12 Ein hoher Preis

»Jetzt fängt es an.« Als der Tod vom Brunnen der Seelen zurücktrat, löste sich die darin gefangene Vision auf, und an die Stelle der Gestalten Aurians und Forrals traten unergründliche Tiefen und ein Reigen unzähliger Sterne. Die Geistererscheinung konnte sich in der Finsternis ihrer tiefen Kapuze ein verstohlenes, kleines Lächeln nicht verkneifen. Diese unverbesserliche Magusch, die sich durch nichts aufhalten ließ, war also in die Welt zurückgekehrt und hatte festgestellt, daß ein Geliebter an die Stelle des anderen getreten war. Das versprach ja interessant zu werden! Der Tod ging zurück durch den geheiligten Hain und fragte sich, welche der beiden Maguschfrauen er demnächst in seinem Reich wohl willkommen heißen durfte: Eliseth – oder Aurian.

Als er aus dem Schatten der Bäume heraustrat, blieb der Geist stehen und fluchte leise. Dort stand dieser halsstarrige Narr von einem Magusch und wartete auf ihn.

Anvar trat der unversöhnlichen Gestalt in den Weg. »Was hast du da drin gesehen?« fragte er. »Sie ist wieder da, nicht wahr? Nach all dieser Zeit ist Aurian in die Welt zurückgekehrt – ich spüre es. Wir sind Magusch, Seelengefährten und Wächter der Artefakte – auch der Tod kann das Band nicht durchtrennen, das uns verbindet. Du mußt mich jetzt zurückschicken! Ich kann nicht hierbleiben – ich bin nicht wirklich tot, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. Du mußt mich gehen lassen.«

»Unbedingt.« In der Stimme des Todes schwang belustigter Hohn mit, aber sein kalter Blick geriet keine Sekunde lang ins Wanken. »Ich bin dein unablässiges Jammern und deine Klagen gründlich leid. Dieser Schwertkämpfer war schon schlimm genug, aber du …« In den dunklen Tiefen der Augen des Geistes flammten rote Funken des Zorns auf. Anvar schwieg, wich aber auch keinen Schritt zurück. Nach wenigen Sekunden flammte das Feuer in den Augen des Todes noch heller auf.

»Dann geh«, fauchte der Tod. »Ich werde dich nicht daran hindern. Verschwinde – wenn du einen Weg hinaus finden kannst. Du bist lange genug hier gewesen, um jeden Winkel meines Reichs zu erkunden – du solltest mittlerweile wissen, daß es nur eine einzige Möglichkeit gibt, von hier wegzukommen: den Brunnen der Seelen.«

»Es muß noch einen anderen Ausweg geben«, beharrte Anvar stur. »Aurian und ich waren schon einmal hier, und wir sind wieder gegangen. Ich wette, daß du es mir irgendwann verraten wirst. Spätestens wenn du es leid bist, deine Spielchen mit mir zu treiben. Sei gewarnt – du magst zwar der Tod sein, aber du wirst meiner müde werden, lange bevor mir nichts mehr einfällt, womit ich dich plagen könnte!«

»Du ermüdest mich jetzt schon – glaub mir.« Die Geistererscheinung seufzte. »Nun denn – ich kann dir nicht helfen, von hier zu entkommen, aber ich werde dir den einen Weg verraten, der es dir ermöglicht, in die Welt der Sterblichen zurückzukehren. Erinnerst du dich an unsere Begegnung, als du mit dieser verwünschten Magusch in der Wüste warst? Ihr Geist ging durch die Pforte Zwischen den Welten, und du bist sie suchen gekommen?«

»Das ist wohl kaum etwas, das ich jemals vergessen würde«, erwiderte Anvar. »Ich bin ihr hierher gefolgt, und du hast uns gemeinsam zurückgeschickt. Also, warum kannst du mich jetzt nicht auch zurückschicken?«

»Weil damals einer von euch noch fest im Leben verankert war. Das genügte, um euch beide in die Welt der Sterblichen zurückzuziehen.«

»Aber ich bin auch jetzt immer noch mit dem Leben verankert«, protestierte Anvar. »Mein Körper ist immer noch dort. Dieser verräterische Hurensohn hat ihn mir gestohlen, und …«

