1 Die Letzten der Magusch

Als es der Zauberin nicht gelang, das Flammenschwert in Besitz zu nehmen, waren die Phaerie endlich frei. Für Hellorin war es überdies ein schier unglaublicher Glücksfall, daß die flammenhaarige Magusch seinem Volk durch ihre Schwäche nicht nur die ersehnte Freiheit schenkte, sondern ihm auch die Phaerierosse zurückbrachte, die so lange auf der anderen Seite des Ozeans in Menschengestalt gelebt hatten. »Reitet, meine Kinder«, rief er voller Jubel. »Laßt die Welt zittern, denn die Phaerie reiten wieder!«

»Nein«, rief Eilin. »Das darfst du nicht! Laß die Xandim ziehen. Sie sind intelligente Wesen wie wir!«

Einen Augenblick lang zögerte der Waldfürst. Während er die Magisch in seinem Reich gefangengehalten hatte, waren sie einander sehr nahe gekommen, und sie hatte ihm viel bedeutet – aber jetzt, da er wieder Herr seiner selbst war, durfte seiner Freiheit nichts mehr im Wege stehen. Die Tage der Magusch waren vorbei, und die Phaerie konnten die Welt erneut in ihren Grundfesten erschüttern. Hellorin zuckte die Achseln und verbannte Eilin ebenso wie seinen weichherzigen Sohn, der die Phaerierosse gewiß auch in ihrer nutzlosen Menschengestalt belassen hätte, aus seinen Gedanken. Irgendwann in der Zukunft würde er D’arvan schon eines Besseren belehren.

Mit einem gewaltigen Sprung stieg die weiße Stute gen Himmel. Das Herz des Waldfürsten, das so lange schwer und von eisernen Fesseln umklammert gewesen war, erhob sich gemeinsam mit seinem magischen Roß in die Lüfte. Seine Stute peitschte mit ihren Hufen den Böden auf und jagte mit immer längeren Schritten über einen unsichtbaren Weg. So sehr nahm den Phaeriefürsten sein Triumph gefangen, daß er das Tor in der Zeit, das das Flammenschwert hinter ihm geöffnet hatte, überhaupt nicht bemerkte. Daher sah er auch nicht, wie sein Sohn D’arvan hinter Aurian durch das Tor sprang, um dem Nichts entgegengeschleudert zu werden.

Dutzende von Stimmen fielen in Hellorins Ruf ein. Sein Volk folgte ihm – nicht länger als schattenhafte Gestalten, sondern schön anzusehen und mit strahlendem Heisch versehen. Die Phaerie erhoben sich hinter ihrem Fürsten auf ihren eigenen Reittieren in den Himmel – Tieren, die nur wenige Augenblicke zuvor die Gestalt, das Bewußtsein und die Intelligenz sterblicher Menschen besessen hatten. Höher und höher stiegen die Phaerie, schwärmten den Wolken entgegen wie eine Woge schwarzen Rauchs. Während die einen ihrem Herrn und Fürsten in die Luft folgen konnten, liefen jene, die nach wie vor an die Erde gebunden waren, weil sie nicht genug Pferde hatten, in den Wald, als wollten sie der wilden Jagd zu Fuß folgen.

Der Waldfürst sah sich voller Stolz nach seinem Gefolge um. Der einzige Kummer, der sich in seinen Triumph mischte, war die Tatsache, daß diese Schar nur ein trauriges Spiegelbild jener größeren Ritte alter Zeiten war, denn es wären kaum mehr als fünf Dutzend Phaerierosse zusammen mit den Fremden in das Tal gekommen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als viele seiner Leute auf Erden zurückzulassen. Mit einem entschlossenen Achselzucken fegte er diesen Gedanken beiseite; er würde es nicht zulassen, daß Vergleiche mit früheren Zeiten diesen Augenblick des Triumphes schmälerten. Wenn die fehlenden Pferde auf dieser Seite des Ozeans waren, würden sie sie finden – und wenn sie sich noch jenseits des Meeres befanden, außerhalb der machtvollen Reichweite der Phaerie, dann würden sie mit jenen, die sie heute zurückbekommen hatten, mühelos weitere züchten können.

Nachdem er solch weltliche Dinge mit festem Willen aus seinen Gedanken verbannt hatte, überließ Hellorin sich ganz seiner neuen Freiheit und atmete mit gewaltigen Zügen den eisigen Wind ein, der auf seinem Gesicht brannte und sich in seine Lungen bohrte. Er warf einen flüchtigen Blick hinunter auf die Erde und kostete dann in vollen Zügen die Kraft seines Phaerierosses aus. Die weiße Stute sprang von Wolke zu Wolke und schleuderte mit ihren silbernen Hufen Donnerschläge erdenwärts.

Weit unten erspähten Hellorins scharfe Augen menschliche Gestalten: Eine Gruppe flüchtender Sterblicher, die wie Ameisen durch die schwelenden Bäume am Talesrand schwärmten. Obwohl diese Geschöpfe durchaus ihren Nutzen hatten, mußte man ihnen zuerst eine Lektion erteilen – sie mußten begreifen, daß jetzt die Phaerie ihre Herren waren. Mit einem triumphierenden Aufheulen rief der Waldfürst sein Rudel großer Jagdhunde zu sich, gab der weißen Stute die Sporen und ließ sie zur Erde hinunterstürmen. Seine Leute folgten ihm. Sternschnuppengleich ergossen sie sich in hohem Bogen vom Himmel; in ihren Augen brannte die hungrige Gier nach dem Blut Sterblicher. Ihre Stimmen erhoben sich zu einem schrillen, mißtönenden Schlachtlied, das die Luft wie eine Klinge durchschnitt. Einer nach dem anderen wurden die Söldner, die Eliseth auf ihrem gescheiterten Plünderzug begleitet hatten, wie die Hirsche zwischen den Bäumen gejagt und abgeschlachtet, während die Erde zwischen den Wurzeln des gequälten Waldes in tiefen Zügen ihr Blut trank. Erst als alle Sterblichen niedergemetzelt waren, sahen sich die Phaerie nach einer anderen Beute um.

