32 Die Stadt der Drachen

Skua stand hoch oben auf einem Balkon, der sich um die ganze Länge eines der vielen Türme von Yinzes Tempel zog. Er beobachtete, wie die Sonne unterging, und lauschte dem Wind, der durch den grotesken Bau schrillte und jenes unheimliche Heulen produzierte, das als Incondors Klage bekannt war. Das zermürbende Geräusch war Musik in den Ohren des Hohenpriesters. Incondors Klage gehört mir, dachte er. Dieses Geräusch ist ein Teil von Aerilla, und jetzt gehört es mir – mir! – zusammen mit dem Rest der Stadt.

Die letzten Strahlen der Herbstsonne verschwanden hinter den Bergen, und das goldene Licht hüllte die zahllosen Türme und Türmchen Aerillas ein. Skua warf einen letzten Blick auf sein Reich. Jetzt, da die Magusch fort war, konnte er es wahrhaft sein eigen nennen. Die Stadt der Geflügelten war kaum von Bedeutung für Eliseth – jetzt, da sie und Sonnenfeder Dhiammara eingenommen hatten, würden sie gewiß nichts dagegen haben, Aerilla ihm, Skua, zu überlassen.

Skua seufzte glücklich. Sein ganzes Leben lang war er ein frommer und treuer Diener Yinzes gewesen, und endlich hatte sein Gott ihm seinen geziemenden Lohn gegeben. Wie viele Jahre er auf diesen Augenblick gewartet hatte! Er hatte als Schüler dem habgierigen und machtsüchtigen Schwarzkralle geduldig gedient und sich später mit den Launen, dem Wankelmut und dem Mißtrauen des unerfahrenen Kindes abgegeben, das den Thron bestiegen hatte. Von Zeit zu Zeit plagte ihn für einen Moment das Gewissen – immerhin hatte er seine Königin verraten –, aber er tröstete sich stets mit dem Gedanken, daß er die verlorenen und gottlosen Bürger Aerillas wieder auf den wahren Weg Yinzes zurückführte. Schon formulierte er im Geiste eine Reihe neuer, strenger Gesetze, um seine Herde vor Sünde zu bewahren – war es nicht besser, ihre Körper zu bestrafen und ihre Seelen zu retten? Skua schauderte, als ein scharfer, eisiger Wind von Norden aufkam. Seltsam, dachte er. Das Wetter scheint sich zu ändern. Vielleicht sollte ich hineingehen …

Als Skua um die Biegung des Balkons trat, bemerkte er in weiter Ferne eine gewaltige schwarze Wolke, die mit unheimlicher Geschwindigkeit von Norden heranzog. Nun, dachte er, das erklärt auf jeden Fall diese unnatürliche Kälte – sieht so aus, als stünde uns ein schweres Unwetter bevor. Aber nicht einmal der nahende Sturm konnte seinen Jubel dämpfen. Aerilla hatte schon früher Unwettern standgehalten, beruhigte er sich. Ich bin sicher, die Stadt wird damit fertig.

Wieder kam dieser Wind auf, der so feucht und übelriechend war wie der Luftzug aus einem offenen Grab. Ein Schauder des Unbehagens durchlief die Gestalt des Hohenpriesters, aber er sagte sich, daß wohl seine Phantasie mit ihm durchgehen müsse. Was konnte nun noch schiefgehen? Yinze würde niemals zulassen, daß seinem bevorzugten Diener etwas zustieß. Aus der Stadt unter ihm ertönte das Donnern vieler Flügel, als die Leute in Panik gerieten und scharenweise die Stadt verließen, um Richtung Süden zu fliehen. Narren, dachte Skua. Dieser Sturm wird sie mitten in der Luft erwischen …

Die gewaltige schwarze Wolke wurde von Sekunde zu Sekunde größer, erstreckte sich, fast über den ganzen Himmel … Obwohl Skua mittlerweile begriffen hatte, daß dies kein natürliches Phänomen sein konnte, blieb er, wo er war, gelähmt vor Entsetzen, wie ein Vogel, den der funkelnde Blick einer Schlange in seinem Bann hielt; maßlos entsetzt in dem Wissen, daß Yinze ihn doch verraten hatte, genauso wie Skua seine Königin verraten hatte. Als die Nihilim sich wie ein großer schwarzer Umhang über Aerilla legten und zu fressen begannen, stand Skua immer noch reglos hoch oben auf seinem Turm.

Aurian und ihre Gefährten mußten zwei Nächte lang fliegen, um den Wald am Rand der Juwelenwüste zu erreichen. Sie waren so sehr in Eile, daß sie unterwegs kaum Zeit erübrigen konnten, um auch nur auf die Jagd zu gehen. Obwohl der anstrengende Flug Aurian genauso erschöpft hatte wie Linnet und die Xandim, mußte die Magusch doch immer wieder daran denken, wie lange sie seinerzeit gebraucht hatte, um eben diese Berge zu überqueren. Damals war sie zu Fuß unterwegs gewesen, zusammen mit Eliizar, Nereni und den anderen. Als sie eine Weile später über den Wald flog und nach den Resten der Siedlung suchte, verdrängte der Zorn über das Schicksal ihrer armen Freunde alle anderen Gedanken. Chiamh hatte ihr erzählt, was er von Eliseths Angriff auf die Waldgemeinschaft erfahren hatte. Wenn Nereni und Eliizar noch lebten, fristeten sie jetzt ihr Dasein als Sklaven in Aerilla – und was war aus dem letzten geheimen Geschenk der Magusch an ihre beiden Gefährten von einst geworden? Aurian hatte ihre Heilkräfte benutzt, um ihnen endlich doch noch zu dem lang ersehnten Kind zu verhelfen – aber was war aus ihm geworden? War es sicher zur Welt gekommen? Hatte es Eliseths verräterischen Überfall überlebt? Wenn ihnen etwas zugestoßen war … Aurian knirschte mit den Zähnen und krampfte ihre Finger so fest um Chiamhs lange schwarze Mähne, daß er protestierend wieherte.