»Und deshalb gehört er dir nicht mehr«, sagte der Tod kategorisch. »Du kannst die Dinge wenden, wie du magst, du bist tot. Um in die Welt der Sterblichen zurückzukehren, muß einer der Lebenden dich suchen kommen – also solltest du besser hoffen, daß Aurian nicht die Meinung gewinnt, ihr Schwertkämpfer sei ein guter Tausch für ihren früheren Seelengefährten. Selbst wenn sie dich suchen und dich zurückführen sollte – solange der Kessel nicht gefunden ist, wirst du stets ein körperloser Geist sein. Und sollte deine Magusch irgendwann den Kessel wiederfinden, hängt es immer noch Forral ab, dir deinen Körper zurückzugeben. Gut möglich, daß er dazu nicht bereit ist – und in diesem Falle mußt du zu mir zurückkehren. Wenn du es nicht tust, wirst du dazu verdammt sein, auf ewig die Erde als Geist zu durchstreifen, bis du ganz und gar vergessen bist. Dann wird dein Wesen ausgelöscht werden und aufhören zu existieren. Höre mir gut zu, Anvar, denn das ist das Risiko, das du eingehst, wenn du auf deinem Wunsch, in die Welt zurückzukehren, bestehst. Wenn der Schwertkämpfer sich weigert, deinen Körper zu verlassen, besteht deine einzige Hoffnung darin, mit ihm um den Besitz zu kämpfen.«

Forral versuchte, Anvars lange Beine unter seinem fadenscheinigen Umhang zu verschränken, während er sich zitternd in eine zugige Ecke des unterirdischen Gemachs kauerte. Aber die Kälte und die Dunkelheit machten ihm nichts aus, dazu genoß er Aurians behagliche Nähe viel zu sehr; sie saß neben ihm und unterhielt sich leise mit dem schäbigen kleinen Dieb. Obwohl es ihm schwergefallen war, ihre neue herrische Natur und den Kern aus Stahl, der in seiner Abwesenheit in ihr gewachsen zu sein schien, zu akzeptieren, hatten sie wohl endlich doch eine Art zerbrechlichen Frieden geschlossen – obwohl dieser, wie Forral sich kläglich eingestehen mußte, bisher ausschließlich auf den Bedingungen der Magusch fußte. Aber es war immerhin etwas, auf dem man aufbauen konnte, und der Schwertkämpfer war insgeheim froh, daß er gerade rechtzeitig zurückgekehrt war, um ihr auf dem Höhepunkt ihres Abenteuers zur Seite zu stehen. Hatte er sich nicht immer um sie gekümmert? Aurian hatte jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sie eine Magusch und eine Kriegerin war, und daß sie seinen Schutz weder wünschte noch benötigte, denn sie war kein Kind mehr. Nun, man würde sehen. Er hatte sie immer beschützt und würde jetzt nicht damit aufhören.

Forral wußte, daß er sich besser auf das konzentrieren sollte, was Grince erzählte, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Obwohl er müde war, erregte ihn das Wunder seiner Wiedergeburt zu sehr, um an diesem ersten, herrlichen Tag auch nur eine einzige Minute dem Schlaf zu opfern. Nach der endlosen Einsamkeit und der betäubenden Monotonie im Reich des Todes schien ihm die abgestandene, staubige Luft des unterirdischen Raumes so frisch und wohlduftend wie ein Kelch mit funkelndem Wein. Das schwache Feuer und sogar die düsteren Schatten, die es warf, schienen voller Farben und Licht zu sein. Das Zwischenspiel zweier flüsternder Stimmen klang in seinen Ohren laut und harmonisch, und es begeisterte ihn, rauhen Stoff an seiner Haut zu fühlen und die Wärme von Aurians Körper neben dem seinen.

Übungshalber spannte Forral den rechten Arm an. Obwohl er nicht über die schwere Muskulatur seines alten Leibes verfügte, waren die Gelenke beweglicher, und der Griff der Hand war stark. Mit etwas regelmäßigem Training, dachte er schläfrig, könnte ich diesen Körper bald in Form bringen …

Mit einemmal war der Schwertkämpfer wieder hellwach; die Richtung, die seine Gedanken einschlugen, entsetzte ihn. Dies war nicht sein Körper – er gehörte Anvar. Er, Forral, mußte lernen, ihn lediglich als ein Gewand zu betrachten – einen geborgten Umhang, den er eines Tages seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben mußte.