Im Zentrum des großen Talkessels, am Ufer des Sees, schauderte die Erdmagusch Eilin, als sie die Todesschreie der Sterblichen hörte. Der Verrat des Phaeriefürsten war im Vergleich zu dem Verlust ihrer Tochter nur eine Kleinigkeit, aber er tat ihr trotzdem weh. Eilin, die vom Gewicht ihres Kummers beinah erdrückt wurde, stand benommen und unentschlossen da. Nur ihr halsstarriger Stolz hielt sie auf den Beinen. Zum zweiten Mal in ihrem Leben mußte sie die Zerstörung all dessen, was ihr lieb und teuer war, mitansehen. Sie hatte ihre Tochter, ihr Heim und ihre Hoffnungen verloren. Das erste Mal, als ihr Leben nach Geraints Tod wie ein Scherbenhaufen vor ihr gelegen hatte, hatte sie sich über Kummer und Unglück erhoben und sich auf den Trümmern ihrer Träume ein fruchtbares und sinnvolles Leben aufgebaut – aber jetzt war sie älter, niedergedrückt, verwirrt und einsam. Woher sollte sie je die Kraft und den Mut nehmen, noch ein zweites Mal die Trümmer zusammenzusammeln?

Neben ihr standen Vannor und Parric, die einstigen Gefährten ihrer Tochter. Sie waren jetzt die Anführer der Rebellenschar, die im Tal Zuflucht gesucht hatte, während sie, Eilin, in der Anderwelt des Phaeriereichs geweilt hatte. Durch ihre heharrliche Ausschau an Hellorins magischem Fenster, das den Blick auf ihre eigene Welt freigab, hatte sie all diese Menschen im Laufe der vergangenen Monate ein wenig kennengelernt – mit Ausnahme eines Fremden, der seiner Haut nach ein Fremdländer von der anderen Seite der Meere sein mußte. Bis dorthin reichte die Magie von Hellorins Fenster jedoch nicht.

Keiner dieser Sterblichen bedeutete Eilin etwas – sie konnte es kaum erwarten, daß sie endlich verschwanden. Die Magusch wollte ihr Tal wieder für sich haben – sie brauchte Zeit, um all der Zerstörung Herr zu werden, die die Wettermagusch Eliseth hinterlassen hatte. Und sie wollte allein sein, um mit dem entsetzlichen Verlust ihrer Tochter und dem Schmerz über den Verrat des Phaeriefürsten fertig zu werden. Aber sie konnte nichts tun.

Diese Leute waren Aurians Freunde und Gefährten gewesen. Die grauenhaften Ereignisse des hinter ihr liegenden Tages entsetzten die Sterblichen genauso wie Eilin. Die Magusch wußte, daß sie sich erst ausruhen und wieder zu Kräften kommen mußten, bevor sie sie endlich loswerden konnte. Aber von ihr hatten sie trotzdem nichts zu erwarten – sie besaß nichts mehr, was sie ihnen hätte geben können. Sollten die Sterblichen doch für sich selbst sorgen!

Von allen Menschen, die diesen furchtbaren Tag überlebt hatten, schien Dulsina – die die Lady Aurian kaum gekannt hatte – am besten damit fertig zu werden. Nach einem einzigen Blick auf ihre am Boden zerstörten Gefährten wurde der Frau klar, daß sie die Dinge selbst in die Hand nehmen mußte, wenn sie für die Nacht ein Mindestmaß an Behaglichkeit haben wollten. Parric hatte sich von den anderen entfernt und stand jetzt mit dem Rücken zu ihnen. Er hatte den Kopf gesenkt, und seine herunterhängenden Schultern verrieten Kummer und Niedergeschlagenheit. Selbst aus dieser Entfernung konnte Dulsina das beängstigende Geräusch seines unablässigen Fluchens hören. Sangra bemühte sich tapfer, wenn auch ohne großen Erfolg, die Tränen zurückzuhalten. Sie hielt den Griff ihres Schwertes so fest umklammert, daß ihre Knöchel weiß hervortraten – als könne sie mit Waffen das Gefühl der Angst und der Mutlosigkeit bekämpfen, das sie in seinen Fängen hielt.

Fional stand, obwohl ihn der Verlust seines Freundes D’arvan zutiefst bekümmerte, bei dem Fremden, dem exotisch aussehenden Mann mit dem sonnengebräunten Gesicht, dem langen dunklen Haar und dem anmutigen, muskulösen Körper eines Tänzers. Der Bogenschütze versuchte nach besten Kräften, den Fremden zu beruhigen, der in einer fremden Sprache seinen Schmerz herausschrie. Und Vannor – der liebe gutherzige Vannor –, der bis zu diesem Augenblick so ruhig und gefaßt schien, hatte sich so abrupt auf den Boden gesetzt, als hätten seine Beine sich plötzlich in Wasser verwandelt; dann hatte er das Gesicht in den Händen vergraben. Das Schlimmste von allem aber war die Lady Eilin, die reglos und ein wenig abseits von den andern dastand; in ihren Augen brannte ein trostloses und furchtbares Licht, und ihr Gesicht schien sich in Stein verwandelt zu haben.

Irgend jemand mußte sich um sie alle kümmern – soviel stand fest Vielleicht, dachte Dulsina, wäre es das beste, wenn sie diesen unglücklichen Ort mit seinen tragischen Erinnerungen verließen und in das Rebellenlager zurückkehrten – falls die Flammen wenigstens diese sichere Zuflucht verschont hatten. Ihre Gefährten schienen jedoch außerstande zu sein, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen – und als sie versuchte, mit der Lady Eilin zu reden, prallte sie an einer undurchdringlichen Mauer aus Eis ab, hinter der ein wilder, unterdrückter Zorn loderte. Dulsina ließ sich wahrhaftig nicht leicht einschüchtern, aber die Art, wie die Magusch direkt durch sie hindurchsah, erschreckte sie bis ins Mark. Und wenn es um ihr Leben gegangen wäre, sie wagte es nicht, Eilin weiter zu bedrängen – denn sie war sicher, wenn die Lady sie das nächste Mal mit ihrem furchtbaren Blick bedachte, würde ihr nicht kühle Gleichgültigkeit, sondern heißer Zorn entgegenschlagen. Dulsina, die schließlich keine Närrin war, überlegte sich die Sache augenblicklich anders. Wir können alles, was von unserem Lager hier übriggeblieben ist, mitnehmen, entschied sie schnell. Nur die Götter wissen, wie dringend wir ein wenig Behaglichkeit brauchen, nach all den schrecklichen Dingen, die wir heute mit angesehen und erlitten haben.

Die Sonne wird jetzt bald untergehen, und wir müssen uns vor Einbruch der Dunkelheit etwas zu essen beschaffen; und einen Platz zum Schlaf en brauchen wir auch.