Wenn Eliseth die Überreste der Kolonie als Stützpunkt benutzte, würde er gewiß bewacht sein. Die Gefährten der Magusch versteckten sich schließlich am Nordostrand des Waldes, ein gutes Stück entfernt von der Menschenkolonie Zithra und auch von der Siedlung der Geflügelten, Eyrie, hoch oben in den Hügeln im Nordwesten. Aurian und das Windauge verließen ihre Körper und flogen in der dunkelsten Stunde der Nacht auf den Winden hinüber, um herauszufinden, was dort vorging. Als die Sonne am Himmel aufstieg, entdeckten sie endlich die großen gerodeten Bereiche im Wald und sahen Häuser und bestellte Felder unter sich. Aurian stieß einen leisen Huch aus. Da unten wimmelte es nur so von Geflügelten!

»Gut«, sagte Chiamh mit Entschlossenheit. Auch wenn sie außerhalb ihrer Körper waren und sich mit Hilfe der Gedankenrede verständigten, sprach er trotzdem mit leiser Stimme. »Das wird uns Gelegenheit geben, unsere Schilde auf die Probe zu stellen, bevor wir nach Dhiammara kommen.«

»Du versuchst, die Sache von der positiven Seite zu sehen, wie?« bemerkte Aurian trocken. »Hm, wahrscheinlich hast du recht. Mir gefällt der Gedanke nicht, einen Feind in meinem Rücken zu wissen, aber was können wir sonst tun?«

»Wenn du den Kopf abschlägst, wird auch der Rest der Schlange sterben«, beruhigte Chiamh die Magusch. »Eliseth hat die rechtmäßige Königin der Geflügelten gefangengenommen, erinnerst du dich? Sobald wir Rabe befreit und von ihren Feinden weggeholt haben, werden diese Himmelsleute hier ziemlich schnell die Seiten wechseln – hoffe ich jedenfalls. In der Zwischenzeit sollten wir ruhig die Gelegenheit nutzen, uns hier einmal gründlich umzusehen«, fügte er hinzu. »Nur für den Fall, daß diese Krieger später doch beschließen sollten, sich nicht auf unsere Seite zu stellen. Dann wird es gut sein, genau zu wissen, womit wir es zu tun haben.«

Eine Zeitlang beobachteten sie die Geflügelten, die eifrig bei der Arbeit waren; sie ordneten, stapelten und verpackten alles, was sich in den Lagerräumen der Kolonie befand, in Säcke und Netze. Eliizars Gemeinschaft hatte in diesem Jahr eine gute Ernte gehabt, und Aurian und Chiamh warfen sehnsüchtige Blicke auf die saftigen Früchte, das Gemüse, das Korn und das getrocknete Fleisch, das man ihnen da vor die Nase hielt. Aurian seufzte. »Ich wünschte, wir könnten in dieser körperlosen Gestalt lange Finger machen.«

»Wart’s ab«, sagte Chiamh. »Es dauert nicht mehr lange, dann werden wir in Aerilla ein Festmahl abhalten.«

»Ich weiß, daß du in deiner Pferdegestalt unglaublich schnell fliegen kannst, aber so schnell wie auf den Winden werden wir wohl nicht hinkommen«, wandte Aurian ein. »Und es wird ganz sicher länger als eine Nacht dauern, um durch die Wüste zu kommen. Wir können schon von Glück sagen, wenn wir es in dreien schaffen.«

»Keine Sorge, wir werden das schon schaffen«, tröstete Chiamh sie.

»Der Flug dorthin würde uns sicher sehr viel leichter fallen, wenn wir etwas von dem Essen da unten mitnähmen und einige zusätzliche Umhänge und Decken, um uns vor dem grellen Licht der Wüstentage zu schützen.«

Als Aurian und das Windauge zu den anderen zurückkehrten und Bericht erstatteten, meldete Linnet sich sofort zu Wort. »Wir müssen nicht ohne die Sachen losziehen. Ich kann hinfliegen und uns holen, was wir brauchen. Ich werde einfach behaupten, ich wäre gerade aus Aerilla gekommen; niemand wird etwas merken.«

Langsam breitete sich ein vergnügtes Lächeln auf den Zügen der Magusch aus. »Was – du willst da einfach reingehen, das Essen holen und wieder verschwinden? Einfach so?«

»Nein.« Linnet schüttelte den Kopf. »Nein, so ein Unschuldslamm bin ich nun auch wieder nicht, Lady. Ich bezweifle, daß es so einfach sein wird. Aber ich glaube, es ist möglich.«

Aurian nickte nachdenklich. »Ich denke, du hast recht.«

»Laß mich auch mitgehen«, mischte Wolf sich mit Feuereifer in das Gespräch der anderen ein. »Niemand würde einen Wolf verdächtigen …«

»Sehr richtig«, sagte Forral lakonisch. »Sie würden einfach einen Bogen spannen und ihn erschießen. Das ist hier nicht Eilins Tal, Wolf. Du bleibst, wo du bist.«

Widerstrebend und mit einem schmollenden Jaulen fügte Wolf sich in sein Schicksal.

»Du brauchst nicht einmal darüber nachzudenken«, fuhr Forral entschlossen fort. »Ich werde dich wie ein Falke im Auge behalten, mein Junge. Du gehst nirgendwo hin.«

Etwas später am selben Tag, nachdem sie sich ausgeruht hatte, badete Linnet in einem eiskalten Bergfluß. Sie wollte möglichst adrett aussehen. Dann flog sie Richtung Zithra los, und die Hoffnungen und die guten Wünsche ihrer Gefährten begleiteten sie.

