2 Ein seltsames Quartett

Blind vor Entsetzen floh Iscalda Hals über Köpf durch den Wald, krachte durch das Gebüsch und zwängte sich zwischen Bäumen hindurch, ohne auf das gefährliche Gewirr der Wurzeln unter ihren Füßen zu achten, Auch die dornigen Zweige, die schmerzhaft an ihrer Mähne und ihrem Schwanz zerrten und ihr weißes Fell aufrissen, nahm sie kaum wahr, ebensowenig wie die elastischen Zweige, die sich hinter ihr zurückbogen und ihr gefährlich gegen Stirn und Augen peitschten. Ihr Geist war leer, bis auf einen Gedanken, der ihr wieder und wieder durch den Kopf hallte: ›Flucht!‹ Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf das, was hinter ihr lag, und versuchte mit allen Sinnen, auf wirkliche Geräusche der Verfolgung zu lauschen.

Der Phaeriefürst durfte sie nicht wieder einfangen – Lieber würde sie sterben, als noch einmal seine Sklavin sein! Das Entsetzen der letzten Stunden wollte sie kein zweitesmal erleben.

Iscalda war eine Kriegerin, der Blutvergießen nicht fremd war, und Hellorins Opfer waren nicht ihre Freunde gewesen, aber auf das Gemetzel, nachdem die Phaerie sich vom Himmel auf ihre hilflose Beute herabgestürzt hatten, darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Nicht ein einziger der menschlichen Söldner hatte überlebt. Einen nach dem anderen hatten die Phaerie sie mit gnadenloser Gründlichkeit gejagt und in Stücke gehackt; besonders grauenhaft waren Iscalda die wilden Spiele erschienen, die sie dabei gespielt hatten: Die ›Mitspieler‹ erhielten Punkte für die Eroberung kleiner Besitztümer des Feindes, wie zum Beispiel einer Halskette, einer Waffe, eines Ohrrings oder einer Gürtelschnalle von der Leiche des unglücklichen Opfers. Manchmal griff einer von ihnen auch einen abgetrennten Kopf bei den Haaren und hielt ihn hoch. Wenn die Phaerie sich dann wieder in die Lüfte schwangen, wurde der Kopf wie in einem makabren Kinderspiel von einem Reiter zum anderen geworfen.

Die kaltherzige Grausamkeit ihrer neuen Herren erfüllte Iscalda mit Angst. Es war vollkommen klar, daß sie vor keinem anderen Lebewesen – abgesehen von ihrer eigenen Rasse – irgendwelchen Respekt hatten. Und diese Haltung konnte sich durchaus auch auf ihre Pferde erstrecken. Die Phaerie hatten die menschliche Komponente der Xandimrasse ohne einen einzigen Gedanken ausgelöscht – was würden sie ihr noch alles antun? Immer weiter rannte Iscalda, ohne zu sehen, ohne zu denken, nur getrieben von Entsetzen; schauerliche Bilder von ihrer eigenen Rasse, die in geistlose Lasttiere verwandelt wurde, betrübten ihren Sinn und wurden dann wieder von der Erinnerung an die gnadenlose Wildheit der Phaeriejagd verdrängt. Diese eine Chance hatten ihr die Götter geschickt, und eine zweite Chance würde es wahrscheinlich nicht mehr für sie geben. Iscalda wußte nur, daß sie schnell und weit fliehen mußte. Sie mußte so gründlich verschwinden und sich so gut in der Tiefe des Waldes verbergen, daß Hellorin sie niemals fand.

Das magische Geschirr aus Licht, mit dem der Phaeriefürst sie beherrscht hatte, war Iscalda, als sie ihn abgeworfen hatte, vom Kopf gerutscht, so daß sie jetzt ungehindert laufen konnte. Und genau das tat sie auch – bis der Wald selbst ihrer Flucht ein Ende setzte. Urplötzlich erschien vor ihr ein schmaler Strom, der bis zum allerletzten Augenblick von den tiefhängenden Zweigen verborgen Wurde. Iscalda, die mit etwas Derartigem nicht gerechnet hatte, setzte zu einem unbeholfenen Sprung an.

Irgend etwas traf sie mit betäubender Wucht an der Stirn. Sie verspürte einen scharfen, krampfartigen Schmerz, und vor ihren Augen explodierte ein grelles Licht, als heißes Blut über ihr Gesicht rann. Da ihr die salzige Flüssigkeit, die ihr in die Augen strömte, die Sicht raubte, setzte sie auf der anderen Seite des Stroms ungewöhnlich hart auf. Ihre Hufe verfingen sich in einem verborgenen Hohlraum zwischen zwei Wurzeln, und die Wucht ihres Sprungs schleuderte sie jäh nach vorn. Ihre Knie sackten unter ihr zusammen, und während ihre Hinterläufe im Wasser zu versinken drohten, tastete sie mit den Vorderläufen in dem weichen Schlamm des Flußufers zitternd nach Grund.

Erschöpft blieb die weiße Stute auf dem Boden liegen, bis ihre Gedanken nach und nach die Panik bezwangen, die ihren Verstand getrübt hatte. Der Schock ihres Sturzes hatte sie wieder zu sich gebracht. Obwohl Iscalda in ihrer Pferdegestalt gefangen war, war ihr doch ein kleiner Rest menschlichen Bewußtseins erhalten geblieben: Genug, um zu erkennen, in welcher Gefahr sie sich befand. Hatte sie sich das Gesicht verletzt? Was, wenn sie sich ein Bein gebrochen hatte? Iscalda versuchte, sich das Blut aus den Augen zu zwinkern, bis sie, wenn auch noch ein wenig verschwommen, wieder sehen konnte. Mit beträchtlichen Schwierigkeiten gelang es ihr, sich beim vierten Versuch endlich wieder zu erheben, bis sie keuchend, zitternd und mit gesenktem Kopf dastand. In der Fessel ihres rechten Vorderbeins, wo sie so unglücklich aufgesetzt hatte, verspürte sie einen bohrenden Schmerz. War das Gelenk gebrochen? Iscalda hatte keine Ahnung, aber sie konnte mit dem Fuß nicht auftreten.