Schon versank die Sonne in dem dichten Rauch, der wie ein grimmiges graues Leichentuch über dem Tal hing. Dulsina seufzte. Es mußte doch irgend jemanden hier geben, der ihr helfen könnte? Einen vernünftigen, tüchtigen Menschen, der nicht völlig von Sinnen war? Mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit fiel ihr Blick auf Hargorn, der ein kleines Stück von ihnen entfernt am Seeufer stand. Der alte Soldat blickte übers Wasser zur Insel hinüber und stützte sich dabei schwer auf sein Schwert, das er mit der Spitze nach unten in die schlammige Erde am See gebohrt hatte. Als Dulsina auf ihn zuging, löste sich ihre Erleichterung jedoch abrupt in Luft auf. Zum ersten Mal, seit sie ihn kennengelernt hatte, sah Hargorn wie ein alter Mann aus. Aber als er ihre Schritte hörte, richtete er sich hastig auf, und obwohl sein zerfurchtes Gesicht ein verräterisch feuchtes Glitzern zeigte, waren seine Augen trocken, und er schien durchaus bei Sinnen zu sein – abgesehen vielleicht von der furchtbaren, bitteren Leere in seinem Blick.

»Maya ist fort,« sagte er leise, bevor Dulsina sprechen konnte. »Das arme Mädchen war die ganze Zeit hier im Tal, und ich habe nichts davon gewußt – und jetzt ist sie wieder fort.« Seine Stimme war schließlich nur noch ein Flüstern. »Ich war immer so stolz auf sie – auf das, was sie aus sich gemacht hat. Sie wußte es nicht, aber sie war für mich wie die Tochter, die ich nie gehabt habe.« Dann schüttelte er sich, und seine Augen nahmen wieder einen wachsamen Ausdruck an. »Aber es hat keinen Sinn, sie zu betrauern, als sei sie tot, wo wir das doch gar nicht sicher wissen können«, fügte er mit neuer Entschlossenheit hinzu. »Maya hätte dazu bestimmt das eine oder andere zu sagen gehabt – sie hat mehr Mumm in den Knochen- als die meisten Saukerle, die ich so kenne – o tut mir leid!« Es war ihm eingefallen, daß er sich nicht mit einem seiner Männer unterhielt. »Aber was kann ich nun für dich tun?«

Dulsina mußte ihren eigenen Kummer herunterschlucken, bevor sie antworten konnte. Seine Worte hatten sie an das Sonnwendfest erinnert, bei dem sie Vannors Tochter in der überfüllten Großen Arkade verloren hatte. Maya und die Lady Aurian hatten Zanna aus dem Gedränge gerettet und sie sicher zu ihrer Kutsche zurückgeleitet. Die beiden jungen Frauen, die eine Kriegerin, die andere Magusch, aber doch die besten Freundinnen, waren so mutig gewesen und so hoffnungsfroh und hatten seit diesem Tag so viel Leid und Elend erlebt – und jetzt waren sie beide fort.

»Na komm schon«, unterbrach Hargorn sanft ihre Grübeleien. »Es nützt nichts, endlos darüber nachzudenken – ich hätte gar nicht erst damit anfangen dürfen. Die Götter mögen jedem beistehen, der es wagt, sich mit Maya und Aurian einzulassen – und wenn wir noch lange wie eine Horde aufgescheuchter Hühner hier herumstehen, bringt uns das auch nicht weiter. Glücklicherweise sind wir zwei ja hier. Irgend jemand muß sich schließlich um alles kümmern.«

Dulsina lächelte. Das warme Gefühl der Kameradschaft, das sie mit diesem Mann verband, war ein großer Trost. Sie und der alternde Krieger hatten eine Schwäche füreinander, seit er sie gegen Vannors ausdrückliches Wort mit den übrigen Rebellen ins Tal geschmuggelt hatte.

Nachdem es ihr endlich gelungen war, sich zusammenzureißen, erklärte die Frau Hargorn die schwierige Lage: »Die Lady Eilin rührt sich nicht von der Stelle, das arme Ding, und die anderen benehmen sich, als hätten sie keinen Funken Verstand im Kopf. Wir müssen vor Einbruch der Nacht ein Lager errichten …. «

»Keine Angst«, beruhigte sie der alte Soldat. »Ich werde unsere Leute schon auf Trab bringen. Ein paar von ihnen sollen notdürftige Unterkünfte für die Nacht bauen, und du gehst am besten mit uns übrigen zurück ins Lager, um uns zu sagen, was wir mitnehmen sollen. Dann sind wir im Handumdrehen mit den Decken und etwas Eßbarem wieder da. «

Als er mit langen Schritten davoneilte, bemerkte Dulsina, daß sein Schwert immer noch da war, wo er es zurückgelassen hatte – fest in den Schlamm am Seeufer hineingebohrt. So geistesabwesend war Hargorn doch sonst nicht. Ob ihm langsam das Alter zu schaffen machte? Sie rief hinter ihm her. »Hargorn, du hast dein Schwert vergessen!«

Er sah sie mit trostlosem Blick an und schüttelte den Kopf. »Dieses Schwert war für das ganze Unglück heute verantwortlich. Ich will nicht mehr kämpfen, Dulsina, ich habe nicht mehr den Mut dazu, nicht nach dem heutigen Tag. Ich werde nie wieder ein Schwert anfassen.«

Nach einer Weile riß Parric sich mit Gewalt aus seinen benommenen Tagträumen und stellte zu seinem Entsetzen fest, daß es bereits dämmerte. Es war ihm furchtbar, zu entdecken, wie lange er einfach nur dagestanden hatte, verloren in Angst und Grauen. Er schämte sich, daß Dulsina und Hargorn mit allem allein fertig werden mußten. Sie waren zwar auch ohne ihn recht gut zurechtgekommen, das mußte der Kavalleriehauptmann zugeben – aber es hätte nicht nötig sein dürfen.

»Mach dir deswegen keine Gedanken«, sagte Dulsina zu ihm. »Sobald wir unsere Sachen aus dem alten Lager geholt hatten, war alles andere ganz einfach. Am Rand des Feuers, wo die Bäume immer noch schwelen, gibt es genug trockenes Brennholz, und wir brauchten auch nicht auf die Jagd zu gehen. Der Rauch hat ungezählte Tiere getötet – wenn du in den Wald blickst, siehst du überall welche,« Ein leises Zittern in ihrer Stimme und ihr bleiches, angestrengtes Gesicht waren die einzigen Hinweise darauf; daß sie heute im Wald Zeugin eines Blutbads geworden war.