Warum? Dieser beharrliche, kleine Gedanke, der in seinem Hinterkopf lauerte, ließ sich nicht ersticken. Warum all diese Wunder und die Freude aufgeben, wo ich sie doch gerade erst zurückgewonnen habe? Forral sah Aurian, die neben ihm saß, lange an. Sie hatte den Kopf aufmerksam dem Dieb zugeneigt. Wenn er diesen Körper behielt, konnte sie auf ewig ihm gehören, ging es ihm durch den Sinn. »Aber es ist nicht mein Körper«, sagte er sich.

Vielleicht nicht – aber er ist halb so alt, wie dein Körper bei deinem Tod war – und wir wissen ja bereits, daß Aurian deine neue Gestalt zu mögen scheint.

Die Eifersucht auf Anvar schlang sich wie eine dornige Ranke um Forrals Gedanken. Warum soll er sie haben, dachte der Schwertkämpfer. Sie hat mich zuerst geliebt. Anvar ist nicht mehr hier, und ich habe seinen Platz eingenommen. Mit der Zeit könnte ich sie zurückgewinnen …

Natürlich kannst du das, begann die unbezähmbare Stimme von neuem. Warum auch nicht? Es war nicht deine Schuld, daß du getötet wurdest. Du warst noch nicht bereit. Du warst noch nicht fertig. Aurian wird es irgendwann akzeptieren – sie hat dich den größten Teil ihres Lebens geliebt. Ihr habt einen gemeinsamen Sohn …

Hör auf damit! befahl sich Forral zornig. Du weißt, daß es nicht recht ist. Du solltest dich schämen. Aber dann dachte er an all das, was ihm wieder gehören konnte: die taudurchtränkte Stille der Sommermorgen auf freiem Feld, der Geruch von Leder und Holzrauch, heiße Bäder, kaltes Bier, durchzechte Nächte, erfüllt von fröhlicher Kameradschaft in einer überfüllten Taverne, die unbekannten Freuden der Vaterschaft … Abermals sah er Aurian an.

All das kann wieder dir gehören – und Aurian auch, flüsterte die Stimme. Forral zwang sie zurück in die Tiefen seiner Gedanken, als kämpfe er mit einer Schlange. Mit einiger Anstrengung gelang es ihm schließlich, die bösen Einflüsterungen zum Schweigen zu bringen – aber er wußte, daß er sie nicht endgültig besiegt hatte.

Als er seine Aufmerksamkeit wieder seiner Umgebung zuwandte, hatte der Schwertkämpfer plötzlich das beklommene Gefühl, beobachtet zu werden. Er sah sich um und stellte fest, daß eine der großen Katzen ihn mit flammenden Augen anstarrte. Forral schauderte. Das Geschöpf sah so wild aus und so wissend – fast als hätte es seine geheimsten Gedanken gelesen. Dann riß er sich entschlossen zusammen. »Sei nicht so ein verdammter Narr«, murmelte er bei sich. Mochte Aurian sich auch in ihrer Freundschaft zu der Katze einbilden, jedes ihrer Worte zu verstehen, so war sie doch zu guter Letzt nicht mehr als ein Tier.

Shia unterdrückte ein Knurren und fuhr die Krallen aus, um sie in den zerfallenden Stein des Bodens zu graben. Törichter Mensch! Er befand sich im Körper eines Magusch, hatte aber keine Ahnung von den Kräften, die ihm zur Verfügung standen – und sie würde ihn ganz gewiß nicht darüber aufklären, denn es lag auf der Hand, daß man ihm nicht trauen konnte. Anvars alte Kanäle der Gedankenrede standen der Katze immer noch offen, und sie hatte jedes Wort von Forrals innerem Kampf mit angehört. Shia liebte Anvar mit derselben Wildheit, mit der sie Aurian liebte, und zu hören, wie dieser Eindringling plante, den Körper des Magusch zu stehlen, erfüllte sie mit einem bebenden Zorn.