Obwohl ihr übel vor Schmerz war, drehte die Stute sich unbeholfen auf drei Beinen um und humpelte in den Fluß. Dort wartete sie ungeduldig darauf, daß das eisige Wasser endlich die pochende Qual in ihrem lahmen Vorderbein ein wenig betäubte. Was sollte sie nun tun? Hellorin suchte gewiß immer noch nach ihr, dessen war sie gewiß. In ihrer Menschengestalt hatte sie Männer wie ihn gekannt. Seine verletzte Eitelkeit würde es ihm niemals gestatten, sie ziehen zu lassen – genausowenig wie ihr eigener Stolz es zuließ, daß er sie jemals wieder einfing. Was auch geschah, Iscalda würde nicht aufgeben. Wenn sie nicht mehr laufen konnte, konnte sie sich zumindest verstecken. Wenn sie nur irgendwo Schutz finden würde, bevor die Phaerie sie entdeckten …

Nicht ohne Bedauern trat Iscalda mit steifen Gliedern aus dem lindernden Wasser heraus und trabte der schattigen Welt unter den Bäumen entgegen, um nach einem sicheren Ruheplatz zu suchen. Sie schien eine ganze Ewigkeit zu brauchen, um sich stolpernd und auf drei Beinen durch die Büsche zu zwängen, wobei sie sich nach Kräften bemühte, ihr verletztes Glied zu schützen. Sie kam nur qualvoll langsam voran; furchtbar der Gedanke an Entdeckung, furchtbar ihre, Erschöpfung und der qualvolle Schmerz in ihrem Bein; furchtbar die wachsende Angst, die ihr den Verstand zu rauben drohte; furchtbar der sinkende Mond, der nur allzuschnell dem Horizont entgegenstürzte. Sie mußte einen sicheren Platz finden, bevor sie die absolute Dunkelheit, die dem Untergang des Mondes folgen würde, einholte – sonst hatte sie kaum eine Chance, überhaupt irgendwo Zuflucht zu finden.

Als sie schließlich an eine günstige Stelle im Wald kam, war sie so erschöpft, daß sie sie beinahe übersehen hätte. Es gab kein Wasser hier, aber bis auf die Bresche, durch die sie getreten war, wurde die kleine Lichtung zu drei Seiten von Dorngestrüpp geschützt und von den tiefhängenden Ästen der Bäume überschattet. Zum erstenmal in dieser Nacht wußte Iscalda, daß sie nicht länger wegzulaufen brauchte, sondern sich endlich etwas ausruhen durfte. Dankbar Heß die Stute sich auf ihre schmerzenden Beine sinken und wurde sogleich von den tiefen Wassern des Erschöpfungsschlafes übermannt.

Es herrschte tiefe Dunkelheit, als Iscalda aufwachte. Sie witterte einen Wolf. All ihre Instinkte schrien ihr eine Warnung zu, und sie erhob sich mühsam auf die Füße – nur um schwer auf eine Seite zu fallen, als ihr verletztes Bein, das sie im Schlaf ganz vergessen hatte, unter ihr wegknickte. Verzweifelt mühte sie sich abermals hoch und warf den Schmerz in ihrem Vorderbein gegen die bei weitem wichtigere Frage des Überlebens in die Waagschale. Da! Eine Bewegung im Gebüsch; sie ertrank beinahe in dem Geruch des Wolfes. Wolf, Wolf, Wolf …

Iscalda bäumte sich auf, schlug mit ihrem gesunden Vorderbein aus, um zu verstümmeln, zu töten – und wandte sich mit einem gewaltigen, qualvollen Ruck zur Seite, der sie beinahe wieder zu Boden geworfen hätte. Aber mit einer ungeheuren Willensanstrengung gelang es ihr, sich im allerletzten Augenblick noch zu fangen. Ihr Herz hämmerte wie die Hufe eines durchgehenden Pferdes. Sie senkte den Kopf, blickte auf ihren Gegner hinunter und schnaubte, angewidert von ihrer eigenen Dummheit. Ein Wolf, wahrhaftig! Hätte sie ihre Menschengestalt getragen, hätte sie über sich selbst lachen können.

Der tödliche Räuber, der sie vor Angst fast wahnsinnig gemacht hatte, war ein so winziges Wolfsjunges, daß sie es beinahe mit einem einzigen Schnauben hätte weghusten können. Das jämmerliche kleine Geschöpf zitterte vor Kälte, und als es sie bemerkte, begann es vor Hunger zu wimmern. Iscaldas Ohren zuckten neugierig nach vorn. Sie fragte sich, wo seine Eltern wohl sein mochten – eine Frage, die auch ihr eigenes Überleben betraf. In der Nähe waren sie jedenfalls nicht, soviel stand fest – nicht, wenn das arme Junge so weinte. Ob sie in dem Feuer umgekommen waren? Oder hatten sie überlebt und suchten jetzt verzweifelt nach ihrem verlorenen Sprößling? Ihr erster Impuls, nämlich das Geschöpf zu töten, war der vernünftigste gewesen – was also hatte sie im letzten Augenblick davor zurückschrecken lassen? Trotz ihrer für ein Pferd natürlichen Abneigung gegen den Fleischfresser, empfand Iscalda Mitleid für das verirrte Baby. Es erinnerte sie an Aurians Sohn, an den kleinen Wolf …

Iscalda versteifte sich und schaute genau hin. Aber nein – das war doch nicht möglich! Sie hatten Wolf in der Sicherheit von Wyvernesse zurückgelassen, zusammen mit seinen wölfischen Zieheltern und den Nachtfahrern, die ihn beschützen würden. Was war dem Wolfspaar zugestoßen, das Aurian für ihren Sohn ausgewählt hatte? Warum sollten sie ihn hierher bringen, hierher, wo tausend Gefahren auf ihn lauerten? Warum hatten sie ihn allein und hilflos zurückgelassen? Nein – es mußte ein anderes Wolfsjunges sein. Aber noch während Iscalda diesen Gedanken weit von sich zu weisen versuchte, wußte sie, daß sie hier wirklich Wolf vor sich hatte – sie erinnerte sich an den weißen Tupfen unter seinem Bann und an die Art, wie sich eines der spitzen, kleinen Ohren aufzustellen pflegte, während das andere schlaff herunterhing. Aber von alledem abgesehen, erkannte Iscalda auch in den Tiefen ihres Wesens seine Persönlichkeit, und zwar auf eine Art, die man einem Geschöpf, das nicht daran gewohnt war, seine Gestalt zu wechseln, Unmöglich hätte erklären können. Irgendwo hinter dem äußeren Erscheinungsbild des Tieres lag ein menschliches Wesen verborgen, und Iscalda erkannte dies, wie sie einen Hilfeschrei von ihresgleichen erkannt hätte.

Die Stute hob den Kopf und schob das Junge sanft näher an ihren warmen Leib heran. Sie konnte nicht umhin, seinen Mut zu bewundern. Trotz seiner Schwäche fauchte Wolf sie an und schnappte mit seinen winzigen Babyzähnen nach ihrem Gesicht, ohne sich auch nur im geringsten um den Größenunterschied zwischen ihnen zu scheren. Aber er fror, hatte Hunger und war allein, und zu guter Letzt schien er sich doch dazu durchzuringen, ihr zu trauen. Wenn sie ihm doch nur etwas zu essen geben könnte – das war es, was er im Augenblick am dringendsten brauchte –, aber wenigstens konnte sie ihn warmhalten. Iscalda war zu müde, um weitere Überlegungen anstellen zu können. Wenn es hell wurde und sie sich ein wenig ausgeruht hatte, würde sie entscheiden, was als nächstes zu tun war. Sie streckte sich neben dem Jungen aus, beschirmte ihn mit der Wärme ihres Leibes, und binnen weniger Minuten waren sie beide eingeschlafen.