Jetzt, da Dulsina es erwähnt hatte, nahm der Kavalleriehauptmann zum erstenmal den köstlichen Duft von gebratenem Fleisch wahr. Nur ein kleines Stück von ihm entfernt nahm ein provisorisches Lager langsam Gestalt an, mit primitiven Hütten aus Ästen, die mit Decken, Umhängen und Tierfellen behängt waren. Am Ufer des Sees flammte ein gewaltiges Feuer gen Himmel, und ganz in seiner Nähe brannten einige kleinere Kochfeuer.

»Kann ich denn noch irgend etwas tun?« fragte Parric ein wenig schuldbewußt.

»Ja«, antwortete Dulsina. »Du kannst versuchen, deine Freundin Sangra ein wenig zu trösten und diesen armen jungen Mann, den ihr aus der Fremde mitgebracht habt.«

Der Kavalleriehauptmann spähte durch die aufkommende Dunkelheit. Schließlich sah er Sangra und Yazour am Feuer sitzen. Die beiden waren tief in ein Gespräch versunken und hielten einander an den Händen.

»Sieht so aus, als kämen die zwei auch ohne mich ganz gut zurecht«, brummte er. »Wo steckt Vannor?«

Eine tiefe Furche erschien zwischen Dulsinas dunklen Augenbrauen. »Mach dir seinetwegen keine Sorgen«, gab sie entschlossen zurück. »Hilf du lieber deinen jungen Freunden da drüben. Ich habe mich selbst um Vannor gekümmert – statt ihn da rumsitzen und grübeln zu lassen, habe ich ihm gesagt, er soll mit der Lady Eilin reden. Das ist nämlich dringend nötig.«

Eilin fluchte und ballte verärgert die Fäuste, als sie den Sterblichen näherkommen sah. Ihre unwillkommenen Gäste hatten sich schließlich doch an die Erichtung eines Lagers gemacht – ganz in der Nähe des Buchenwäldchens, wo auch Forral einst seine erste Unterkunft aufgeschlagen hatte, dachte sie mit einem Aufblitzen alten Schmerzes, eines Schmerzes, den sie schon lange hinter sich gelassen zu haben glaubte. Gleich darauf hatte die Magusch sich auf der Suche nach ein wenig Abgeschiedenheit über die verkohlte und gesplitterte Holzbrücke auf ihre Insel zurückgezogen. Niemand, da war sie sich ganz sicher gewesen, würde es wagen, ihr dorthin zu folgen. Wie sehr sie sich darin geirrt hatte – aber als Eilins ungebetener Besucher nahe genug war, um ihn zu erkennen, stellte sie fest, daß sie nicht im mindesten überrascht war. Im Laufe der Jahre hatte die Magusch von Aurian, die sie im Sommer häufig besucht hatte, eine ganze Menge über Vannor erfahren In jüngerer Zeit hatte sie ihn durch Hellorins magisches Fenster beobachtet – bis zu seiner übereilten Rückkehr nach Nexis, wo er nach seiner Tochter suchte. Seine von Mitleid und Vernunft gleichermaßen bestimmte Festigkeit, mit der er die Rebellenschar zu führen wußte, die in ihrem, Eilins, Tal Zuflucht gesucht hatte, hatte sie beeindruckt.

Ihm war als erster aufgefallen, daß irgend jemand seinen Leuten half, auch wenn es sich um ein mysteriöses, unsichtbares Wesen handelte – in diesem Falle um D’arvan –, und er hatte dafür gesorgt, daß seine Gefolgsleute sich an die Regeln und Einschränkungen hielten, die der Sohn des Waldfürsten dem Rebellenlager auferlegt hatte.

Aber trotz alledem, trotz ihres Respekts für den ehemaligen Rebellenführer, ärgerte Eilin sich maßlos über seine unwillkommene Störung ihres Friedens. Er würde zweifellos über die Einzelheiten und die möglichen Konsequenzen von Eliseths Angriff und späterem Verschwinden reden wollen – und was war mit Miathan? Welche Rolle hatte der Erzmagusch in diesem heutigen Drama gespielt? Was würde er als nächstes unternehmen? Die Magusch seufzte. Mögen die Götter mir vergeben – ich kann das jetzt einfach nicht ertragen, dachte sie.

Sie wußte, daß diese Dinge wichtig waren und eines Tages angesprochen werden mußten – aber doch heute noch nicht. Im Augenblick tat ihr das Herz zu weh, und sie war zu müde, um sich Sorgen über die Zukunft zu machen.

In dem blutroten Licht der untergehenden Sonne trat Eilin von der Brücke zurück und wandte sich ganz bewußt von dem näherkommenden Sterblichen ab, um die Ruinen ihres alten Heims zu betrachten. Nachdem das Flammenschwert verschwunden war, war der Turm auf Lady Eilins Insel erschienen – in gewisser Weise. Der Schaden, den Wind und Wetter angerichtet hatten, die verkohlten, schwarzen Steine und die verbogenen Eisenbeschläge, die eingestürzten Decken und die zersplitterten Fenster – und dazu dieses lähmende Gefühl der Einsamkeit – all das tat ihr unerträglich weh. Wie soll ich das nur jemals wieder aufbauen? dachte sie verzweifelt. Wo soll ich anfangen?

»Wir – deine sterblichen Freunde – würden dir mit Freuden helfen, Lady,’ falls du Hilfe brauchst. Diese Aufgabe ist zu groß für einen Menschen allein.«

Die Magusch fuhr mit einem Aufstöhnen herum. Hatte dieser elende Kerl etwa ihre Gedanken gelesen? »Ich brauche keine Hilfe von Sterblichen«, fuhr sie ihn an. Wie konnte er es wagen, anzudeuten, sie sei nicht in der Lage, ihr eigenes Heim wiederaufzubauen?

Vannor verbeugte sich tief, sagte aber nichts. Auch Eilin schwieg, bis das Schweigen zu einer tiefen Kluft zwischen ihnen wurde. Der Sterbliche wartete, bis die Spannung schier unerträglich wurde, aber die Lady vom See weigerte sich einfach, ihn weiter zur Kenntnis zu nehmen.