Die Katze wußte jedoch, daß sie Geduld haben mußte. Dieser Mensch bedeutete Aurian sehr viel, und außerdem Heß sich, bevor nicht der Gral wiedergewonnen war, nichts an der Situation ändern. Sie mußten alle zusammenarbeiten, um ihren gemeinsamen Feind zu bezwingen, daher durfte sie im Augenblick keinen Konflikt heraufbeschwören.

Widerstrebend beschloß Shia, Aurian nichts von dem zu erzählen, was sie da belauscht hatte. Für so etwas war jetzt nicht der rechte Augenblick – aber trotzdem beschloß die Katze, diesen Menschen in Zukunft ganz genau im Auge zu behalten.

Rasvald dankte den Göttern für Lord Pendrals Hunde. Ohne sie hätte er den Dieb in zehntausend Jahren nicht gefunden. Außerdem schien es, als hätte dieser erbärmliche Wicht es trotz all ihrer Vorsichtsmaßnahmen geschafft, sich in diesem Gewirr von Korridoren zu verstecken. Aber die beiden Hunde folgten der Witterung des Entflohenen, ohne einen Augenblick zu zögern. Rasvald, der weniger Zutrauen zu der Fähigkeit der Tiere hatte, auch den Rückweg zu finden, hinterließ an jeder Wegkreuzung ein Kreidezeichen.

Bei den zahllosen Tunneln unter dem Felsen grenzte es an ein Wunder, daß nicht der ganze Hügel zusammenstürzte und die Akademie mit ihm, dachte Rasvald verdrossen. Er wünschte nur, es wäre passiert, bevor das Schicksal sich verschworen hatte, ihn hier hinunterzuzwingen. Obwohl er ein Dutzend Männer mitgenommen hatte – eine lächerlich große Anzahl, um einen einzelnen Dieb aufzuspüren –, fühlte er sich immer noch nicht wohl in seiner Haut. Es waren nicht nur die Kälte und die Dunkelheit, die ihm eine Gänsehaut einjagten und ein unangenehme Kribbeln zwischen seinen Schulterblättern hervorriefen – hier unten hatte man ständig das Gefühl, als lauere in diesen Korridoren immer noch die feindliche Gegenwart der Magusch.

»Es gibt keine Geister«, flüsterte Rasvald wieder und wieder vor sich hin. »Es gibt keine Geister!« Aber irgendwo ganz hinten in seinem Kopf hörte er ein Echo, ein hohles, höhnisches Lachen.

Ob die Phantome der Magusch gegenwärtig waren oder nicht, ließ sich unmöglich sagen. Das zuckende Fackellicht warf wirre Schatten, und obwohl Rasvald ihr ärgerliches Getuschel schon lange zum Schweigen gebracht hatte, überlagerten die schweren Schritte der Männer immer noch alle anderen Geräusche. Auch das Hecheln der angeleinten Hunde wirkte hier unten noch lauter und schauerlicher als sonst. Trotzdem wußte Rasvald, daß sie sich ihrer Beute nähern mußten, denn die Aufregung der Tiere wuchs jetzt. Die mächtigen Geschöpfe zerrten so heftig an ihren Leinen, daß die beiden Männer, die sie führten, ihren Schritt beschleunigen mußten, um sich auf den Füßen zu halten.

»Sorgt dafür, daß diese verdammten Tiere still sind!« zischte Rasvald. »Sie werden ihn warnen.«

Einer von Pendrals Hundeführern warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ach bitte – wie wäre es, wenn du es mal versuchst? Vielleicht schiebst du dem Hund eine Hand ins Maul, um ihn zum Schweigen zu bringen? Oder besser gleich deinen Kopf?«

»Paß auf, was du sagst«, fuhr Rasvald den Mann an – aber er war klug genug, das Thema nicht weiterzuverfolgen. Statt dessen schickte er einen Soldaten zur nächsten Wegbiegung voraus, um zu lauschen. Als die Hunde den Mann erreichten und zeigten, in welche Richtung es weiterging, schickte er ihn abermals voraus. Einige Sekunden später kam er dann wieder durch den Tunnel zurückgerannt. »Herr, da vorne höre ich Stimmen.«