Nachdem die Phaerie weitergezogen waren, machten sich die Rebellen – die immer noch voller Erleichterung und Staunen über die Geschehnisse sprachen – an die Arbeit. Sie mußten sich um das Abendessen und Schlafplätze für die Nacht kümmern, und sie mußten ihre wenigen Besitztümer zusammenpacken, damit sie morgen aufbrechen konnten. Ein Mitglied ihrer Gruppe hatte jedoch nur Augen für den tragischen Anblick, den Eilins immer kleiner werdende Gestalt bot. Da es in den südlichen Ländern keine Magusch mehr gab, betrachtete Yazours Volk die Magie und ihre Beherrscher mit noch größerer Ehrfurcht als die Sterblichen im Norden. Der junge Krieger war voller Bewunderung für die Art, wie die Lady Eilin dem furchtbaren Phaeriefürsten die Stirn geboten und ihn vertrieben hatte. Er durchschaute und verstand ihre Einsamkeit – war er selbst nicht in einer ähnlichen Position, jetzt, da die Menschen, die er liebte, tot, verschwunden oder weit, weit fort waren?

Die schattenhafte Gestalt in der hereinbrechenden Dunkelheit senkte den Kopf, und ihre Schultern hingen müde herab. Obwohl man das aus dieser Entfernung schwer sagen konnte, schien es Yazour, als ob sie weine. Wie sehr er sich doch wünschte, irgend etwas tun zu können, um sie zu trösten … Plötzlich durchlief ihn ein Schaudern. Wer vermochte die verschlungenen Wege der Götter zu erahnen? Jetzt war es ihm plötzlich ganz klar, daß es doch einen Grund gab, warum er hierher hatte kommen müssen. Yazour lächelte bei sich. Obwohl es zu spät war, um ihr zu folgen, gab es doch noch eine Möglichkeit, wie er Aurian helfen konnte. Was konnte er besseres für die Magusch tun, als sich in ihrer Abwesenheit um ihre Mutter zu kümmern?

Ganz erfüllt von seinem Plan, wäre er beinahe einfach über die Brücke gelaufen, um die Lady von seinem Vorhaben zu informieren – da fielen ihm ihre harten Worte wieder ein und der Ausdruck kalten, bösen Zorns in ihren Augen, als sie vor wenigen Minuten auf ihre Insel zurückge-kehrt war. Yazour schluckte. Vielleicht sollte er eine Weile warten, bis sie Gelegenheit hatte, sich nach ihrem Zusammenstoß mit den Phaerie wieder ein wenig zu fassen. Sie brauchte ihn, soviel stand fest – unglücklicherweise würde er vielleicht seine liebe Not haben, sie davon zu überzeugen.

Seine Gefährten waren, als er während des verspäteten Abendessens mit ihnen darüber sprach, alles andere als ermutigend. Zu Yazours Entrüstung versuchte Vannor nicht einmal, seinem Gelächter Einhalt zu bieten. »Du willst die Lady Eilin beschützen?« kicherte er. »Yazour, du bist ein unverbesserlicher Romantiker. Vor welchen Gefahren willst du sie denn verteidigen, die sie nicht sehr gut allein meistern könnte? Warum fragst du nicht mal den Fürsten der Phaerie, ob diese Frau seiner Meinung nach Schutz braucht?«

»Unfug.« Einzig Dulsina stellte sich auf Yazours Seite. »Du bist ein lieber Kerl, Vannor, aber manchmal kannst du auch ziemlich dumm sein. Die arme Lady – sie hat gerade ihre Tochter verloren, und ihr Heim liegt in Schutt und Asche. Natürlich braucht sie jemanden, der für sie sorgt. Uns alle bekümmert das Schicksal der Magusch, aber für Eilin muß es viel schlimmer sein. Sie muß allein sein, um zu trauern, das stimmt natürlich – aber doch nicht die ganze Zeit, um Himmels willen!«

»Es ist keine Frage von Macht oder Stärke«, gab Yazour ihr recht. »Oft sind unsere größten Feinde gerade die, die sich unbemerkt an uns heranschleichen: Einsamkeit, Angst, Kummer und Hoffnungslosigkeit. Diese Feinde kann niemand allein bezwingen. Sie muß jemanden bei sich haben, der sie ab und zu auf andere Gedanken bringt, der sie aufheitert …«

Dergleichen feinsinnige Überlegungen waren an Phaeric eindeutig verschwendet. »Tu, was du nicht lassen kannst.« Er zuckte die Achseln. »Wenn es dich davon abhält, Hals über Kopf und ganz allein in Richtung Süden aufzubrechen, dann hast du meinen Segen. Denk nur daran, daß diese Maguschfrauen ganz anders sind als eure behüteten Mädchen drüben im Süden. Du darfst nie vergessen, wessen Mutter die Lady Eilin ist. Wenn du auch nur andeutest, daß sie irgendeine Ähnlichkeit mit einem dieser hilflosen weiblichen Wesen haben könnte, wird sie deine Eier zum Frühstück verspeisen. Sie sind sehr reizbar, diese Magusch – das solltest du mittlerweile eigentlich wissen. Du bist ein tapfererer Mann als ich es bin, Yazour, wenn du auch nur den Versuch unternimmst, ihr die Stirn zu bieten. Vor allem jetzt, wo sie so fest entschlossen zu sein scheint, niemanden an sich heranzulassen.«

Yazour seufzte. Sieht so aus, als würde diese Sache doch schwieriger werden, als ich gedacht hatte, ging es ihm durch den Kopf. Aber egal. Aurians Mutter braucht mich, und ich werde sie irgendwie dazu bringen, mich zu akzeptieren. Für Parric setzte er seine tapferste Mine auf. »Es ist mir egal, wie halsstarrig sie ist. Wenn ich morgen mit ihr rede, wird sie herausfinden, daß auch ich stur sein kann.«

Mitten in der kalten dunklen Nacht war die irdische Welt ein unwirtlicher Ort. Hellorin bückte über das trostlose, windgepeitschte Moorland und fluchte leise vor sich hin. Er hatte so lange fern der Welt gelebt, daß er ganz vergessen hatte, wie unangenehm ihr Klima sein konnte. Obwohl die Kälte den Phaerie mit ihrer Magie nichts anhaben konnte, waren sie doch seit vielen, vielen Jahrhunderten an eine freundlichere Umgebung gewöhnt – aber Hellorin, der gerade erst seine Freiheit wiedergewonnen hatte, hätte sich niemals kleinlaut in die Behaglichkeit seines Palastes im Anderswo seines langen Exils zurückgeschlichen.

