7 Die wilde Jagd

Aurian stand zitternd auf dem verlassenen Hof, allein – bis auf die Geister. In dem bleichen Mondlicht nahmen die zur Akademie gehörigen Gebäude den elfenbeinernen Schimmer alter Knochen an. Die leeren, schwarzen Öffnungen der Türen und Fenster waren ein Hohn auf früheres Leben, wie die geistlosen Züge eines Schädels, der die halb vertraute Erinnerung an ein geliebtes, nunmehr zu Staub zerfallenes Gesicht enthielt; das verlassene Gefäß eines Bewußtseins, das vor langem schon entflohen war.

Ein dünner, kalter Wind kroch heulend zwischen den leerstehenden Gebäuden hindurch, schreckte in dunklen Ecken schattenhafte Gestalten auf und füllte die Luft mit wispernden Geisterstimmen. Da waren Miathan und Eliseth, die Erzverschwörer; Davorshan und der Feuerma-gusch Bragar, deren Ambitionen ihre Fähigkeiten übertroffen hatten; die Heilerin Meiriel, die, verloren in ihrem Wahn, in einem fernen Land Aurians Schwert zum Opfer gefallen war … Alle waren sie heute nacht hier versammelt und warteten, von Schatten umdrängt, auf ihre Rache an der einen Magusch, die es gewagt hatte, sich ihnen zu widersetzen …

»Verflucht!« schnaubte Aurian. »Geister, wahrhaftig!« Dann verwies sie ihre ungebärdige Phantasie in ihre Schranken, preßte die Schulter an die Tür des Maguschturmes und erzwang sich ihren Weg ins Innere des Gebäudes.

Sobald sie die erste Biegung hinter sich hatte, stellte das pechschwarze Treppenhaus selbst für ihren Maguschblick eine Herausforderung dar. Aurian hob die Hand und rief einen Ball zischenden Maguschlichts herbei, den sie über ihrem Kopf schweben ließ. Die flachen, von einer Eisschicht überzogenen Marmorstufen schlängelten sich vor ihr in die Höhe. Schatten aus der Sphäre kalten Feuers zuckten über die verwitterten Wände und die mit Spinnweben überzogene Decke. Sie waren auch die Ursache für die Bewegungen, die Aurian nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte und die sie wie angewurzelt stehenbleiben ließen. Und jedesmal fuhr sie dann herum, die Hand um den Stab der Erde gelegt, um sich einer nicht existierenden Bedrohung zu stellen.

»Sei doch nicht so eine verdammte Närrin«, rief Aurian sich angewidert zur Ordnung. »Es hat keinen Sinn weiterzugehen, wenn du in jedem Schatten Gespenster siehst.« Das Schlimme war nur, daß sie genau wußte, daß Geistwesen existieren konnten – und es auch taten.

Die Magusch biß die Zähne zusammen und ging weiter die Treppe hinauf. Die Quartiere der Zwillinge, Bragars Räume, Eliseths Zimmerflucht – einen Raum nach dem anderen fand sie verlassen und leer, und jede Spur der früheren Bewohner war wie ausgelöscht. Ein spürbares Unbehagen erfaßte sie wie ein eisiger Finger, der über ihren Rücken strich. Das konnte doch unmöglich seine Richtigkeit haben? Selbst wenn die Akademie verlassen worden war und alle Magusch tot, hätten doch immer noch die verfaulenden Überreste ihrer Möbel und Besitztümer da sein müssen!

Als Aurian an die vertraute Tür zu ihrem eigenen Quartier kam, zögerte sie, denn sie wollte im Grunde gar nicht wissen, was dahinter lag. Diese Räume waren so viele glückliche Jahre lang ihr Zuhause gewesen – sie bargen kostbare Erinnerungen an Forral und Anvar und an den toten Saidras, ihren Freund, den Archivar, der sich in der Nacht der Todesgeister für sie geopfert hatte. Lächerlicherweise hatte sie das Gefühl, als würde der Anblick ihrer leeren und verlassenen Räume einen großen Teil ihrer früheren Existenz auslöschen …

»Lächerlich ist genau das richtige Wort«, sagte Aurian sich entschlossen. Besitztümer waren schließlich nicht so wichtig, und nichts – nichts – konnte die Erinnerung an Menschen auslöschen, die sie so sehr geliebt hatte. Trotzdem tat es weh, in diese trostlosen, von Echos erfüllten Räume zu treten. Was war aus den moosgrünen Teppichen und Vorhängen geworden; was aus ihrem behaglichen Bett mit den schweren Brokatvorhängen, die sie des Nachts so häufig zugezogen hatte, um für sich und Forral und für ihre gemeinsame Freude einen sicheren Hafen zu schaffen? Was war aus den leuchtenden Stoffen geworden, die zu kaufen der Schwertkämpfer sie überredet hatte, als sie durch die Läden der Großen Arkade geschlendert waren? Was war aus ihren Kristallen zum Herbeirufen der Mächte und zum Hellsehen geworden, was aus ihrer unersetzlichen Sammlung von Büchern und Schriftrollen und aus Anvars kostbarer Gitarre, die sie ihm vor Jahren zu einem glücklichen Sonnwendfest geschenkt hatte? Damals waren sie zu dritt gewesen, Anvar, Forral und sie selbst. Eine Woge unerträglicher Einsamkeit und Sehnsucht schlug über ihr zusammen, und das Gefühl war so stark, daß sie beinahe auf die Knie gesunken wäre. Wo waren sie jetzt, diese beiden, die sie mehr als das Leben selbst geliebt hatte? Forral tot, und Anvar – wo? Wo? Aurian schauderte und entfloh den traurigen, verlassenen Gemächern. Ihr Maguschlicht schwebte über ihr und war ihren eiligen Füßen immer einen Schritt voraus.

