nickte.

»Braver Junge«, sagte Zanna zu ihm. Dann nahm sie ihn auf die Arme und bedeutete Valand, vorauszugehen.

Tarnal stand, sein Schwert in der Hand, bereits an der Tür. »Ich kann sie in der Ferne kämpfen hören, aber vor unserer Tür scheint alles in Ordnung zu sein. Wir sollten besser gehen, solange wir noch können.«

Zanna nickte. »Valand«, sagte sie, »du nimmst den Zipfel meines Umhangs. Halt dich gut fest – und was auch passiert, laß nicht los.«

Gemeinsam rannten sie durch den Korridor, und ihre Schritte hallten über den Steinboden. Als sie die Haupthöhle erreichten, ließ der Anblick des grauenhaften Gemetzels Zanna wie angewurzelt stehenbleiben. Kleine Gruppen von Schmugglern, von denen viele noch ihr Nachtzeug trugen, kämpften verzweifelt gegen gut ausgerüstete Berufssoldaten. Mit einem Beben des Entsetzens erkannte Zanna die schwarzen Uniformen von Pendrals Truppe. Die Soldaten schienen überall zu sein. Der Strand war mit den Leichen von Männern, Frauen und sogar kleinen Kindern übersät; der weiße Sand war mit ihrem Blut gefärbt. Noch während Zanna wie gebannt vor Entsetzen dastand, drängten sich weitere Soldaten durch den schmalen Tunnel des landeinwärts gelegenen Eingangs.

»Kommt weiter!« Tarnal riß Zanna aus ihrer Benommenheit. »Wir müssen auf die Boote!« Dann schwang er wie ein Besessener sein Schwert und stürzte sich in die brodelnde Masse der Kämpfenden.

Man hatte den drei Xandim Räume im hinteren Teil des Nachtfahrerverstecks zugewiesen. Ihre Zimmer waren die einzigen in einem kurzen Korridor, der von dem Haupttunnel abzweigte und in einer Sackgasse endete, und als die Kampfgeräusche an ihr Ohr drangen, war es bereits zu spät.

Iscalda hatte das blaue Gewand, das Zanna ihr geschenkt hatte, aufgehängt und bürstete gerade ihr langes, flachsblondes Haar, als sie den Tumult draußen zum ersten Mal wahrnahm. Fast gleichzeitig hämmerte jemand an ihre Tür. Als sie öffnete, stand das Windauge zerzaust und nur halb bekleidet vor ihr. »Bewaffne dich«, stieß er hervor. »Wir werden angegriffen!«

Bevor sie Zeit zu einer Erwiderung fand, war er auch schon fort und trommelte an Schiannaths Tür. Iscalda streifte sich Hemd und Hosen über und ergriff das neue Schwert, das die Nachtfahrer ihr freundlicherweise überlassen hatten. Als sie das Zimmer verließ, erkannte sie ihren Bruder, der, ebenfalls bewaffnet und angekleidet, aus seinem Zimmer trat – und sie sah auch einen Trupp Soldaten um die Ecke der Flurkreuzung biegen. Eisige Furcht durchschoß Iscalda, als ihr klar wurde, daß die Xandim hoffnungslos in der Minderheit waren und ihnen ihr einziger Fluchtweg versperrt war.

Aber dann zogen die Soldaten sich plötzlich fluchend und schreiend zurück. Chiamh folgte ihnen, und seine silbrigen Augen hatten sich vor Anstrengung zu Schützen verengt; er schlug sie mit der Vision eines grauenhaften Ungeheuers in die Flucht, das Iscaldas schlimmste Alpträume in den Schatten stellte. »Lauft«, schrie er. »Ich halte sie auf.«

Sobald der Weg frei war, flohen Schiannath und Iscalda an dem Windauge vorbei Richtung Haupthöhle. Iscalda warf hastig einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, daß Chiamh ihnen auch folgte; er mußte rückwärts laufen, um dem Feind ins Gesicht zu sehen und seine furchterregende Vision aufrechtzuerhalten. Als sie die belebteren Bereiche der Höhlen erreichten, fanden sie die ersten Leichen in den Korridoren – es waren auch einige Soldaten dabei, aber die meisten der Toten waren Mitglieder der Nachtfahrergemeinschaft. An der Weggabelung vor ihnen tauchte ein weiterer Soldatentrupp auf, und Iscalda und Schiannath schritten Seite an Seite zur Tat; mit blitzenden Schwertern hieben sie für sich und das Windauge einen Weg durch die feindlichen Reihen.

Alles ging gut, bis die Xandim den offenen Teil der großen Höhle erreichten, wo sich eine Gruppe zumeist älterer, erschrockener Schmuggler zusammengefunden hatte. Zu ihrem Entsetzen wimmelte es am Strand nur so von kämpfenden Gestalten, und das Kampfgeschehen versperrte ihnen den Ausgang. Iscalda und Schiannath warteten auf eine Lücke in dem Tumult und brachten die Nachtfahrer, die sich ihnen angeschlossen hatten, sicher durch den Eingang, aber Chiamh, der immer noch mit seinem Trugbild beschäftigt war, zögerte einen Augenblick zu lange. Als er sich umdrehte, wogte der Kampf gerade wieder in seine Richtung zurück, und ein Soldat prallte rückwärts gegen ihn. Die Konzentration des Windauges geriet ins Wanken – nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber das genügte. Die Soldaten, die den Xandim mit respektvollem Abstand durch die Tunnel gefolgt waren, sahen das Trugbild verblassen.

»Es ist nicht wirklich!«

Iscalda drehte sich um, als sie den Aufschrei hörte – aber sie kam zu spät, um ihn zu retten. Entsetzt sah sie zu, wie die Soldaten geschlossen vorstürmten; sie sah Chiamh stürzen, sah, wie er von einem halben Dutzend Schwerter durchbohrt wurde. Obwohl sie in ihrem Herzen wußte, daß es hoffnungslos war, wäre sie zu ihm zurückgelaufen, hätte Schiannath nicht ihren Arm gepackt und sie weitergezerrt. »Komm, Iscalda! Du kannst nichts mehr für ihn tun!« Dann zwang die Kriegerin sich mit aller Macht, sich auf ihr eigenes Überleben zu konzentrieren, denn sie mußten immer noch einen harten Kampf bestehen, bevor sie die Boote erreichen konnten. Das letzte, was sie von dem Windauge sah, war eine formlose, in sich zusammengesunkene Gestalt, wie ein blutdurchtränkter Haufen Lumpen; ein achtlos liegengelassenes Stück Abfall, das jemand mit einem Tritt beiseite gestoßen hatte, damit es nicht im Weg lag.

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