Dem geflügelten Mädchen war ein wenig flau im Magen, ein Gefühl, das teils von Nervosität, teils von Erregung rührte. Linnet wußte nur allzugut, wieviel von ihr abhing – und wie groß die Gefahr war, in die sie sich begab. Sie mußte sehr vorsichtig sein und durfte sich auf keinen Fall entlarven lassen.

Als sie am Rand der Siedlung ankam, wurde Linnet mitten in der Luft aufgehalten.

»He! Du da! Wo willst du hin? Wer bist du überhaupt!«

Das geflügelte Mädchen sah sich um und erblickte zwei bewaffnete Wachposten, die von den Bäumen auf dem Hügel zu ihr heraufschossen. Aus Respekt vor den Armbrüsten, die sie bei sich trugen, setzte Linnet augenblicklich auf einer Lichtung zur Landung an. Sobald sie den Boden berührt hatte, kamen die Wachen auf sie zu. »Woher kommst du?« wollte einer von ihnen wissen. »Ich habe dich noch nie gesehen.«

»Ach nein?« antwortete Linnet keck. »Dann hast du nicht richtig hingeschaut. Ich war oben in Eyrie und habe da saubergemacht. Sie haben mich hergeschickt, um hier auszuhelfen.«

»Wo ist deine Uniform?« fragte der andere Wachposten. »Du siehst aus wie der Inhalt einer Lumpentasche.«

Linnet lachte. »Das liegt bloß an meinen Kleidern. Ich hatte gestern einen Unfall; ein Sack mit verfaultem Obst ist direkt über mir auseinandergeplatzt. Sie haben mich mit irgendwelchen Sachen ausgestattet, die sie in Eyrie finden konnten, während meine Ausrüstung gesäubert wurde – der Gestank war unglaublich.«

Einer der Wachposten lachte. »Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte er. »Na schön, Mädchen. Dann flieg mal runter zur Siedlung – die werden da unten sicher genug Arbeit für dich haben. Und paß auf, daß du nicht noch mehr Obstsäcke platzen läßt«, rief er hinter ihr her.

Ermattet vor Erleichterung schwebte Linnet zu der Hauptsiedlung im Tal hinunter, wo sie einen geflügelten Hauptmann entdeckte, der für die Nahrungsmittel zuständig war. Dem erzählte sie ihre Geschichte noch einmal. Der Hauptmann, der alle Hände voll zu tun hatte, stellte ihr nicht einmal irgendwelche Fragen – er war nur allzu dankbar für ein zusätzliches Paar Hände. Schon bald war das geflügelte Mädchen Teil einer Arbeiterkolonne, die Nahrungsmittel für den Transport nach Dhiammara in Säcken verstaute.

Es war nicht weiter schwierig, zwei der Säcke zu stehlen – einen mit Käse und einen mit getrocknetem Heisch – und dazu noch zwei große, gewachste Felle, in denen man Wasser tragen konnte. Linnet »verlor« die Säcke einfach und ließ sie in einer dunklen, wenig beachteten Ecke einer baufälligen Veranda vor einem der Häuser liegen. Neben dem Bündel alter Decken, die sie aus einem der Gebäude stibitzt hatte, konnte sie mehr einfach nicht tragen. Weit schwieriger war es dagegen, sich von der Arbeitskolonne wegzuschleichen, aber Linnet wählte den Zeitpunkt mit großer Sorgfalt. Sie stahl sich zwischen den Häusern hindurch und kehrte auf Umwegen zu ihrer kostbaren Beute zurück. Dann verteilte sie ihre Lasten so gut wie möglich an ihrem Körper und band sie mit einem Seil fest. Schließlich sah sie sich verstohlen um, um sicherzugehen, daß niemand sie beobachtete. Einen Augenblick später erhob sie sich in die Luft, flog ganz tief zwischen den Bäumen hindurch und mied den offenen Himmel, wo man sie leicht hätte entdecken können.

Es mußte natürlich an einer Stelle geschehen, wo die Tarnung durch die Bäume dünn war, aber zumindest war das Geräusch fremder Hügel ihr Warnung genug Linnet blickte hinab und erkannte in der Ferne eine Patrouille geflügelter Krieger, die auf sie zukamen. Einen Augenblick lang setzte ihr Herzschlag aus. Man hatte ihren Diebstahl entdeckt und verfolgte sie! Da erst wurde ihr klar, daß die Patrouille aus Eyrie kam – aus der falschen Richtung. »Idiotin!« beschimpfte sie sich. Trotzdem würde es gewiß sehr peinliche Fragen geben wenn sie sich nicht rechtzeitig in Deckung brachte. Gehetzt sah Linnet sich um – dann bemerkte sie zwischen den Bäumen zu ihrer Rechten das Glitzern grauen Steins. Ein Gebäude? Hier, so weit jenseits der Siedlung? Yinzes sei gedankt für ein Wunder!

Das Haus war eine ausgebrannte Ruine, aber unter den Trümmern ließen sich trotzdem jede Menge Verstecke finden. Linnet glitt in eine Nische hinter einer Reihe von eingeknickten Balken, die einander irgendwie abstützten, so daß sie nicht zu Boden fielen. Das geflügelte Mädchen hockte sich in die rußige, nach Rauch stinkende Dunkelheit und lauschte konzentriert, bis das Geräusch der Flügel am Himmel über ihr nicht mehr zu hören war.

Als Linnet sich aus ihrem engen Refugium herauswand und mit einem Seufzer der Erleichterung ihre schmutzigen Flügel straffte, dämmerte es bereits.