Grince machte ein finsteres Gesicht. »Neue Gesetze hier, neue Regeln dort und überall die verdammten Soldaten von der Garnison! Wahrlich, Herrin – als Lord Vannor Nexis beherrschte, waren die Zustände derart, daß ein ehrlicher Dieb kaum mehr genug verdienen konnte, um zu überleben.« Er seufzte. »Ich muß aber zugeben, daß es den meisten Leuten seinerzeit besserging – bis der blödsinnige Kerl beschloß, den verdammten Phaerie den Krieg zu erklären.«

»Er beschloß, was zu tun?« stieß Aurian atemlos hervor. »Aber das ist doch Wahnsinn!«

»Das würde Vannor niemals tun – dazu ist er viel zu vernünftig«, wandte Forral ein.

»Oh, aber er hat es getan – glaubt mir.« Grince wartete, bis der folgende Aufruhr sich gelegt hatte. Dann beschrieb er mit grimmiger Stimme, wie vor zehn Monaten eine große, teilweise aus Soldaten der Garnison und teilweise aus nexianischen Rekruten bestehende Truppe nach Norden gegangen war, um die neue Stadt der Phaerie anzugreifen. Parric hatte die ganze Angelegenheit als reinen Wahnsinn entlarvt und sich zuerst geweigert, das Leben seiner Soldaten sinnlos aufs Spiel zu setzen. Schließlich hatte er sich jedoch von Vannor überreden lassen, die nexianischen Truppen anzuführen – und keiner der Männer, die in den Kampf zogen, war zurückgekehrt. Man vermutete, daß auch Parric dort gestorben war. Die Phaerie aber fielen über Nexis her und hatten eine Orgie der Zerstörung in der Stadt gefeiert, deren Verheerungen ebenso furchtbar waren wie das Erdbeben einige Monate zuvor.

»Es war eine schlimme Zeit«, erzählte Grince der entsetzten Magusch. »Viele Leute wurden getötet, und noch mehr wurden einfach verschleppt. Die Phaerie nahmen auch Lord Vannor mit – sie haben ihn aus seinem eigenen Haus entführt. Ich hätte ja persönlich nichts dagegen gehabt, aber dann trat dieser abscheuliche Mistkerl, Lord Pendral, an seine Stelle.« Seine Stimme wurde hart und leise, und sein Gesicht verzerrte sich vor Haß. »Pendral regiert die Stadt jetzt mit eiserner Hand. Das muß er auch – die Leute würden ihn, wenn sie auch nur die geringste Chance hätten, seinen Amtes entheben und obendrein töten.«

Grinces Worte waren ein schwerer Schlag für die Magusch. Das ist alles meine Schuld, dachte sie. Nur weil ich es nicht geschafft habe, mir das Schwert zu unterwerfen, wurden die verfluchten Phaerie überhaupt erst auf die Welt losgelassen.

»Unfug!« schnaubte Shia. »Hast du diesen törichten Menschen dazu gezwungen, den Phaerie den Krieg zu erklären? Hast du ihn gezwungen, die Stadt anzugreifen?«

»Da hast du nicht ganz unrecht«, entgegnete Aurian. »Trotzdem bin ich nicht ganz schuldlos an der Sache.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. Vielleicht hatten die Phaerie Parric nicht getötet, sondern gefangengenommen, dachte sie. Er ist ein zäher alter Bursche – ich weigere mich einfach zu glauben, daß er tot sein könnte. »Hör mir zu, Grince«, fügte sie laut hinzu. »Wo genau befindet sich diese Phaeriestadt eigentlich?«

Der Dieb zuckte die Achseln. »Wie soll ich das wissen? Ich bin mein Leben lang nicht aus Nexis herausgekommen.«

Forral, der sich ganz still verhalten hatte, bis Grince Vannors Angriff auf die Phaerie erwähnt hatte, stieß die Magusch an. »Gibt es denn niemanden mehr in dieser erbärmlichen Stadt, den wir kennen und dem wir trauen können? Vorzugsweise jemand, der wenigstens einen Funken Verstand hat.«