»Mein Fürst, das ist doch lächerlich.«

Hellorin sah sich um und fand sich Lethas gegenüber, seinem Kammerherrn. Der Phaeriefürst seufzte. Lethas neigte für gewöhnlich gar nicht dazu, sich zu beklagen – er hatte Hellorins Palast jahrhundertelang mit leichter Hand verwaltet, und es gab kaum etwas, das außerhalb seiner Organisationsfähigkeiten, oder wenn die einmal versagten, außerhalb seiner magischen Kräfte lag.

Heute nacht jedoch blickte der Kammerherr finster drein. Er strich sich das dunkle, vom Wind zerzauste Haar aus den Augen, in denen der verärgerte Ausdruck eines Menschen stand, der ein und dieselbe Geste zu viele Male wiederholt hatte. »Herr, unser Volk sollte jetzt ein Festmahl abhalten, um den Erfolg unserer Jagd zu feiern. Welche Behaglichkeit kann uns dieser elende Ort schon bieten?«

Hellorin konnte nicht umhin, ihm beizupflichten. Das Tal verfügte über kleine Wälder, die sich durch Magie vorübergehend in Wände und Dächer verwandeln lassen konnten. In dem natürlichen Schutz der turmhohen Kraterwände hätten sie mühelos die großen Waldfeste alter Zeiten wieder aufleben lassen können. Diese unverschämten, sterblichen Eindringlinge hätten von dem Phaerieland vertrieben werden müssen – nur daß dieses Land eben nicht den Phaerie gehörte.

Der Waldfürst runzelte die Stirn. Das Tal war Eilins Reich. Die Magusch hatte mit dem Tod ihres geliebten Seelengefährten dafür bezahlt. Sie hatte mit ihrer Erdmagie und endlosen Jahren der Plackerei diesen unfruchtbaren Krater in eine grünende Oase des Friedens und der Schönheit inmitten der harten nordländischen Moore verwandelt – und sie hatte ihm überdeutlich klargemacht, daß sie wenn nötig bis zu ihrem letzten Atemzug um ihr Zuhause kämpfen würde – bis zu ihrem letzten Atemzug oder bis zu seinem.

Überall um ihn herum konnte Hellorin in der Finsternis rastloses, klagendes Gemurmel hören. Er knirschte mit den Zähnen. Irgendwo im Tal hatte er seine kostbare weiße Stute verloren, und schlimmer noch, seine Niederlage bei Eilin hatte seine Autorität bei seinem eigenen Volk untergraben. Er wußte, daß er etwas tun mußte. Er war sich der Tatsache bewußt, daß die Sterblichen am nächsten Tag weggehen würden – vielleicht war diese verflixte, halsstarrige Magusch der Vernunft eher zugänglich, wenn sie niemanden mehr beschützen mußte. Voller Erleichterung darüber, daß er endlich etwas tun konnte, wandte er sich an seinen Kammerherrn. »Sag meinen Leuten, sie sollen Geduld haben«, befahl er. »Der Zorn der Magusch kühlt sich bisweilen genauso schnell ab, wie er sich entzündet. Morgen werden wir ins Tal zurückgehen und noch einmal mit der Lady Eilin sprechen.«

»Wie Ihr wünscht, mein Fürst.« Lethas wandte sich ab – und drehte sich dann noch einmal zu ihm um. »Herr, habt Ihr vergessen, daß die Lady Eilin Euch etwas schuldig ist, dafür, daß Ihr ihr das Leben gerettet habt?« Da platzte es aus ihm heraus. »Wenn dies nicht der perfekte Augenblick ist, um Forderungen an sie zu stellen, dann will ich ein Sterblicher sein! Meiner Meinung nach muß man bei dieser Frau nicht reden, sondern handeln. Jeder andere, der es wagen würde, den Fürsten der Phaerie mit solch unverhohlener Respektlosigkeit zu behandeln, würde sofort bestraft werden. Ihr solltet …«

»Schweig!« brüllte Hellorin, »oder ich werde dich bestrafen!« Er holte tief Luft, dann fuhr er mit kalter Stimme fort. »Wenn ich deinen Rat brauche, kannst du sicher sein, daß ich dich darum bitten werde. Ansonsten rate ich dir, deine Anweisungen zu befolgen – oder ich suche mir einen Kammerherrn, dem seine Pflichten wichtiger sind als seine eigenen Meinungen.« Der Waldfürst ging wutschnaubend und mit langen Schritten davon, so daß dem unglücklichen Lethas nichts anderes übrig blieb, als seine Entschuldigungen ins Leere zu stottern. In seinem Herzen jedoch mußte Hellorin zugeben, daß sein Kammerherr wahrscheinlich recht hatte. Diese elende, maultiersture Magusch! Diese lächerliche, unmögliche Situation war ganz allein ihre Schuld! Sie machte ihn vor seinem Volk zum Gespött. Hellorin stellte sie sich vor, wie sie im Schutze ihres Tals mit hämischem Lachen an seine unrühmliche Niederlage dachte. Aber morgen, versprach er sich grimmig, morgen würden sie ja sehen, wer zuletzt lachte!

Als die Sonne zaghaft ihre ersten Strahlen über den Horizont sandte, lag die Welt in völliger Stille. Das einzige Geräusch, das Zwitschern der Vögel, diente nur dazu, die erwartungsvolle Ruhe zu betonen. Es war, als habe das Tal einen Umhang des Schweigens übergestreift, den die Vögel mit den silbernen Fäden ihrer Lieder bestickten. Die niedrigen, schrägen Strahlen der frühen Morgensonne streckten ihre langen Finger in das Tal und schufen blaue, dünne Schatten, die Bäume und Pflanzen als lebhaftes Relief vor einem Hintergrund seidigen, bernsteinfarbenen Lichtes hervorhoben. Jedes Stück knorriger Borke, jeder einzelne Grashalm stach deutlich gegen seinen eigenen kleinen Schatten ab.

Die funkelnden Farbtöne der duftenden, vom Tau durchweichten Erde fanden ihren Widerhall in dem Licht des glitzernden Kristalls in Eilins gewölbten Händen.