Schließlich begann Vannor doch wieder zu sprechen. Seine Stimme war sehr sanft, ganz als wären ihre zornigen Worte von vorhin nie ausgesprochen worden. »Lady, drüben am anderen Ufer warten Essen, Feuer und Kameradschaft auf dich. Willst du nicht über deine Brücke gehen und zu uns kommen?«

Eilin konnte seinem Blick nicht standhalten. Es war schon schlimm genug gewesen, die Freundlichkeit in seiner Stimme zu hören – wenn sie nun auch noch das Mitleid und die Sorge sah, die sich ganz sicher auf seinem Gesicht widerspiegelten, würde die brüchige Zitadelle ihres Stolzes in tausend Scherben bersten. Der Gedanke, vor diesem elenden Sterblichen in Tränen auszubrechen, war ihr unerträglich.

»Ich brauche kein Mitleid von deinesgleichen«, fuhr sie Vannor an, wobei sie jedem einzelnen Wort eine schneidende Schärfe gab. »Verflucht sollen euer Essen, eure Feuer und eure Gesellschaft sein! Ihr habt hier nichts zu suchen, und ich möchte, daß ihr alle bis morgen mittag verschwunden seid, sonst müßt ihr die Konsequenzen tragen.« Endlich drehte sie sich doch um und starrte ihn wütend an. »Dieses Tal gehört mir, Sterblicher. Mir!«

Vannor, den ihre Drohung offensichtlich unbeeindruckt ließ, sah sie lange und fragend an. »Wie du wünschst«, sagte er schließlich. »Niemand würde dir das Recht auf diesen Ort streitig machen, Lady. Aber wenn wir dir jemals behilflich sein können .’.« Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf.

»Nein«, murmelte er leise, als spräche er mit sich selbst. »Das würdest du niemals tun, nicht wahr? In deinem törichten, halsstarrigen Stolz würdest du dich nie dazu überwinden können, Sterbliche um Hilfe zu bitten oder von ihnen Hilfe anzunehmen – nicht einmal, wenn du hier elendig an Hunger, Kälte und Einsamkeit zugrunde gehen würdest.«

Bei diesen Worten kochte ihr Zorn schließlich doch über.

Wie eine Furie stürzte Eilin sich auf ihn und schleuderte ihm kreischend ihre Flüche entgegen. Was für eine Erleichterung, endlich ein Ziel für den Zorn zu haben, der sich in ihr aufgestaut hatte! Vannor trat ihr furchtlos und gelassen entgegen – und ja, da war es – das Mitleid, das in seinem Gesicht zu lesen sie so sehr gefürchtet hatte.

Genau dieses Mitleid ließ sie wie angewurzelt stehenbleiben. Plötzlich wurde der Magusch klar, welchen Anblick sie bieten mußte – eine verstörte, zerzauste alte Hexe, mitleiderregend und lächerlich in den zerfetzten Überresten ihres Stolzes. Ihre Flüche rissen urplötzlich ab, und es kehrte Stille ein.

Vannor neigte respektvoll den Kopf. »Lady«, sagte er zu ihr, »Aurian hat mich alles gelehrt, was es über den sturen Stolz der Magusch sowie ihr stürmisches Temperament zu wissen gibt – aber ich habe sie deswegen nicht weniger geliebt oder respektiert.«

Zu ihrer eigenen Überaschung verzog Eilins Mund sich zu einem schiefen Lächeln. »Deine Freundschaft mit meiner Tochter hat dir seltene Einblicke in unseren Charakter gegeben«, gab sie zu.

Vannor erwiderte ihr Lächeln. »In der Tat«, pflichtete er ihr bei, »aber ich habe von Aurian weit mehr über die gute Seite der Magusch gelernt als über die schlechte. Mut, Treue, eine unschätzbare Aufrichtigkeit …«

Seine Rede fand ein jähes Ende, denn die Luft über ihnen wurde plötzlich vom Bellen der Jagdhunde zerrissen, vom Schrillen der Hörner und den wilden, triumphierenden Jagdschreien der Phaerie, die wie Donnerschläge vom Himmel herunterschossen; bei sich trugen sie die schauerlichen Trophäen ihrer Jagd. Der Fürst des Waldes war ins Tal zurückgekehrt.

Obwohl Parric und Sangra nun schon seit einer ganzen Weile mit ihm stritten, ließ Yazour sich nicht einschüchtern. Und er würde auch seine Meinung nicht ändern. Er war fest entschlossen, in die südlichen Länder zurückzukehren, um seinen Freund und Lehrer Eliizar zu suchen und dem älteren Mann einzugestehen, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte nie mit den Magusch nach Norden ziehen dürfen – dies war nicht sein Land, und jetzt blieb ihm hier nichts mehr zu tun übrig.

Nach dem Verschwinden von Aurian, Anvar und seinen Freunden, den Pferdeleuten, fühlte Yazour sich sehr einsam und verlassen in diesem Land der Fremden. Von all jenen, die mit den Magusch aus der Khazalim-Stadt Taibeth aufgebrochen waren, war er allein übriggeblieben. Harihn, der ehemalige Prinz des jungen Kriegers, hatte die Magusch zweimal betrogen und war eine unheilige Allianz mit dem Erzmagusch Miathan eingegangen. Kurze Zeit später hatte er dann im Turm von Incondor den Tod gefunden.

Shia war Aurian und Anvar durch den Riß in der Zeit gefolgt, um sich dort einem unbekannten Schicksal zu stellen. Das geflügelte Mädchen Rabe war jetzt Königin des Himmelsvolks, und als Yazour sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie ein ganzes Stück auf dem Weg zu neuer Reife vorangekommen und hatte begonnen, ihre früheren Fehler wiedergutzumachen.

Der arme Bohan, der hünenhafte Eunuch, der Aurian so ergeben gewesen war, hatte in der Nähe der Xandim-Feste sein Leben verloren, und selbst Schiannath, Chiamh und Iscalda, die beiden Pferdeleute, mit denen Yazour sich angefreundet hatte, gingen einem ungewissen Schicksal entgegen, seit die Phaerie ihre Pferde ihrer menschlichen Gestalt entkleiden konnten; Aurians Unvermögen, das Schwert zu beherrschen, hatte ihnen die Möglichkeit dazu gegeben. Mit einem einzigen, tödlichen Streich hatten die Xandim ihre Führer verloren. Schiannath, der Rudelfürst, und das Windauge Chiamh hatten sich zwar vor den Phaerie retten können, waren aber Aurian in ihrer Pferdegestalt gefolgt. Zusammen mit den anderen Xandim war Iscalda, Schiannaths Schwester, die sich mit Yazour angefreundet hatte, unwiderruflich in ihre Pferdegestalt gebannt worden. Sie war jetzt eine weiße Stute und gehörte Hellorin, dem Phaeriefürsten.