Aurian schloß die Augen und dachte angestrengt nach. Sie versuchte, sich an die Gesichter ehemaliger Freunde und Gefährten zu erinnern. So viele waren jetzt tot oder spurlos verschwunden. Einige mußten inzwischen auch schon recht alt sein … »Ich hab’s!« entfuhr es ihr. »Grince, hast du jemals von einem alten Soldaten namens Hargorn gehört? Ich nehme an, daß er sich aus dem aktiven Dienst zurückgezogen hat.«

Grinces Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Und ob ich den kenne!« sagte er. »Ihr werdet nie erraten, wa …«

»Gefahr!« Shia und Khanu brüllten dieses eine Wort der Warnung beinahe gleichzeitig. »Feinde greifen an!«

Dann zerriß die Luft plötzlich unter einem wilden Gebell, und zwei gewaltige Hunde stürzten in den Raum. Mit gezückten Schwertern folgte eine Horde Männer.

Beim ersten Anflug einer Bedrohung übernahmen Forrals alte Soldateninstinkte wieder das Kommando. Als sein Schwert aus der Scheide flog, vernahm er zu seiner gelinden Überraschung gleichzeitig das Geräusch von Aurians Klinge; es kam so schnell, daß das Klirren der beiden Waffen von einem einzigen Schwert hätte stammen können. Hinter ihnen flammte ein grelles Licht auf; Finbarr hatte einen sengenden Feuerball entzündet und hielt ihn bereit. Grince huschte davon und kauerte sich in die hinterste Ecke des Alkovens. In der Faust hielt er ein jämmerlich unzureichendes Messer, und sein Gesicht spiegelte panische Angst wider. »Laßt nicht zu, daß sie mich schnappen«, wimmerte er. »Lady, ich bitte dich – Pendral wird mir die Hände abschneiden …«

Forral fühlte sich leicht gekränkt, daß der Dieb sich hilfesuchend an Aurian gewandt hatte, statt an ihn. Wer war denn hier nun der Krieger?

»Sie werden dich nicht bekommen, Grince«, versicherte Aurian ihm. »Wir werden es nicht zulassen.«

Die Wachen, die nur einen einzigen kleinen, ziemlich schutzlosen Dieb erwartet hatten, sahen sich plötzlich drei Leuten gegenüber – die in ihren Augen allesamt wie bewaffnete und zornige Magusch aussahen. Im Gegensatz zu den Hunden, die, ihre Beute vor Augen, einfach weiterstürmten, blieben die Männer wie angewurzelt stehen.

Shia stürzte sich auf den Hund an der Spitze und warf ihn allein mit der Wucht ihres Sprungs zu Boden. Die beiden gewaltigen Geschöpfe rollten quer durch den Raum, kippten Bücherregale um und versprengten in einem Knäuel von Krallen, Fangzähnen und fliegendem Pelz zahllose kostbare Bücher – dann hatte Shia den Hund in die Enge getrieben. Sie sprang von einer Seite zur anderen, um das wild kläffende Geschöpf in Schach zu halten. Der andere Hund, der sich Auge in Auge mit dem fauchenden Khanu wiederfand, zog den Schwanz ein und entfloh. In seiner Panik riß er zwei Wachen um und zerrte den Hundeführer mehrere Meter hinter sich her, bevor der Mann seine Hand aus der Leine freibekam.

Nun trat der Anführer der Wache bleich und angsterfüllt vor. Forral erkannte ihn sofort – es war Rasvald, der als blutjunger Rekrut zur Garnison gekommen war. Später hatte man ihn frühzeitig entlassen – Parric hatte seinen Rauswurf damals höchst treffend begründet: »Solange er ein Loch in seinem Arsch hat, wird er niemals einen ordentlichen Soldaten abgeben.« Offensichtlich hatte Rasvald zu guter Letzt doch eine Möglichkeit gefunden, den Gegenbeweis anzutreten.

»Hm – meine Herren, Herrin«, stammelte der am ganzen Körper bebende Kommandant, »ich entschuldige mich für unser unerlaubtes Eindringen hier, aber unsere Befehle kommen von Pendral persönlich, dem Hohen Herrn der Stadt Nexis.«

Es beeindruckte Forral, wie es dem Burschen gelungen war, sich gleichzeitig zu entschuldigen und jemand anderem die Schuld in die Schuhe zu schieben – und dann fiel ihm wieder ein, daß Parric Rasvald einmal auch als »diesen schleimigen kleinen Bastard mit den zwei Gesichtern« bezeichnet hatte.