»Ich kann ihn einfach nirgendwo sehen.« Stirnrunzelnd richtete die Magusch sich auf und bückte von ihrer knienden Position auf einer zusammengefalteten Decke zu Vannor und Parric auf. »Ich war immer eine gute Hellseherin«, fuhr sie verwirrt fort, »und während meines Aufenthalts bei den Phaerie habe ich in dieser Hinsicht noch das eine oder andere dazugelernt. Aber diesmal weiß ich einfach nicht weiter. Ich habe es heute morgen mit der Schale, dem Spiegel und dem Kristall versucht, und jede Methode verrät mir dasselbe. Miathan ist nicht in Nexis – er befindet sich nicht mal diesseits des Ozeans. Ich verstehe es einfach nicht, Vannor. Alles, was der Kristall mir zeigt, ist Dunkelheit – andrerseits, wäre er gestorben, hätte ich sein Dahinscheiden gespürt.«

Sie warf ihren Kristall gereizt fort, und er kullerte durchs Gras, bis er neben dem kleinen, silbergerahmten Spiegel liegenblieb, den Eilin sich von Dulsina geborgt hatte. Nicht weit davon entfernt lag auch die randvoll mit klarem Wasser gefüllte Zinnschale. Keines der drei Hilfsmittel hatte ihr auch nur annähernd zufriedenstellende Ergebnisse gezeigt. »Bei der Göttin Iriana – irgendwo muß er doch sein! Aber solange wir nicht wissen, wo er sich aufhält, können wir nichts Konkretes tun.«

Vannor versuchte, sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen, damit die Magusch sie nicht als Kritik an ihren Fähigkeiten auffassen konnte. Obwohl sie immer noch darauf beharrte, daß sie das Tal verlassen mußten, war ihre Haltung gegenüber den sterblichen Eindringlingen während der Nacht deutlich nachgiebiger geworden, und er wollte diesen zerbrechlichen Waffenstillstand auf keinen Fall gefährden. Das ehemalige Oberhaupt der Kaufmannsgilde warf einen Blick auf das Lager und sah, daß die Leute mittlerweile wach waren. Einige hockten verschlafen am Feuer oder kümmerten sich um das Frühstück, während die anderen noch damit beschäftigt waren, ihr Bettzeug zusammenzurollen und die provisorischen Nachtquartiere wieder abzubauen. Zu dieser Tageszeit wurde zwar viel gegähnt, aber wenig geredet – nur gelegentlich störte ein Murmeln den morgendlichen Frieden. Vannor zupfte nachdenklich an seinem kurzen, borstigen Bart. Dies waren jetzt seine Leute. Er trug die Verantwortung für ihr Leben, und sie verließen sich darauf, daß er die richtige Entscheidung traf.

»Tja, ich denke, wir müssen es trotzdem riskieren«, sagte er nach einer ganzen Weile. »Wo auch immer dieser alte Bastard Miathan – ich bitte um Vergebung, Lady – sich versteckt, in Nexis scheint er nicht zu sein. Wie du sagst, hält er sich zur Zeit nicht einmal im Norden auf – daher sollten wir uns seine Abwesenheit zunutze machen.«

Er sah Parric an und grinste. »Denk doch nur, mein Freund – irgendwo da draußen hegt eine ganze Stadt, für die sich niemand verantwortlich fühlt. Das können wir doch nicht zulassen, oder?«

»Ich würde sagen, nein«, pflichtete ihm der Kavalleriehauptmann bei, ohne mit der Wimper zu zucken. »Nein wirklich, wir sind geradezu verpflichtet, zurückzukehren und uns dieser armen, verlorenen Menschen anzunehmen.«

»Da hast du absolut recht – aber zuerst sollten wir nach Wyvernesse zurückkehren und mit den Nachtfahrern reden. Zum einen möchte ich Zanna sehen …« Einen Augenblick lang geriet Vannors aufgesetzter Frohsinn ins Wanken. Der Gedanke, seiner Tochter sagen zu müssen, daß Aurian verschwunden war, war ihm unerträglich. Dann aber holte er tief Luft und versuchte, seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Außerdem« fuhr er fort, »möchte ich diesmal Yanis’ Angebot, mir Männer und Schiffe zur Verfügung zu stellen, unbedingt annehmen – nur für den Fall, daß irgend jemand in Nexis auf ähnliche Ideen kommen sollte wie wir. Sobald wir den Fluß kontrollieren, dürfte der Rest ganz einfach sein.«

Parric nickte: »Gute Idee – schließlich wollen wir doch, daß die Nexianer die bestmögliche Führung bekommen, nicht wahr?«

Perfekt! Der Kavalleriehauptmann war ihm wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen! Vannor unterdrückte ein Kichern und ließ seine Falle zuschnappen. »Ich bin froh, daß du es so siehst, Parric, alter Freund – denn wenn wir nach Nexis zurückkehren, werde ich dir die Leitung der Garnison übertragen.«

»Was, mir?« Parric zog ein langes Gesicht. »O verflucht, Vannor – das kann nicht dein Ernst sein. Ich verabscheue diese Art von Verantwortung – du weißt, ich bin nicht dafür geschaffen.«

»Ach nein?« erwiderte Vannor unbarmherzig. »Als du auf diesem Wal nach Wyvernesse zurückkamst, hat Chiamh mir erzählt, du hättest dich als Xandim-Herrscher versucht.«

Parric stöhnte. »Versucht ist genau das richtige Wort«, murmelte er. »Warum konnte dieses Windauge nicht seinen verwünschten Mund halten? Es war nur für einen Monat – und die Xandim hätten mich nie akzeptiert, wenn Chiamh, der arme Kerl, sie nicht dazu gezwungen hätte.«

»Papperlapapp.« Vannor war entschlossen, sich auf keinerlei Auseinandersetzung einzulassen. »Chiamh sagte, du hättest dich als Herdenfürst der Xandim gut gehalten – und als Kommandant der Garnison wirst du genauso erfolgreich sein.«

»Bei allen Göttern! Darauf solltest du besser nicht hoffen«, brummte Parric düster. »Als ich Herdenfürst war, brannten die Leute derart darauf, mich loszuwerden, daß ich noch vor Ende des Monats eine Revolte am Hals hatte …«

Die beiden Männer waren so in ihre Pläne vertieft, daß sie Eilin ganz vergessen hatten. Daher ergriff Eilin die Gelegenheit, ihren Kristall einzustecken und lautlos davonzuschlüpfen. Die Magusch hatte ursprünglich geplant, am Lager vorbeizugehen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, aber die stets wachsame Dulsina, der nichts zu entgehen schien, hatte sie entdeckt und trat nun mit einem Becher duftenden Tees an sie heran. »Bitte schön, Herrin – das dürften die letzten Hagebutten vom Winter sein. Es tut mir leid, daß wir keinen Honig haben, aber trotz seiner Bitterkeit wird dieses Gebräu Euch doch wenigstens wärmen. Der Morgen ist zwar recht schön, aber der Tau sorgt doch noch für eine gewisse Kälte.«

Eilin nahm den Becher dankbar entgegen. »Das ist sehr nett von dir, Dulsina – es ist lange her, daß ich das letzte Mal Hagebuttentee gekostet habe.«

»Da wäre noch etwas, das ich gern zur Sprache bringen würde«, fügte Dulsina hinzu, während sie vor Verlegenheit errötete.