Yazour hatte hilflos zusehen müssen, wie man seine Freunde ihrer Menschlichkeit beraubte. Aurian und Anvar waren verschwunden, und der junge Krieger mußte allein zurückbleiben, weil er nicht schnell genug gewesen war, um ihnen durch den Riß in der Zeit zu folgen. Und jetzt mußte er mit der Schuld seines Versagens leben.

Obwohl seine Freunde, Parric und Sangra, ihr Bestes taten, um freundlich zu ihm zu sein und ihn in ihrer Mitte willkommen zu heißen, wußte der Khazalim-Soldat doch, daß er ein Fremder und ein Außenseiter war. Ohne Aurian hatte es keinen Sinn für ihn, noch länger hierzubleiben.

»Yazour, du darfst uns nicht verlassen. Du bist unser Freund – wir brauchen dich hier.« Sangra attackierte ihn von neuem. »Es gibt so viel zu tun – so viele Dinge, die in Ordnung gebracht werden müssen.«

Yazour seufzte müde und schüttelte nur den Kopf. »Ich möchte in den Süden zurückkehren, zu meinem eigenen Volk«, beharrte er. »Ich wäre für Eliizar und Nereni von großem Nutzen, und jetzt, da Aurian fort ist und ihre Pläne gescheitert sind …«

»Gescheitert! Wag es nicht, so etwas zu sagen, du Mistkerl!« fuhr Parric auf. Yazour wich instinktiv zur Seite, als eine Faust an seinem Gesicht vorbeischnellte. Außer sich vor Zorn, versuchte es der Kavalleriehauptmann erneut, aber Sangra, die genauso schnell war wie er, fing sein Handgelenk auf, bevor er ein zweites Mal zuschlagen konnte. »Parric, nein!« rief sie. »Das wird uns auch nicht weiterhelfen.«

Der Kavalleriehauptmann gab nach, bedachte Yazour aber mit einem seltsamen Blick, in dem sich Kälte und Unglück mischten. »Sage niemals wieder, sie sei gescheitert«, murmelte er. »Es ist noch nicht vorbei.« Dann sprang er auf und ging mit steifen Schritten davon.

Zu spät wurde Yazour klar, daß seine achtlos dahingesagten Worte Parric tief verletzt hatten. Es tat ihm leider mochte und respektierte den kleinen Mann. Da er nicht wußte, wie er das Gesagte zurücknehmen konnte, ohne alles noch schlimmer zu machen, entschuldigte er sich nur kleinlaut und verlegen bei Sangra. Dann ließ er seinen Blick über das Lager gleiten, denn er suchte verzweifelt nach irgend etwas, womit er das Gespräch in weniger schmerzliche Bahnen lenken konnte. Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit von dem Geräusch lauter Verwünschungen gefesselt, die quer über den See erklangen. »Wer ist die Frau, die Vannor drüben auf der Insel anschreit?« fragte er.

»Nun, das ist doch Aurians Mutter, die Lady Eilin«, klärte Sangra ihn auf. »Sie lebt ganz allein im Tal. Die arme Seele – ich kann es ihr nicht verdenken, daß sie so wütend ist.

Wie soll sie das alles auch ertragen? Ihre Tochter ist fort, ihr Tal niedergebrannt und ihr Turm nur noch eine Ruine. Sie wird jetzt sicher sehr einsam sein – außerdem ist sie – je nachdem, was Miathan zugestoßen ist – möglicherweise die letzte Überlebende ihrer Rasse.« Die Kriegerin schüttelte den Köpf. »Die Magusch sind im Aussterben begriffen – wer hätte gedacht, daß wir das noch erleben?«

Die arme Frau! dachte Yazour. Die einzige ihrer Rasse hier – genau wie ich. Abermals betrachtete er die schlanke Gestalt, Und sein Herz war voller Mitleid. Sie schien so allein zu sein; so verletzlich … Und sie war Aurians Mutter … Langsam nahm eine Idee in Yazoiirs Gedanken Gestalt an, aber bevor er sich zu irgend etwas durchringen konnte, erklang wie ein Donnerschlag die Stimme des Waldfürsten vom Himmel: »Seht eure Beute, meine Krieger! Packt sie euch!«

»In Deckung«, schrie Vannor. »Die Phaerie greifen an!«

Wie können sie das wagen! Eilins Zorn, der sich noch vor kurzem auf den glücklosen Sterblichen konzentriert hatte, fand jetzt sein wahres Ziel. »Nein!« rief sie. Dann lief sie über die Brücke zu den Feuern der Sterblichen. Vannor folgte ihr auf dem Fuß, auch als die Phaerie schon vom Himmel heruntergeschossen kamen. Eilin erreichte das große Lagerfeuer noch vor dem Waldfürsten. Überall um sie herum zogen die Leute ihre Schwerter, schrien durcheinander, flüchteten, waren außer sich vor Angst.

»Bleibt bei den Feuern!« Die Magusch ließ ihre Stimme durch einen Zauber anschwellen, bis sie sich laut und deutlich über den Lärm erhob. »Haltet euch dicht bei mir – das ist eure einzige Chance!« Als die zu Tode erschrockenen Sterblichen begannen, sich um das große Lagerfeuer zu scharen, sah Eilin sich mit wilden Blicken um. Ein Stab – sie brauchte ihren Stab! Aber ihren eigenen hatte sie vor langer Zeit D’arvan überlassen, und zusammen mit dem jungen Magusch war er einem ungewissen Schicksal entgegengegangen. Im Grunde genommen brauchte sie jedoch lediglich etwas, mit dessen Hilfe sie ihre magischen Kräfte konzentrieren konnte … Da sah sie plötzlich durch eine Lücke in der Menschenmenge um sie herum das Schwert, das Hargorn zurückgelassen hatte. Es steckte immer noch aufrecht im Schlamm am Seeufer.

Die Erdmagusch lief darauf zu und riß die herrenlose Klinge an sich. Dann ließ sie ihre ganze Magie in das Schwert strömen und spürte sogleich, wie sie ein Schaudern packte, denn ihre Zaubermacht nahm plötzlich eine rohe, aggressive Schärfe an. Was für ein Unterschied zu den nährenden Kräften, die sie mit Hilfe ihres Stabs zu wecken vermochte!