»Keine Bewegung, oder ich schieße!«

Leise fluchend versteifte sich das geflügelte Mädchen. Nicht jetzt noch, wo sie so nah dran war …

»Stell die Taschen ab und komm näher!«

Plötzlich bemerkte Linnet, daß die Stimme furchtbar jung klang … Sie bückte sich, als wolle sie die Taschen von den Schultern streifen, streckte hastig die Hand aus und nahm einen Stein aus den Trümmern; dann drehte sie sich um und schleuderte ihn mit aller Macht in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Es folgte ein Schmerzensschrei, und ein Pfeil sirrte harmlos an ihrem linken Ohr vorbei, um klappernd auf dem Boden liegen zu bleiben – und als Linnet sich vollends umdrehte, sah sie zwei verängstigte Kinder in der Dunkelheit hocken.

Aurian betrachtete die beiden jungen Geschöpfe und konnte es immer noch nicht fassen, daß dieses hübsche junge Mädchen das Kind war, das sie Nereni zu empfangen geholfen hatte. »Ich bin wirklich erstaunt, daß ihr beide überlebt habt«, sagte sie. »Ihr hattet unglaubliches Glück, daß ihr nicht in diesem Keller erstickt seid, als der Rest des Hauses über euch abbrannte.«

»Es war der Weinkeller«, erklärte der geflügelte Junge. »Er war gut belüftet. Es kam die ganze Zeit über Luft von draußen rein.«

Aurian hörte ihnen kaum zu. Sie erinnerte sich an Habichts Vater, Sturmvogel, und fragte sich, ob er wohl den Angriff überlebt hatte.

»Aber es war furchtbar schwer, etwas zu essen zu bekommen«, fügte Amahli hinzu. »Wir konnten nur bei Dunkelheit hinausgehen und in den Wäldern Nahrung suchen …«

»Ich bin froh, daß du gekommen bist.« Mit einemmal hatte Habicht seine Maske vorgetäuschter Reife fallengelassen. »Wir hätten ja nicht ewig dort bleiben können, aber ich wußte einfach nicht, was ich sonst hätte tun sollen oder wo ich hätte hingehen können.«

Die Magusch wünschte, sie könnte auch so ohne weiteres einem anderen die Verantwortung für alles überlassen. Traurigerweise war ihr das seit Jahren nicht mehr gelungen, und wahrscheinlich würde es ihr auch in Zukunft nicht mehr vergönnt sein.

»Lady«, riß Linnet sie mit eindringlichem Tonfall aus ihren Tagträumen. »Sie werden mich gewiß bald vermissen, die Leute da unten in der Siedlung. Wir sollten aufbrechen, bevor sie den Wald nach mir durchkämmen.

Und wir können auch die beiden Kinder unmöglich hier zurücklassen.«

»Du willst sie Heber geradewegs in eine Schlacht mitnehmen?« fragte Aurian sie gereizt – aber sie wußte, daß das geflügelte Mädchen recht hatte. »Na schön«, sagte sie. »Es ist bereits dunkel genug, um die Durchquerung der Wüste in Angriff zu nehmen, also los. Amahli – du reitest hinter Forral auf Schiannaths Rücken. Habicht – kannst du die Strecke fliegen?«

Der dunkelhaarige Junge grinste. »Keine Sorge, Lady. Nach den letzten Tagen in dem engen Versteck freue ich mich geradezu darauf, die Flügel auszustrecken.«

Als alle auf den Pferden saßen und die Lasten verteilt waren, sprang Aurian auf Chiamhs Rücken und half Grince, hinter ihr aufzusteigen. »So ist´s recht, mein Freund«, murmelte sie dem Windauge ins Ohr. »Und jetzt – auf in den Kampf!«

Die Magusch spürte, wie Chiamhs Geist mit dem ihren verschmolz, während sie in einer Mischung der Magie gemeinsam ihre Schilde aufrichteten. Aurian benutzte die Hohe Magie des Stabs, um sie vor magischen Blicken mittels Hellseherei zu schützen. Außerdem schirmte die Magie sie und ihre Gefährten auf eine Art und Weise ab, die es dem Spion, wer er auch sein mochte, unmöglich machte, Eliseth irgendwelche Botschaften bezüglich ihres Aufenthaltsortes und ihrer Pläne zu übermitteln. Chiamh seinerseits schützte ihren kleinen Trupp vor gewöhnlichen Blicken, indem er eine Abwandlung seines Illusionszaubers benutzte, die sie unsichtbar erscheinen ließ. Er brauchte einen Gutteil seiner Konzentration, um die Illusion aufrechtzuerhalten, aber das Phantasiegebilde funktionierte tadellos, wie Aurian an jenem Tag im Wald selbst festgestellt hatte.

Als sie in den immer dunkler werdenden Nachthimmel aufstiegen und Richtung Wüste losritten, spürte die Magusch – ob mit oder ohne Talisman – ihre zusätzlichen Lasten. Sie trug nicht nur Wasser und Nahrungsmittel bei sich, sondern mußte auch auf Amahli achtgeben; dazu kam die ganz andere Art der Anstrengung, die mit der Aufrechterhaltung ihres magischen Schildes zusammenhing. Sie wußte, daß Chiamh in einer ähnlichen Lage sein mußte, und konnte nur hoffen, daß ihre Kräfte lange genug reichen würden, um sie nach Dhiammara zu bringen und dort ihre Aufgabe zu erfüllen. Die nächsten Tage würden alles entscheiden.

»He – zwei von den Pferden haben sich befreit!« Der Khazalimsoldat, der am Eingang der Höhle Wache stand, wollte seinen Augen nicht trauen, obwohl er dankbar für die Abwechslung war, die die Monotonie seiner Wache durchbrach. »Komm und hilf mir«, brüllte er der zweiten Wache zu. Gemeinsam gelang es ihnen, die Pferde zusammenzutreiben, die in der Nähe des Höhleneingangs umherliefen. Die recht fügsamen Geschöpfe ließen sich zu den eingezäunten Weiden zurückführen. Während die Wachen mit den Pferden beschäftigt waren, kehrten sie dem Höhleneingang den Rücken zu und bemerkten so die beiden anmutigen Katzen nicht, die sich lautlos in die riesige, nur spärlich von Fackeln beleuchtete Höhle stahlen.