Der schleimige kleine Bastard mit den zwei Gesichtern sprach immer noch. »Die hohen Herrschaften waren sich wahrscheinlich nicht bewußt, daß sich ein Verbrecher in ihr – ähm – Heim eingeschlichen hat. Aber ihr braucht euch nicht selbst um die Angelegenheit zu kümmern, wir erledigen das schon. Ihr könnt mir glauben, wenn Lord Pendral mit diesem Ungeziefer fertig ist, wird er nicht mehr in der Verfassung sein, jemals wieder etwas zu stehlen …« Als er Aurians Miene sah, die bei seinen letzten Worten eiskalt geworden war, stockte Rasvald einen Augenblick lang, plärrte dann aber gleich weiter. »Ich bitte dich, Lady, sei nicht böse auf uns. Wir befolgen nur unsere Anweisungen – wir tun unsere Arbeit, könnte man sagen. Wir werden von hier verschwinden und nie wieder zurückkommen, das schwöre ich. Alles, was wir wollen, ist der Dieb …«

»Nun, genau den werdet ihr nicht kriegen«, sagte Aurian sehr deutlich und unmißverständlich, »daher möchte ich dir vorschlagen, deine Männer von hier wegzuführen, bevor jemand verletzt wird.«

»Lady, bitte – ich glaube, du verstehst nicht«, protestierte der Kommandant. »Wenn ich ohne den Dieb zurückkehre, wird Lord Pendral mich töten.«

Aurian blieb unbeeindruckt. »Er oder ich«, sagte sie gelassen. »Entscheide dich.«

Rasvald, der für einen Mann nicht besonders groß war, blickte zu der Magusch auf. Ihre Miene war steinern und bedrohlich, und in der unnachgiebigen Härte ihrer kalten, grauen Augen lag der Tod. Auf einmal erschien Rasvald die Aussicht auf Lord Pendrals Zorn weit weniger erschreckend als noch vor wenigen Minuten. Außerdem mußte ihm ja irgend jemand die Neuigkeit überbringen, daß die Magusch nach Nexis zurückgekehrt waren. Er hoffte nur, daß der Hohe Herr für diese Warnung so dankbar sein würde, daß er seinen Kommandanten verschonte.

»Lady, bitte vergib mir«, sagte Rasvald, nachdem er sich entschieden hatte. »Ich muß einen Fehler gemacht haben. Ich verstehe jetzt, daß dein Freund unmöglich der Mann sein kann, nach dem wir suchen. Mit deiner Erlaubnis führe ich meine Truppen jetzt wieder nach oben, damit wir unsere Durchsuchung der Stadt fortsetzen können.« Hinter ihm seufzten seine Soldaten erleichtert auf.

»Aber natürlich, Kommandant – tu das! Wir werden dich nicht aufhalten.«

Rasvald schauderte. Irgendwie war die hochmütige Freundlichkeit der Magusch noch beängstigender als ihre offene Feindseligkeit. Da er es nicht wagte, auch nur noch ein einziges Wort zu verlieren, deutete er eine Verbeugung an und führte seine Männer aus dem Raum – jedoch nicht ohne einen letzten giftigen Bück auf den Dieb zu werfen, der gerade sein Messer wegstecken wollte, aber kurz innehielt, um sich hinter dem Rücken der Magusch mit einer obszönen Geste von Pendrals Soldaten zu verabschieden.

Ich kriege dich schon, du unverschämter kleiner Bastard – auf die eine oder andere Art, dachte Rasvald. Du kannst dich nicht ewig hinter deinen Maguschfreunden verstecken. Die Sache ist für dich noch lange nicht ausgestanden.

Shia trat einen Schritt zurück, damit der Hundeführer seinen wilden Schützling anleinen konnte; dann drängten sich die Eindringlinge hastig hinaus auf den Korridor. Aurian plagten Gewissensbisse. Sie wußte sehr wohl, daß sie keinen einzigen dieser Männer zu Pendral hätte zurückkehren lassen dürfen. Sie würden ihm brühwarm erzählen, daß die Magusch wieder in der Stadt waren. In ihrem Kopf überschlugen sich die verschiedenen Lösungen für dieses Problem.