Näher und näher kamen die Phaerie. Ihre silbernen Hörner erklangen, und sie sangen vom Rücken der Pferde herab ihre schauerlichen Todeslieder. Schon waren sie auf Höhe der Baumgipfel: Es war ein ehrfurchtgebietender Anblick, denn sie waren schrecklich in ihrer Schönheit. Jetzt, da sie aus ihrem Gefängnis dieser formlosen Anderwelt befreit waren, hatten sie ihre grauen und schattengleichen Gestalten endlich abstreifen können. Statt dessen trugen sie nun Roben von einem schimmernden, vielfarbigen Leuchten, die wie Kometenschweife in funkelnden Wogen hinter ihnen her flatterten. Die Phaerie ritten ohne Sattel, aber die Pferde mit ihren im Wind wehenden Mähnen und Schwänzen wurden mit Zügeln und Zaumzeug aus reinem, weißen Licht beherrscht, und ihre Hufe sprühten Funken, während sie durch die Luft schössen. Als die Reiter die Baumgipfel erreichten, nahm alles, was ihre flatternden Gewänder berührten, dasselbe geheimnisvolle Leuchten an. Eisige, regenbogenfarbene Funken sprangen von Ast zu Ast und umhüllten die Umrisse von Blättern und Zweigen mit einem zarten Geflecht aus Licht.

Eilin zwang sich, all diese Schönheit zu ignorieren und nur an die kalten, grausamen Herzen zu denken, die sich hinter solch herrlicher Magie verbargen. Sie schrie einmal kurz auf, um ihre Kräfte zusammenzuziehen, dann trieb sie die Spitze ihres Schwertes in den Boden. Eine Sekunde später sprang über dem ganzen Lager eine Kuppel aus leuchtend grüner Magie auf, um die hilflosen Sterblichen zu beschirmen – gerade in dem Augenblick, als Hellorin dicht hinter seinen Hunden und an der Spitze seiner Gefolgsleute ungeachtet der Gefahr mitten auf das Lager zustürzte. Als der Schild vor ihm aufsprang, riß er am Maul der weißen Stute, um sie von ihrem halsbrecherischen Kurs abzubringen, aber zu spät.

Als seine Hunde einer nach dem anderen in die Reichweite der magischen Barriere kamen, wurden sie von zischenden Bützen aus grünem Licht empfangen. Aufjaulend traten sie den Rückzug an: Diese tosende Wand aus Licht, die fast direkt unter ihren Hufen aufgetaucht war, erschreckte Iscalda so sehr, daß sie sich aufbäumte und scheute. Der Waldfürst verlor das Gleichgewicht, rutschte über eine schneeweiße Schulter und stürzte; Als er in einer Explosion aus smaragdgrünem Licht auf Eliseths Barriere traf, glitt er in einem flirrend grünen Funkenregen über das gewölbte Äußere des Schilds. Als er unausweichlich und unrühmlich zu Boden rollte, schrie er vor Schmerz auf. Die Stute stieß einen schrillen Triumphschrei aus, bäumte sich ein letztes Mal auf und verschwand zwischen den Bäumen.

Hellorin erhob sich mühsam auf die Füße. Die Rebellen brachen in lauten, johlenden Beifall aus, während die Phaerie, die ganz in der Nähe ihres Herrschers gelandet waren, in tödliches Schweigen verfielen. Der Herr der Phaerie, hinter dem die geschlossene Front seiner erzürnten Gefolgsleute stand, sah die Erdmagusch durch ihren durchsichtigen Energieschild an.

Der Waldfürst brach als erster das Schweigen. Sein Tonfall war anfangs noch versöhnlich und strafte damit den glitzernen Zorn in seinen Augen Lügen. »Lady, du bist eine Unsterbliche, genau wie ich. Du hast eine ganze Weile in meinem Reich gelebt, und du warst für mich schon fast eine von uns, eine Phaerie. Du kannst doch unmöglich mit den Sterblichen gegen mich paktieren?« Er zuckte die Achseln. »Nein, das ist undenkbar. Bist du erzürnt, weil ich einfach weggeritten bin und dich vergessen habe? Oder willst du jetzt, da die Phaerie wieder frei sind, ein Geschäft mit mir machen oder eine Vergünstigung von mir verlangen, daß du diese mitleiderregenden Geschöpfe als Köder benutzt?«

»Ich will nichts von dir, außer daß du verschwindest«, stieß Eilin zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Ihre Antwort schien Hellorin zu erstaunen. »Willst du mir so vergelten, was ich für dich getan habe, Lady? Ist das der Lohn dafür, daß du in meinem Reich Heilung und Zuflucht gefunden hast?

Ist das dein Dank für dieFreundlichkeit, die mein Volk dir entgegengebracht hat?« Jetzt machte er sich nicht länger die Mühe, seinen Zorn zu verbergen.

»Ich habe nicht vergessen, daß die Phaerie mir beigestanden und mich bei sich aufgenommen haben – aber der krasse Gegensatz zwischen deinem Mitleid damals und deiner Brutalität jetzt – das ist etwas, das ich nicht hinnehmen werde.« Eilin krampfte die Hände um den Griff von Hargorns Schwert, damit man ihr Zittern nicht bemerkte. »Dies ist mein Tal.« Ihre Worte waren eine schallende Herausforderung, wie das Klirren von Stahl auf Stahl. »Wir befinden uns jetzt in meinem Reich, und diese Sterblichen hier stehen unter meinem Schutz. Wie kannst du es wagen, sie anzugreifen?«

Das Gesicht des Waldfürsten verdunkelte sich vor Zorn. »Wage es nicht, dich mir in den Weg zu stellen, Magusch, ich warne dich«, knurrte er. In seinem Zorn dehnte er sich aus, und er wurde größer und größer, bis er erst die Magusch und dann die Baumwipfel überragte und sogar die Sterne mit seinem Leib verdeckte.