»In unserem alten Lager, Herrin, hatten wir eine Schar Hühner und eine kleine Ziegenherde. Wir haben sie bei unserer Ankunft im Wald gefunden – ich nehme an, sie haben ursprünglich dir gehört. Ich dachte, ich sollte dir besser davon erzählen – du wirst sie jetzt sicher wiederhaben wollen. Ich habe mich, so gut ich es vermochte, um sie gekümmert.«

»Hm, vielen Dank, Dulsina – und ich danke dir auch dafür, daß du mir davon erzählt hast.« Die Magusch schenkte der Dienerin ein Lächeln tiefster Erleichterung. Sie hatte das gut versorgte Vieh im Rebellenlager vollkommen vergessen und sich schon gefragt, wie sie sich versorgen sollte, wenn die Sterblichen fort waren.

Da es ihr widerstrebte, das Lager zu betreten, verabschiedete sie sich von der Frau und schlenderte, ihren Becher in der Hand, Richtung See davon. »Wenn sie doch nur alle wie Dulsina wären«, murmelte sie bei sich, »dann hätte ich nichts dagegen, sie hierbleiben zu lassen.« Aber sie wußte selbst, daß das nicht der Wahrheit entsprach. Sie hatte in der vergangenen Nacht nur wenig geschlafen und statt dessen sehr viel und sehr angestrengt nachgedacht. Ihre Gefühle gegenüber den Rebellen wurden zwar nicht mehr von solchem Zorn beherrscht, daß sie in ihrem Kummer über sie herfallen wollte – aber deswegen würde sie noch lange nicht ihr Heim mit ihnen teilen. Ihren Abschied sah sie allemal mit großer Erleichterung entgegen.

Als ihre unwillkommenen Gäste jedoch zum Aufbruch gerüstet waren, stellte Eilin fest, daß Vannor und Parric immer noch so tief in ihr Gespräch versunken waren, daß sie sich kaum die Zeit nahmen, sich auch nur von ihr zu verabschieden. Der Gedanke an ihre Heimkehr erfüllte sie nicht nur mit Angst, sondern auch mit so großer Vorfreude, daß sie die Magusch anscheinend bereits vergessen hatten. Eilin, die am Ende der Brücke bereitstand, um sich von ihnen zu verabschieden, empfand dieses Verhalten tatsächlich ein wenig kränkend. Typisch Sterbliche, dachte sie, als sie die Traube zerlumpter Gestalten in der Ferne immer kleiner werden sah. Selbstsüchtig, gedankenlos und undankbar! Sie hatte ihnen Zuflucht gewährt und sie vor den Phaerie gerettet – und diese Leute brachten nicht einmal den Anstand auf, sich bei ihr zu bedanken oder sich auch nur geziemend zu verabschieden. Nun, was für ein Glück, daß sie sie jetzt endgültig los war! Dank sei den Göttern, daß sie ein für allemal fort waren, und sie, Eilin, ihr Tal wieder für sich hatte!

Sie konnte nicht ahnen, wie sehr sie sich da irrte. Während Eilin die Ruhe um sich herum genoß und am Seeufer entlangging, bemerkte sie überhaupt nicht, daß jemand sie vom Waldrand aus beobachtete.

Wie sollte er es Eilin beibringen, daß er bleiben würde? Bis zu diesem Augenblick war Yazours Plan nicht weiter schwierig gewesen – er hatte sich lediglich rar zu machen und sich ein behagliches Versteck zu suchen brauchen, bis die anderen fort waren. Vannor hatte sich, wenn auch widerstrebend, mit einem übereilten Aufbruch einverstanden erklärt – in der Hoffnung, daß die Lady dann nicht bemerken würde, daß eine Person aus der Gruppe fehlte. Sobald sie außer Sicht waren, brauchte Yazour nur eine Weile zu warten (dieser Teil des Plans war Dulsinas Idee gewesen), bis die Einsamkeit ihren Tribut von der Magusch forderte …

Das klang zwar alles gut und schön, aber Yazour plagten schwere Zweifel, ob sie ihn willkommen heißen würde. Und jetzt, da die Zeit gekommen war, zögerte er diese erste Begegnung nur allzu bereitwillig hinaus. Es war für sie beide sehr wichtig, daß Eilin ihn akzeptierte – er spürte einfach, daß er es Aurian schuldig war, sich in ihrer Abwesenheit um ihre Mutter zu kümmern. Vielleicht sollte er, nur um ganz sicherzugehen, doch noch ein Weilchen warten …

Als die Sonne ihren Zenit erreichte, nahm er das Essen zu sich, das Dulsina ihm dagelassen hatte – kaltes Wildbret und hartes Zwieback aus Mehl und Wasser, den sie auf heißen Steinen am Rand des Feuers gebacken hatte. Danach beschloß Yazour, ein wenig seine Umgebung zu erkunden. Er konnte später wieder herkommen – immerhin bestand kein Grund zur Eile. Er wußte bereits, daß die Lady Eilin sehr scharfsichtig war – er durfte ihr auf keinen Fall zu nahe kommen, so daß sie ihn entdeckte, bevor er selbst soweit war. Also duckte er sich und stahl sich vorsichtig aus seinem Versteck im Gebüsch, bevor er tiefer in den Wald eindrang. Unterwegs gab er sich alle Mühe, seine Anwesenheit nicht zu verraten, indem er Zweige zertrat oder Äste aus dem Weg schob.

Die Zeit verging dem Krieger sehr schnell. Er genoß die Erkundung dieses nördlichen Waldes – er unterschied sich von jedem Ort, den er bisher kennengelernt hatte. In dem trockenen, von Dürre geplagten Klima seines eigenen Landes waren Wälder völlig unbekannt, und weder der große Wald am Rand der Wüste noch die hohen, windgepeitschten Kiefernhaine der Xandimberge waren von so üppigem Grün gewesen wie die breitblättrigen Bäume, die diese regnerischen, milden Länder beherrschten. Alles war so anders hier: Yazour atmete den aromatischen Duft des Grases und der winzigen Pflanzen, die er bei jedem Tritt zertrat, tief ein; das endlose, rastlose Spiel von Ästen und Zweigen entzückte ihn, und der wirbelnde Tanz von Licht und Schatten, wenn die Sonne auf die bleichen Flächen der Blätter traf, erfüllte ihn mit tiefer Freude. Aber das Schönste von allem war für Yazour die Welt der Geräusche: das unablässige Säuseln des Windes in den Bäumen, durchmischt mit jubilierendem Vogelgesang, der wie ein Regenguß herrlicher, strahlender Töne auf ihn herabging.