»Beim Schnitter! Diese elenden Soldaten«, brummte’ der Wachposten, während er die Tiere wieder festmachte. »Einige von ihnen sind furchtbar oberflächlich. Wahrhaftig, diese armen Geschöpfe wären vielleicht noch bei Sonnenaufgang draußen herumgestrichen, und das wäre gewiß ihr Ende gewesen – und dabei sind es so schöne Tiere«, fügte er hinzu, während er über den Hals der weißen Stute strich, die die Nase an seiner Tasche rieb, um sich einen Leckerbissen zu ergaunern. »Wenn ich so ein Pferd hätte, würde ich jedenfalls besser drauf aufpassen.«

»Beeil dich«, knurrte sein Partner, der offensichtlich weniger für Pferde übrig hatte. »Wenn der Hauptmann feststellt, daß wir uns von unserem Posten entfernt haben, wird er uns bei lebendigem Leib die Haut abziehen.«

»Aber kannst du mir vielleicht verraten, warum? Die Gefangenen sind alle in ihrem Verlies, und wer würde schon bei einer Durchquerung dieser verfluchten Wüste sein Leben aufs Spiel setzen, um ausgerechnet hierherzukommen? Wir sind hier doch wahrhaftig mitten im Nirgendwo …« Die Männerstimmen entfernten sich und waren schließlich nicht mehr zu hören. Als sie verschwunden waren, spie die weiße Stute einen Schlüsselbund auf den Sand. Dann verschwammen die Umrisse beider Tiere, schimmerten kurz auf – und einen Augenblick später standen Iscalda und Schiannath an ihrer Stelle. Hinter den echten Pferden vor neugierigen Blicken geschützt, hoben sie die Schlüssel auf, die Iscalda aus der Tasche des Wachpostens gestohlen hatte, und verschmolzen mit den Schatten am anderen Ende der Höhle, wobei sie sich sorgsam vom Lager der Soldaten am oberen Teich fernhielten. In der Nähe der Sklavenunterkünfte, die um den Teich auf der unteren Ebene herum erbaut worden waren, trafen sie auf die beiden großen Katzen.

Eliizar konnte nicht mehr schlafen. Ganz gleich, wie hart man die Sklaven tagsüber schuften ließ, der Schwertmeister fand keine Ruhe. Auch wenn er einen ganzen Tag lang dabei geholfen hatte, die juwelengeschmückten Gebäude der Stadt oben von Schutt zu befreien und wieder instand zu setzen, kehrte er des Abends schweigend in das Sklavenquartier zurück, nahm sich sein Abendessen und verbrachte die Stunden, in denen er sich hätte ausruhen sollen, indem er ins Leere starrte und an seine Tochter dachte. Mit Nereni sprach er kaum noch. Zuerst war sie voller Mitleid gewesen, dann hatte sie sich Sorgen um ihn gemacht, und schließlich war sie zornig geworden, aber nichts, was sie sagte, spielte für Eliizar noch eine Rolle. Die Gegenwart war so unerträglich für ihn, daß er Heber seine ganze Zeit darauf verwandte, durch die sonnenhellen Nachmittage der Vergangenheit zu streifen.

»Eliizar? Eliizar!« Jemand, der mit einem zischenden Flüstern seinen Namen rief, riß den Schwertmeister aus seinen Tagträumen. Als dieser endlich aufbückte, sah er jenseits der Gitterstäbe ein vertrautes Gesicht.

»Schiannath?«

»Pst! Hör zu, Eliizar – und um der Göttin willen verhalte dich ruhig! Aurian ist hier. Wir werden euch befreien und in diesen unteren Höhlen für Aufruhr sorgen. Hier sind die Schlüssel …« Schiannath reichte ihm den Schlüsselbund, der noch warm von seiner Hand und aus irgendeinem Grund auch ein wenig feucht und klebrig war. »Also«, fuhr er fort, »ich möchte, daß du dich von einem zum anderen schleichst und allen Geflügelten die Fesseln aufschließt, bevor wir irgend etwas anderes unternehmen. Und was du auch tust, sorg dafür, daß die Leute nicht in Aufregung geraten. Wenn wir zu diesem Zeitpunkt die Wachen wecken, sind wir verloren.«

Eliizar nickte; sein Herz hämmerte vor Erregung. Gerade als er sich zum Gehen wenden wollte, streckte der Xandimkrieger jedoch noch einmal die Hand durch die Gitterstäbe und hielt ihn am Ärmel fest. »Oh – fast hätte ich es vergessen«, flüsterte er. »Wir haben deine Tochter in der Siedlung gefunden. Sie lebt!« Dann verschmolz er wieder mit den Schatten und ließ den sprachlosen Schwertmeister allein. Während ihm nach und nach die Bedeutung von Schiannaths Worten aufging, öffnete sich Eliizars Herz, das so lange Zeit in Trauer verschlossen gewesen war, wie eine Blume. Tränen der Freude und Dankbarkeit trübten die Sicht seines einen gesunden Auges. »Danke«, flüsterte er. »O danke!« In diesem Augenblick hatte er keine Ahnung, mit wem er sprach; aber die Worte kamen ihm dennoch von Herzen.