Ein Dutzend Soldaten, zwei große Hunde und ihre Führer – es waren zu viele, um sich im Falle eines Angriffs wirklich eines Erfolges sicher sein zu können. Mit Forral und den großen Katzen an ihrer Seite hatte Aurian, was den Ausgang des Kampfes betraf, kaum Zweifel, aber sie wußte, daß sie trotzdem ein gewisses Risiko eingehen würde. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie, Aurian, oder einer ihrer Kameraden schwere Verletzungen davontragen würden, war hoch – und am Ende gab es keine Garantie dafür, daß nicht einige der Feinde doch aus den Katakomben entkommen konnten.

Die Magusch wußte, daß sie den Todesgeist, von dem Finbarr besessen war, auf die Soldaten hätte loslassen können – aber vor dieser entsetzlichen Möglichkeit schreckte sie zurück. Es wäre auch möglich, die Männer aus der Zeit zu nehmen – sie konnte sich jedoch nicht mit allen gleichzeitig beschäftigen, und bevor sie mehr als eine Handvoll Soldaten überwältigt hätte, würde sich der Rest gegen sie wenden. Außerdem bestand auch dann noch die Möglichkeit, daß ihnen einer oder mehrere der Männer entkamen – und kein einziger durfte nach Nexis zurückkehren.

Also blieb ihr nur eine Möglichkeit – böse, finster und grauenhaft. Sie wußte, daß sie dafür einen hohen Preis würde zahlen müssen – aber was blieb ihr anderes übrig? Ich habe keine Wahl, dachte Aurian verzweifelt. Und sie würde schnell handeln müssen – es blieb ihr weder Zeit für Diskussionen noch für die Frage, welche Konsequenzen ihre Tat haben konnte. Sie nahm den Stab der Erde aus ihrem Gürtel, umfaßte ihn mit beiden Händen und rief, wie sie es so viele Male schon getan hatte, seine Mächte zu sich. Ihre Gedanken wanderten hinaus in das Labyrinth und suchten zwischen den gewundenen, miteinander verwobenen Tunneln die flüchtenden Soldaten. Als sie sie fand, stemmte die Magusch ihren ganzen Willen gegen das Felsengestein der Decke über ihnen und fand eine Schwachstelle in der Struktur des Steins. Ein winziger Riß genügte ihr, dann ließ sie die feinen Fäden ihrer Zauberkraft in den Felsen dringen und schlug mit der ganzen Kraft des Stabes zu.

Forral hörte das ferne Dröhnen und spürte dann die leichte Vibration, mit der die Erde unter seinen Füßen erbebte. »Was zum …?« Dann sank Aurian neben ihm zu Boden. Er brauchte nur einen einzigen Blick in ihr unglückliches Gesicht zu werfen und wußte sofort, was sie getan hatte.

Entsetzen packte ihn – Entsetzen und absolute Ungläubigkeit. Sie würde so etwas niemals tun – nicht seine Aurian. Sie war gar nicht in der Lage, ihre Magie zu benutzen, um ein Dutzend Männer kaltblütig zu ermorden … Aber sie hatte es getan. All diese Männer, einfache Soldaten wie er selbst, die nur Befehle ausgeführt hatten, lagen jetzt tot und begraben unter Tonnen von Gestein. Nicht in einem fairen Kampf getötet, sondern aus sicherer Entfernung mit Hilfe böser Magie.

Aurian lag wie ein Häufchen Elend auf dem Boden. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, als wolle sie sich vor ihrem eigenen grauenhaften Werk verstecken. Ihr Atem ging in ungleichmäßigen, schluchzenden Stößen, die wie ein Würgen klangen. Forral blickte auf sie hinab; seine Gefühle waren eine übelkeiterregende Mischung aus Abscheu und eisigem Zorn. Er konnte die Veränderung des jungen Mädchens, das er einst geliebt und gekannt hatte, weder glauben noch akzeptieren.

»Wie konntest du nur«, sagte er leise. »Wie konntest du nur.« Dann drehte er sich auf dem Absatz um und wandte sich von ihr ab.

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