Nach den Schrecken des gestrigen Feuers krochen nun die Tiere, die am Seeufer Schutz gesucht hatten, langsam in ihre früheren Territorien zurück. Der Jäger Yazour konnte sie mühelos entdecken – er verstand sich darauf, sich lautlos zu bewegen und seine Silhouette mit dem Hintergrund verschmelzen zu lassen. Und die Geschöpfe der Wildnis, die in Eilins Tal immer ein behütetes Leben geführt hatten, waren noch zu sehr von Aufruhr und Verwirrung gezeichnet, um einem friedlichen menschlichen Wesen große Aufmerksamkeit zu schenken. Zwischen Räubern und Beutetieren schien ein beklommener Waffenstillstand zu herrschen – für den Augenblick jedenfalls. Für die Fleischfresser gab es in den Randgebieten des Feuers Nahrung im Übermaß, denn dort lagen ungezählte vom Rauch getötete Kadaver, die die Flammen jedoch nicht berührt hatten. Die Überlebenden des gestrigen Infernos waren gegenwärtig ganz damit beschäftigt, ihre verschwundenen Gefährten und Jungen zu suchen. Viele versuchten auch, sich neue Nester zu bauen oder ihre früheren Territorien gegen heimatlos gewordene Eindringlinge aus den unbewohnbaren äußeren Teilen des Tals zu verteidigen. Überall waren Spuren zu sehen, die einander überlappten, und der junge Krieger folgte ihnen mit großem Interesse. Die verschiedenen Revierkämpfe waren ein steter Quell des Staunens für ihn.

Plötzlich blieb Yazour mit einem Ausruf des Erstaunens auf den Lippen stehen und bückte sich tief, um den Boden zu berühren. Dort, tief eingeschnitten in das Moos, entdeckte er eine ganz besondere Spur – die scharfen Abdrücke unbeschlagener Pferdehufe. Das Tier war offensichtlich in halsbrecherischer Geschwindigkeit davongaloppiert. Iscalda! In der Angst, die sie alle bei dem Angriff des Waldfürsten ausgestanden hatten, und in seiner anschließenden Erleichterung über den Triumph Eilins hatte er Iscalda vollkommen vergessen. War es ihr gelungen, den Phaerie endgültig zu entkommen? War sie immer noch in Freiheit?

Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Yazour war ein erfahrener Spurenleser, und in ihrer panischen Flucht hatte die Stute eine Vielzahl an Zeichen in Form versprengten Laubs, aufgewühlter Erde und zerbrochener Äste und Zweige hinterlassen. Die Spuren führten in weitem Bogen durch den breiten Streifen Waldlandes, bevor sie allmählich wieder zum Zentrum des Tals zurückkehrten. Mit klopfendem Herzen rekonstruierte Yazour, was sich auf dem zerstampften Flußufer abgespielt hatte. Als das Muster der Hufabdrücke plötzlich unbeholfener wirkte als zuvor – die Stute hatte offensichtlich ein Bein schonen müssen –, runzelte Yazour besorgt die Stirn.

Angelockt von dem aufgeregten Summen eines Fliegenschwarms, fand er Iscalda endlich auf einer schattigen Lichtung, die im Schutz sie umgebender Bäume lag. Die Stute bot einen herzzerreißenden Anblick. Aus Angst, sie zu erschrecken, hielt sich Yazour auf der dem Wind abgekehrten Seite von ihr und überlegte, wie man sich einem Geschöpf, das eindeutig an der Grenze seiner Kraft angelangt war, am besten näherte.

Die Stute war in einem traurigen Zustand. Ihr Kopf hing herunter, und ihr Körper war vor Müdigkeit in sich zusammengesunken. Ein Vorderbein war geschwollen, und sie hielt es unbeholfen hoch, so daß der Huf den Boden kaum berührte. Iscaldas lange, seidige Mähne und ihr Schwanz hingen in verfilzten Strähnen herunter, und eine Unzahl von Zweigen und Blättern hatte sich in ihrem Haar verheddert. Ihr einstmals weißes Fell, das jetzt mit Schweiß und braunem Schlamm überzogen war, wies grüne Flecken auf. In ihrer kopflosen Flucht mußte sie sich achtlos durch Bäume und Gebüsche gezwängt haben. An ihren Beinen entdeckte Yazour Schnitte und Kratzer, und ihr Fell war mit blutigen Streifen durchsetzt, wo die Domen ihre tiefen, brennenden Spuren hinterlassen hatten. Eine gezackte Wunde, die wahrscheinlich von dem scharfen Ende eines Zweigs stammte, verlief quer über ihr Gesicht und hatte nur um Haaresbreite ein Auge verfehlt.

Dann hob Iscalda den Kopf. Als sie ihn sah, stieß sie ein lautes, freudiges Wiehern aus. Tiefe Erleichterung durchströmte Yazour. Sie hatte also genug von ihrem menschlichen Geist bewahrt, um ihn wiederzuerkennen. Erst als er einen Schritt nach vorn machte, bemerkte er das Wolfsjunge, das in dem schützenden Schatten der Stute auf dem Boden lag. Was in Gottes Namen tat Iscalda ausgerechnet mit einem Wolf? Yazour bückte sich, um das kleine Geschöpf zu untersuchen; der Hunger hatte es mittlerweile so geschwächt, daß es nicht einmal mehr den Kopf heben konnte. Iscalda hatte Wolf schneller erkannt, als nun Yazour das Junge erkannte. Er weigerte sich, seinen Augen zu trauen, aber andererseits waren die Merkmale des kleinen Wolfs deutlich genug, um jeden Irrtum auszuschließen. Yazour war entsetzt. Wolf mußte bereits furchtbar schwach sein – und er stand wie ein mondsüchtiger Narr hier herum, statt Aurians Sohn schleunigst in Sicherheit zu bringen. Falls sie das jemals herausfand, würde sie ihm das Fell abziehen!

Yazour nahm das Wolfsjunge auf und barg es in seinem Gewand, um ihm Wärme zu spenden. Obwohl es ihm schrecklich war, ihren Schmerz noch zu verschlimmern, griff Yazour in Iscaldas Mähne, um sie, so gut er konnte, zur Eile anzutreiben. »Es tut mir leid«, sagte er zu der Stute, »aber wir müssen Wolf so schnell wie möglich zu Eilin bringen.«

Die Magusch lief zum See hinunter und setzte sich auf einen großen Felsbrocken, von dem aus man einen Blick übers Wasser hatte. Der See lag dunkelblau und ruhig da, und wo die kleinen Wellen das Sonnenlicht auffingen, funkelte das Wasser wie Quecksilber. Die wenigen Geräusche, die zu hören waren, gehörten alle zur Landschaft: eine wispernde Brise im Schilf, das Vogelgezwitscher im nahen Wäldchen und das sanfte, rhythmische Seufzen des Wassers, das über die abgerundeten Steine am Ufer plätscherte.