Rabe saß mit ihrem Sohn auf dem Schoß und ihrer kleinen Tochter im Arm da und wiegte geistesabwesend ihre beiden schlafenden Kinder. Sie erfreute sich an ihrem Anblick und war froh über die Hilfe und Freundschaft Nerenis, die ihr nicht von der Seite wich. Wie durch ein Wunder lebte Aguila immer noch, aber er war tiefer und tiefer in einen Zustand der Apathie und der Erstarrung gesunken, so daß Rabe allmählich die Hoffnung aufgegeben hatte, daß er jemals wieder erwachen würde. Jetzt schien er zwischen zwei Welten zu existieren; nur noch durch einen hauchdünnen Faden mit dem Leben verbunden, war er irgendwie von der halsstarrigen Entschlossenheit beseelt, die Endgültigkeit des Todes noch nicht zu akzeptieren.

Während sie Wache hielt, mußte Rabe immer häufiger an ihre Jugendtage denken – daran, wie Aguila sie in ihren ersten einsamen Tagen als Königin aufgeheitert hatte, obwohl sie ihn bei ihrer ersten Begegnung wie einen gewöhnlichen, ungehobelten Soldaten behandelt hätte. Das hatte sich erst geändert, als die gute Elster ihr den Kopf zurechtgesetzt und ihr den Rat gegeben hatte, ihn zu heiraten. Rabe rief sich noch einmal den lächerlichen Ausdruck schockierter Ungläubigkeit auf seinem Gesicht ins Gedächtnis, als sie ihn gebeten hatte, sie zu heiraten. Auf ihren tränenbenetzten Zügen breitete sich ein zärtliches Lächeln aus. »O Aguila – werde bloß gesund, du Idiot. Bitte, komm zu mir zurück, bitte …« So sehr war sie in ihre Gebete und Erinnerungen vertieft, daß sie die verstohlene Bewegung und das Summen gedämpfter Erregung um sie herum überhaupt nicht wahrnahm. Das erste, was sie sah, war Eliizar, der übers ganze Gesicht strahlte und ihr einen Schlüsselbund hinhielt. Er blickte jedoch direkt durch sie hindurch – er hatte nur Augen für seine Frau. »Nereni, Nereni«, flüsterte er überglücklich. »Amahli lebt!«

Eliizar kehrte zu Schiannath zurück. »Und was jetzt?« flüsterte er. Schiannaths Grinsen bützte weiß in der Dunkelheit auf. »Jetzt werden wir, was eure Wachen betrifft, den Spieß herumdrehen«, flüsterte er. »Tot oder gefangen ist mir egal – aber nicht einer, hörst du, nicht ein einziger unserer Feinde darf uns entkommen, um die Leute oben zu warnen. Sag es auch den anderen. Ich werde jetzt die Tore öffnen. Sag ihnen, sie sollen auf mein Zeichen warten – und dann rauskommen und kämpfen.«

Während die turmhohen Sturmwolken den letzten Rest des Mondlichts verschlangen, das auf die Drachenstadt fiel, ging Eliseth auf der luftigen Beobachtungsplattform hoch oben auf Dhiammaras höchstem Turm auf und ab. Sie wurde ihrer Rastlosigkeit einfach nicht mehr Herr. »Wo ist sie nur?« murmelte sie. »Aurian muß bald hier sein.«

Es konnte einen wahnsinnig machen. Seit drei Tagen war die Magusch nun blind und taub gewesen, was Aurians Aufenthaltsort betraf. Gerade als das elende Weibsbild Richtung Wüste nach Süden aufgebrochen war und Eliseth ihre Feindin unbedingt genau im Auge behalten mußte – ausgerechnet da hatte sie den Kontakt zu ihrem Spion verloren. Jedesmal wenn sie versuchte sich in Vannors Gedanken breitzumachen, traf sie auf eine harte, leere, reflektierende Fläche, die ihrem tastenden Willen nicht nachgab. »Aber das Miststück ist unterwegs«, zischte Eliseth. »Ich weiß es einfach.« Sie hatte bereits ihre Patrouillen, die den Himmel um den Berg herum abflogen, verdoppelt, und die Khazalimsoldaten, die die unteren Korridore bemannten, waren in Alarmzustand versetzt worden. Der Gral und das Schwert lagen in einem sicheren Versteck, und gerade eben hatte Eliseth ihre letzte Verteidigungsmaßnahme vollendet – die Vorbereitungen zu einem Sturm über der Stadt, den sie jederzeit entfesseln konnte. Das alles mußte doch genügen?

»Es ist viel Zeit vergangen, Eliseth – ich habe dieser Begegnung entgegengefiebert!«

Mit einem unartikulierten Aufschrei wirbelte die Magusch herum, um festzustellen, woher die Stimme ihrer Feindin kam. Es war niemand auf dem Dach, aber dort – da unten zwischen den Gebäuden der Stadt –, stand da nicht eine hochgewachsene, vertraute Gestalt mit flammendem Haar? Alle Flüche der Dämonen mochten sie treffen! Sie kam tatsächlich auf den Smaragdturm zu!

In wilder Hast fuchtelte Eliseth mit den Armen und versuchte, die Aufmerksamkeit der Wachen zu erregen, die sie um den Rand des Kraters postiert hatte. »Hallo!« schrie sie. »Seid ihr blind, ihr Narren? Aurian ist hier! Warum habt ihr sie durchgelassen?« Sie lief bis zum Rand des Dachs vor und stürzte dann Hals über Kopf die Wendeltreppe hinunter. Aber sie mußte vorsichtig sein, denn es gab kein Treppengeländer, das sie davor bewahren konnte, in den Tod zu stürzen, falls sie einen falschen Schritt tat. Daher kam Eliseth nur qualvoll langsam voran, und als sie endlich unten in der Stadt ankam, war ihre Feindin verschwunden.