Eilin zwang sich, ihn anzusehen ohne zurückzuweichen. »Willst du wirklich versuchen, deine Kraft mit meiner zu messen?« fragte sie. »Ich glaube nicht. Auf deinem eigenen Territorium könntest du mich wahrscheinlich besiegen – aber hier? Die irdische Welt ist neu für dich – du hattest noch keine Zeit, dich daran zu gewöhnen, wie die Magie hier ihre Wirkung zeigt. Im Laufe vieler Jahre hat meine Macht diesen Platz erschaffen. Selbst die Knochen der Erde werden sich regen, um mich zu schützen! Vielleicht kannst du mich bezwingen – aber um welchen Preis für einen, der gerade erst befreit wurde? Ist eine Handvoll Sterblicher dieses Risiko wert?«

»Verflucht sollst du sein, Lady. Deine Rasse war schon immer falsch und treulos«, zischte Hellorin.

»So wie deine mitleidlos und heimtückisch war«, gab Eilin mit gleicher Gehässigkeit zurück.

Hellorin zuckte die Achseln. »Und dein Volk hat natürlich über alle Zeitalter hinweg deinen sterblichen Brüdern gegenüber nur Freundlichkeit und Rücksichtnahme an den Tag gelegt? Na komm schon. Eilin – das hier kann doch nur ein Witz auf meine Kosten sein. Was interessieren dich solch niedere Geschöpfe wie diese hier? Seit wann scheren sich die Magusch um Sterbliche, es sei denn, sie können sie als Diener oder für irgendwelche Eroberungspläne benützen?«

Die Erdmagusch legte den Kopf zur Seite und sah Hellorin direkt in die Augen. »Seit eines dieser niederen Geschöpfe der Vater des Kindes meiner Tochter wurde. Und seit du dir meine ewige Verachtung zugezogen hast, indem du Aurian – ganz zu schweigen von den Xandim – für deine eigenen Ziele mißbraucht und verraten hast.«

Der Phaeriefürst stieß sein dröhnendes Lachen aus. »Die Xandim sind unser Eigentum. Und was Aurian betrifft … Du hast doch sicher nicht erwartet, daß wir einem Versager und Schwächling die Treue schwören, daß wir das Knie vor einem Mitglied jener verhaßten Rasse beugen, die uns aus der Welt genommen hat –, wo wir die Gelegenheit hatten, der Unterdrückung der Magusch ein für allemal zu entkommen? Du mußt ziemlich viel von deiner Tochter halten, Lady, wenn du glaubst, sie sei die Freiheit einer ganzen Rasse wert.«

Eilin, die innerlich kochte, stieß ihr Schwert mit einer donnergleichen Explosion der Macht in den Boden. »Ich halte offensichtlich sehr viel mehr von meiner Tochter als du von deinem Sohn«, rief sie mit klarer, kalter Stimme.

Hellorins Hohngelächter verstummte jäh. »Wäge deine Worte gut ab, Magusch. Ich habe schon wegen geringerer Kränkungen weit mächtigere Wesen als dich zerstört.«

»Und hast du sie zerstört, weil sie die Wahrheit sagten? Das wäre typisch für die Phaerie! Du Narr – du hast keine Ahnung, nicht wahr?« Eilins Stimme troff vor Verachtung. »In deiner unersättlichen Gier nach Rache an jenen, die die Welt bewohnten, während euch der Zutritt dorthin verwehrt war, hast du die armen Xandim ergriffen und bist davongestürmt, bevor das Problem des Flammenschwertes gelöst werden konnte. Hast du denn nicht einmal bemerkt, daß D’arvan verschwunden ist? Während Aurian und Anvar durch deine Heimtücke abgelenkt waren, versuchte Eliseth, das Schwert zu stehlen; das Ergebnis war ein Riß in der Zeit. Die beiden Magusch sind in diesem Riß verschwunden – genauso wie Maya und dein Sohn!«

Hellorin erbleichte. »Das kann unmöglich die Wahrheit sein«, flüsterte er.

»Es kann und es ist«, erwiderte Eilin gnadenlos. »Und wenn du hier gewesen wärest, als es passierte, hättest du es vielleicht verhindern können.«

Die gigantische Gestalt des Phaeriefürsten löste sich in Dunst auf und verschwand schließlich ganz, bevor er wieder auf menschliche Größe schrumpfte. »Aber wie ist das geschehen?« Auch die letzte Spur seines früheren Zorns war aus seiner Stimme gewichen. »Wo sind sie jetzt?«

»Wo wir ihnen nicht helfen können, fürchte ich«, antwortete Eilin grimmig. »Es steht dir frei, deinen Sohn zu suchen, wo immer du möchtest – aber du mußt anderswo suchen. Ihr Phaerie seid doch Experten, wenn es um Verträge und Schulden geht, nicht wahr? Obwohl du ihr keinen Treueid geleistet hast, stehst du trotzdem in der Schuld meiner Tochter, denn sie hat dir und deiner verabscheuenswerten Rasse die Freiheit wiedergegeben. Da Aurian nicht hier ist, um ihre Bedingungen zu nennen, werde ich es an ihrer Stelle tun. Dieses Tal gehört mir. Verschwinde von hier – und kehre niemals zurück,«

»Ist das wirklich dein Wunsch?« fragte Hellorin erstaunt. »Daß unsere Freundschaft so endet?«

Eilin betrachtete ihn mit steinerner Miene. »Freundschaff – wahrhaftig! Nie wieder will ich dieses Wort von deinen Lippen herabgewürdigt hören! Als das Schwert gefunden wurde, habe ich von dieser Freundschaft wahrlich nicht viel gesehen. Für die Phaerie scheint Freundschaft mit ihrer eigenen Bequemlichkeit zu beginnen und zu enden – und ihr Fürst ist da der Schlimmste von allen. Ich kann nichts beenden, was nicht mehr existiert, mein Fürst.«

Hellorin seufzte. »Na schön. Es soll sein, wie du es wünschst.« Die versammelten Gestalten der Phaerie wurden immer dünner, wie vom Wind verwehter Dunst, und verschwanden schließlich wie ein Traum, wie ein Spukgebilde.

Plötzlich zitterten Eilin die Knie. Die Sterblichen scharten sich um sie, um ihr zu danken und ihr zu gratulieren. Aber sie stieß sie grob von sich. »Dasselbe gilt auch für euch Sterbliche! Laßt mich in Ruhe! Ich möchte, daß ihr bis morgen hier verschwunden seid!«

Mit einer schroffen, zornigen Geste ließ sie ihre Schilde sinken, wandte ihnen allen den Rücken zu und kehrte über die Brücke in die Einsamkeit ihrer Insel zurück. Als niemand es wagte, ihr zu folgen, stellte sie fest, daß sie einen schalen Sieg errungen hatte.

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