Eilin saß lange einfach nur da, nahm die segensreiche Einsamkeit in sich auf und Heß sich von dem Frieden und der Schönheit um sie herum erfüllen. Die Gefühlsstürme der letzten Tage und Stunden waren einfach zuviel gewesen – ihr Ärger über die ungehobelten Sterblichen, ihr schwelender Zorn auf die Phaerie und vor allem auf ihren Fürsten, und dann ihr tiefer, beständiger Kummer angesichts des ungewissen Schicksals ihrer einzigen Tochter. Nach einer Weile mußte sie jedoch entdecken, daß der ersehnte Trost ausblieb. Jetzt, da sie keine andere menschliche Gesellschaft mehr hatte, die sie von ihrem Schmerz ablenkte, kehrten ihre Gedanken wieder und wieder genau zu den Dingen zurück, denen sie zu entfliehen wünschte. Seufzend Heß sie ihren Blick über den See schweifen, bis zu der Stelle, an der sich die Ruinen ihres Turmes befanden. Was auch geschehen sein mochte, sie durfte nicht untätig herumsitzen und grübeln. Sie sollte sich auf ihrer Insel an die Arbeit machen und für sich und ihr Vieh ein notdürftiges Quartier bauen. Ihr Vieh! Das mußte sie überhaupt erst im Rebellenlager zusammentreiben und anschließend hierherschaffen. Außerdem sollte sie sich langsam daranmachen, die Trümmer wegzuräumen, die überall um den Turm herumlagen. Sie mußte über einen neuen Garten nachdenken und anfangen, sich auf den Ruinen ihres alten Lebens ein neues aufzubauen. Nach all diesen Jahren mußte sie all das noch einmal tun. Die Magusch legte sich die Hände vors Gesicht und rieb sich die müden Augen. Sie hatte noch nicht einmal begonnen, aber schon jetzt schien ihr die Ungeheuerlichkeit der vor ihr Hegenden Aufgabe einfach erdrückend.

Als er sich der Insel näherte, sah Yazour die nichtsahnende Magusch voller Mitleid an. Jetzt würde die Lady ihm doch gewiß vergeben und seine Hilfe annehmen? Sie sah so verlassen aus – wie konnte sie da seine Gesellschaft zurückweisen? Das wäre einfach unvernünftig gewesen. Aber der Khazalirnkrieger hatte bei Aurian bereits erfahren, wie stur die Magusch sein konnten, und er wußte, daß ihr Benehmen oft wenig mit Vernunft zu tun hatte. Einsamkeit hin oder her, es war durchaus denkbar, daß Eilin ihn auf der Stelle aus dem Tal warf, einfach um ihrer glorreichen Selbständigkeit willen. Auf diese Weise konnte sie nach Herzenslust weinen, ohne daß jemand es bemerkte, und ihr Stolz würde unversehrt bleiben.

Dieser verfluchte halsstarrige Stolz! dachte Yazour. Aber der wird ihr nicht weiterhelfen. Ich muß sie überreden, mich zu akzeptieren, schon um ihretwillen. Außerdem braucht Iscalda ihre Hilfe – und wenn ich ihr die Situation erkläre, wird sie jemanden, der so dringend ihrer heilenden Kräfte bedarf, gewiß nicht abweisen. Darüber hinaus – er warf einen Blick auf das Wolfsjunge, das er unter seinem Gewand trug – ist sie mir schließlich etwas schuldig dafür, daß ich ihren Enkelsohn gefunden habe. Yazour wandte sich der weißen Stute zu, die geduldig wartend neben ihm stand. Wegen ihres langsamen, stockenden, dreibeinigen Gangs hatten sie furchtbar lange gebraucht, um so weit zu kommen, aber Iscalda hatte sich geweigert, sich irgendwo niederzulegen und darauf zu warten, daß ihr Freund mit der Lady zurückkehrte. Nun, wie dem auch sei, er konnte nicht länger hier herumstehen. Der kleine Wolf brauchte dringend Hilfe. Yazour holte tief Luft. »Ich verlasse mich darauf, daß du mir bei dieser Sache hilfst«, sagte er zu dem Pferd – obwohl der Allmächtige allein weiß, wie du das bewerkstelligen solltest, fügte er insgeheim und nur in Gedanken hinzu. Dann drückte er das Wolfsjunge fester an sich und trat hinaus in das Sonnenlicht.

Beim Geräusch seiner näherkommenden Schritte zuckte Eilin heftig zusammen. »Du! Was tust du hier? Warum im Namen aller Götter bist du nicht mit den anderen fortgegangen?«

Alles, was Yazour sich zuvor so sorgfältig zurechtgelegt hatte, war plötzlich vergessen. »Ich …« Er räusperte sich und hielt das Wolfsjunge hoch. »Lady, ich habe deinen Enkelsohn gefunden.«

»Was? Dieser Wolf – mein Enkelsohn! Wie kannst du es wagen, dich über mich lustig zu machen, Sterblicher!« Eilin sprang auf, und ihr Gesicht war dunkelrot vor Zorn.

Yazour spürte, wie bei dieser ungerechten Anschuldigung sein eigenes Blut zu kochen begann. »Ich mache mich nicht über dich lustig. Schon um Aurians willen würde ich so etwas nie tun«, schrie er sie an. »Sieh doch!« Wieder hielt er ihr das Junge hin. »Sieh ihn dir doch an! Wie kann man nur so stur sein! Aurians Feind hat ihn zu dieser Gestalt verdammt. Sie hatte keine Chance, es dir selbst zu erzählen, aber trotz seines Äußeren ist Wolf dein eigen Fleisch und Blut, und er braucht deine Hilfe. Um seinetwillen und um deiner Tochter willen, lerne ihn mit deinem Herzen zu betrachten, und sieh ihn als das, was er in Wahrheit ist.«

Eilin öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Langsam streckte sie die Hände aus und nahm das Junge in die Arme. Yazour sah, wie ihre Augen feucht wurden und ihr schließlich die Tränen über die Wangen liefen. »Er ist mein Enkel«, flüsterte sie. »Er ist es …«

Plötzlich kam Leben in Eilin. »Bei den Göttern, wieso stehen wir eigentlich hier rum? Yazour, such etwas trockenes Holz und mach ein Feuer. Und wir werden eine Hütte brauchen – wir können schließlich nicht erwarten, daß das arme kleine Ding hier die Nacht im Freien verbringt. Und du, du armes Geschöpf …« Sie wandte sich an Iscalda und sprach sie an, als wäre sie immer noch ein Mensch. »Armes Kind, sei mir willkommen. Hab nur noch ein kleines Weilchen Geduld, dann werde ich sehen, was ich für dich tun kann …«

Ihre Worte verloren sich, und Yazour eilte davon, um ihrem Wunsch Folge zu leisten. Er war dankbar dafür, daß er sich schnell entfernen konnte, bevor sie das Lächeln auf seinem Gesicht entdeckte.

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