Der Kampf in der großen Höhle war kurz, aber blutig. Die Siedler beider Rassen, Geflügelte wie Menschen, dürsteten danach, ihre Toten zu rächen und die Zer- Störung all ihrer Träume zu vergelten. Als die Khazalim erwachten, waren ihre Wachposten verschwunden, ihre Waffen gestohlen und die Ausgänge der Höhle versperrt: Der Höhleneingang wurde auf der Außenseite von zwei Schwarzen Dämonen bewacht, die an Wildheit nicht zu übertreffen waren. Es gab noch einen, erst jüngst in den Berg gehauenen Zugang, der nach oben zur Stadt führte – eine Alternative zu den merkwürdigen kristallinen Transportwegen des Drachenvolkes –, aber dieser wurde von zwei seltsamen, nördlichen Kriegern bewacht, einem Mann und einer Frau. Es dauerte nicht lange, da trat der Sklave zu ihnen, der der Rebellenführer gewesen war – der Mann, der den Gerüchten zufolge den großen Schwertkämpfer Xiang getötet haben sollte. Niemand wagte es, sich ihm jetzt, da er frei war, in den Weg zu stellen.

Gut die Hälfte der Krieger aus dem Süden hatte überlebt: größtenteils jene, die die Aussichtslosigkeit ihrer Gegenwehr begriffen hatten. Sie waren jetzt in denselben Verliesen eingesperrt, die sie zuvor bewacht hatten, und mußten sich mit der Tatsache abfinden, daß ihre eigene Faulheit und Unachtsamkeit sie dorthin gebracht hatte.

Als die Höhle gesichert war, wurden erst Aguila und die übrigen verwundeten Siedler behutsam fortgetragen, bevor man die Feinde in eben jenen Räumen einsperrte. Man brachte die Verwundeten in dem Lager nahe des oberen Teichs unter, dann versammelten sich auch die Anführer dort, um ihre Pläne zu schmieden.

»Was jetzt?« fragte Sturmvogel Schiannath. Genauso wie Eliizar und Nereni waren der geflügelte Mann und seine Gefährtin Feuerhaube außer sich vor Freude über die Nachricht von der wunderbaren Rettung ihres Sohnes.

»Jetzt ziehen wir hinauf zur Stadt«, sagte der Xandim. »Aurian meinte, es gäbe einen geheimen Weg nach oben; sie sagte etwas von einem Kristall, was ich nicht recht verstehen konnte, aber wenn Eliseth die Khazalim in dieser Höhle postiert hat, muß sie davon gewußt haben …«

»Das glaube ich nicht«, meldete Nereni sich zu Wort. »Nach allem, was wir mit angehört haben, dachte sie, die Höhle verfüge über keinerlei Verbindung mit den Räumen im Berg – in diese Räume ist sie stets von oben gelangt. Deshalb hat sie uns ja einen Weg zu den unteren Ebenen der Räume graben lassen – so wollte sie, wenn alles andere schiefging, ihren eigenen Eingang schaffen. Früher gab es hier zwei Transportkristalle«, fügte sie strahlend hinzu. Eliizars Lächeln schmolz inzwischen dahin. »Wir haben die Kristalle nicht betreten, aber Shia hat es getan.« Die kleine Frau runzelte die Stirn und versuchte angestrengt, sich an jenen fernen Tag zu erinnern. »Da war ein Kristall neben dem Teich«, plapperte sie schließlich wohlgelaunt weiter. »Hör endlich auf, mich anzustoßen, Eliizar, du weißt, wie schnell ich blaue Flecken bekomme! Jedenfalls – diese Katze ist nicht den ganzen Weg gegangen, und es muß ziemlich furchtbar gewesen sein, nach allem, was Aurian erzählt hat. Mit lauter Abgründen und unsichtbaren Brücken und so weiter. Und dann war da noch ein zweiter Kristall – der, mit dem sie wieder runtergekommen sind. Der befand sich im hinteren Teil der Höhle, da drüben …«

Shia ging zu der genannten Stelle, und ihre Schnurrbarthaare bebten, als sie an dem Stein schnupperte. Plötzlich blieb sie mit einem tiefen Knurren stehen, und über die ganze Länge ihres Rückgrats stellten sich ihre Haare auf. Obwohl sie keinen Magusch dabei hatten, der ihr hätte helfen können, war Shia auf die richtige Stelle gestoßen.

Schiannath sprang auf. »Also gut, dann los«, sagte er energisch. »Himmelsleute, ihr könnt an der Außenseite des Berges hinauffliegen. Ihr wißt ja, was zu tun ist, sobald ihr dort ankommt – eure Aufgabe besteht darin, jede Bedrohung aus der Luft abzuwehren. Wir werden in einzelnen Gruppen hinaufgehen müssen – für wie viele Leute hat diese merkwürdige Vorrichtung deiner Meinung nach Platz, Nereni?«

Die Frau zuckte die Achseln. »Für etwa sechs oder acht, denke ich. Nicht viele.«

»Nun, die Katzen können als erstes gehen«, beschloß Schiannath. »Die beiden ersetzen im Kampf zehn Männer! Iscalda, du solltest sie besser begleiten, um die Sache da oben in die Hand zu nehmen – und was ist mit dir, Eliizar, möchtest du nicht auch bei den ersten sein?«

Eliizar trat hastig einen Schritt zurück. Sein Gesicht hatte einen ungesunden grünlichen Farbton angenommen. »Ich will nicht …«, begann er. Nereni sah ihn mit verengten Augen durchdringend an. »Deine Tochter ist da oben«, sagte sie.

Der Schwertkämpfer schluckte und machte einen Schritt nach vorn. »Na gut – bringen wir’s hinter uns.«

Nereni umarmte ihn. »Ich bin sehr stolz auf dich«, sagte sie leise und trat dann wieder neben Rabe, die zusammen mit Jharav zurückblieb, um sich um die Verwundeten und die Kinder zu kümmern. Da Nereni nicht kämpfen konnte, wußte sie, daß es sinnlos wäre, an die Stelle eines Kriegers zu treten. Aber als sie den kleinen Gruppen der Krieger nachsah, die von der Bergwand scheinbar ins Nichts gesogen wurden, wünschte sie plötzlich von ganzem Herzen, eine Kämpferin zu sein.

»Aber du kannst doch nicht einfach so weggehen und uns alle allein lassen«, protestierte Amahli an den einhändigen Mann gewandt. »Die Lady Aurian sagte, du sollst hier in diesem Gebäude bleiben und uns bewachen. Was ist, wenn jemand kommt?«

»Es wird schon niemand kommen«, sagte Vannor ungeduldig. »Ich sehe nicht ein, warum ich hierbleiben und alles verpassen soll, bloß weil ihr ein Kindermädchen braucht. Ihr müßt eben allein zurechtkommen. Schließlich habt ihr den Wolf bei euch.« Mit diesen Worten war er verschwunden.

Einen Augenblick später, als Amahli und Habicht sich nach besagtem Wolf umsahen, war auch dieser verschwunden.

»Na schön, Grince – laß mal sehen, ob du wirklich ein guter Dieb bist«, flüsterte Aurian.

Da der Eingang zum Smaragdturm in dem Erdbeben zerstört worden war, hatten Eliseths Sklaven ihn mit Steinen aus dem Berg repariert und ein großes, schweres Eisentor mit einer Reihe komplizierter Schlösser davorgestellt.

»Wo in Gottes Namen hat sie die bloß her?« murmelte Forral.

Aurian zuckte die Achseln. »Da unten im Berg gibt es jede Menge Räume mit solchen Türen. Wir haben nie herausgefunden, was hinter ihnen verborgen war – wir haben sie einfach nicht öffnen können.«

»Keine Bange, ich kriege das Mistding schon auf«, stieß Grince hervor, während er einen schlanken Dolch unter einen der Riegel schob. »Das Schloß muß erst noch geschaffen werden, das ich nicht bezwingen könnte.«

»Na, dann beeil dich ein bißchen«, erwiderte Forral. »Wir wollen drin sein, bevor Eliseth auf den Gedanken kommt, auf diesem Weg zurückzukehren …«

Plötzlich hob Aurians Bussard von ihrer Schulter ab und flog kreischend immer wieder um ihren Kopf herum. »Seht!« Die Magusch zeigte nach oben. »Sie haben es geschafft! Die Katzen und die Xandim haben die Sklaven befreit!« Am Himmel über ihnen war die Luft erfüllt von geflügelten Gestalten, die zwischen den tief hängenden Sturmwolken auf und ab flogen und mit wildem Eifer kämpften. Von hinten hörte Aurian vielfaches Klicken, Kratzen und Fluchen. Jetzt, da die Sklaven befreit worden waren, würde Shia die Leute mit Hilfe der Kristallvorrichtung, die innerhalb des Smaragdturmes ihren Eingang hatte, nach oben bringen – und wenn sie ankamen, sollte der Turm besser offen sein. »Grince«, sagte sie, »glaubst du, du wirst …«

»Ich hab’s!« flüsterte der Dieb. Noch ein letztes Kücken, und die Tür schwang auf.

»Guter Mann!« Aurian schlug ihm auf die Schulter.

Grince blickte strahlend zu ihr auf. »Ich hab’ dir doch gesagt, daß du mich brauchen würdest, oder?« meinte er.

Der gewundene Korridor innerhalb des Turms verströmte noch immer sein schwaches grünes Leuchten, und mit einemmal überfiel Aurian eine machtvolle Erinnerung. Sie drehte sich wieder zu Forral um und nahm seine Hand. »Erinnerst du dich an diesen Ort?« fragte sie leise. »Du bist zu mir zurückgekehrt und hast mich hierher geführt …«

»Natürlich erinnere ich mich«, sagte der Schwertkämpfer mit gebrochener Stimme. »Bei allen Göttern, was war das für ein Gefühl, dich wiederzusehen! Ich habe mir wegen dieser Eskapade furchtbare Schwierigkeiten mit dem Tod eingehandelt …« Er drückte ihre Hand. »Aber das war es wert.«

Als sie um eine Biegung des Korridors traten, stellten sie fest, daß die Kristallvorrichtung bereits die Katzen, Iscalda und Eliizar ausgespien hatte. Mit einem Freudenschrei fiel Aurian Eliizar um den Hals. »Wo ist meine Tochter?« fragte der Schwertkämpfer sofort.

»Sie ist in Sicherheit, keine Sorge. Sie ist in einem der Gebäude, und es ist jemand bei ihr, der auf sie aufpaßt.« Dann wandte Aurian sich an Iscalda. »Laßt gleich die nächsten raufkommen, während wir dieses Gebäude durchsuchen.«

»Das können wir nicht.« Shia blickte sie düster an. »Es klemmt. Ich erinnere mich jetzt wieder; nach dem Erdbeben war der Kristall nicht mehr derselbe – tja, also … mehr von uns wirst du nicht hier hinauf bekommen.«

»Nun, dann muß das eben genügen«, sagte Aurian. »Trotzdem machen wir uns jetzt besser an die Durchsuchung des Gebäudes.« Die Magusch war absolut sicher, daß Eliseth das Schwert und den Gral an diesem Ort versteckt hatte – aber nach einer erfolglosen Durchsuchung des Smaragdturmes mußte sie zugeben, daß sie sich geirrt hatte. In der Mitte des sonnendurchfluteten Raums, im Herzen des Turms, machte Aurian ihrem Ärger Luft. Wenn die Artefakte nicht hier waren, wo waren sie dann? Und was noch wichtiger war – wo steckte Eliseth?

Загрузка...