Also nach oben – und noch weiter hinauf um die nächste Biegung der Treppe. Nur eine Zimmerflucht blieb noch zu durchsuchen. Trotz Aurians Entschlossenheit wurden ihre Füße scheinbar aus eigenem Antrieb langsamer. Wenn sie schon gezögert hatte, ihre eigenen Räume zu betreten, um wie vieles stärker mußte jetzt ihre Furcht sein, in Miathans Domäne einzudringen? Als sie das letzte Mal einen Fuß in die Höhle des Erzmagusch gesetzt hatte, hatte sie die Bedrohung der furchtbaren Todesgeister gespürt und mit angesehen, wie die todbringenden Geschöpfe ihren geliebten Forral ermordeten, jene Geschöpfe, die durch die unheilige, widernatürliche Benutzung des Grals der Wiedergeburt auf den Plan gerufen worden waren. Als sie sich der Tür näherte, stürmten die Erinnerungen ungebeten auf sie ein, genauso wie seinerzeit diese entsetzlichen, auf Miathans Geheiß entfesselten Greuel in den Raum gestürzt waren, in dem ihr Liebster in seinem Blut lag. Die Angst ließ Aurian am ganzen Körper zittern und auf dem obersten Treppenabsatz erstarren.

Es erforderte mehr Mut, als Aurian sich bisher zugetraut hatte, diese Tür zu öffnen, aber in ihrem Herzen wußte sie, daß sie es tun mußte. Wußte, daß sie, wenn sie nur noch einen Augenblick lang zögerte, niemals die Kraft dazu aufbringen würde. Also legte sie entschlossen die Hand auf den Riegel und lauschte mit jedem Sinn auf die verräterischen Zeichen einer magischen Falle oder eines Wachzaubers. Aber es war nichts dergleichen zu entdecken – und das allein genügte, um die Magusch zu äußerster Vorsicht zu mahnen. Ob er lebte oder tot war, es hätte Miathan überhaupt nicht ähnlich gesehen, seine privaten Räume den neugierigen Blicken eines jeden zu enthüllen, der zufällig des Weges kam – und schon gar nicht, wenn es sich um einen anderen Magusch handelte. Wenn er seine Räume nicht irgendwie geschützt hatte, dann mußte es einen guten Grund dafür geben.

Vorsichtig nahm Aurian den in Schlangenform geschnitzten Stab der Erde aus ihrem Gürtel, drehte ihn um und benutzte das untere Ende, um die Tür aufzudrücken. Aus der Dunkelheit dahinter strömte ihr der widerliche Geruch von Aas entgegen. Die Magusch trat hastig einen Schritt zurück und rutschte von der obersten Stufe ab. Nur ein verzweifelter Griff nach dem Geländer bewahrte sie vor einem Sturz.

»Sieben verfluchte Dämonen!« Tiefe Finsternis umfing sie – ihr Licht war erloschen, als sie stolperte. Abgesehen von ihrem eigenen Aufschrei blieb alles reglos. Die Stille war genauso undurchdringlich und tot wie der widerliche, klebrige Gestank, der die Luft verpestete. Dennoch begann in Aurians Gedanken ein vertrauter Laut Gestalt anzunehmen – das fauchende, schnarrende Summen roher magischer Kraft. Der Erdenstab in ihrer Hand vibrierte zur Antwort und reagierte mit einem smaragdfarbenen Schimmer auf seinen Bruder. Das Herz der Magusch schlug schneller. Das Schwert! Das Flammenschwert war hier! Aurian klammerte sich an das glatte Holzgeländer, zog sich hoch und ignorierte das Pochen in ihrem Schienbein und den nagenden Schmerz in ihrem linken Arm, der für einen kurzen Augenblick ihr gesamtes Gewicht hatte tragen müssen. Dann fuhr sie sich mit dem Ärmel über die tränenden Augen, ließ ein neues Maguschlicht aufflammen – so hell sie es vermochte – und nahm den Stab in die linke Hand. Dann zog sie mit der Rechten ihr Schwert und schlich sich vorsichtig in Miathans Höhle – nur um sogleich wie gebannt vor Entsetzen und Verzweiflung stehenzubleiben.

Das Maguschlicht flammte auf und beleuchtete jedes einzelne, gräßliche, unausweichliche Detail des schauerlichen Anblicks, der sich ihr hier bot. Aurian erfaßte die gesamte Szene in einem einzigen, erstarrten Augenblick des Grauens. Der Fußboden, die Wände – ja sogar die Decke des Zimmers war mit Blut besprenkelt. Ein kopfloser Leichnam lag mit verzerrten Gliedern vorm Feuer – das Flammenschwert hatte sich durch das Herz gebohrt und nagelte den Toten am Boden fest. Die Klinge des Schwertes verströmte ein blendendrotes, gleißendes Licht. Und auf den Griff des Schwerts aufgespießt, steckte der Kopf Anvars.

Ein Aufschrei des Entsetzens entrang sich Aurians Seele – aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie konnte den Anblick nicht ertragen, war jedoch außerstande, den Blick abzuwenden. Das Gesicht ihres Geliebten war zu einer Fratze der Qual verzerrt, und doch spürte ihr Blick jeden einzelnen seiner geübten Züge auf. Dann – ihr Herzschlag stockte, setzte aus und begann zu rasen, als die Augen der Leiche sich langsam öffneten, Blut weinten und sie mit einem glasigen, leeren Blick anstarrten. Die Knöchel von Aurians rechter Hand, mit der sie den Erdenstab umklammert hielt, wurden weiß, als die grauen Lippen sich plötzlich öffneten. Anvars Leiche begann zu sprechen – aber es war nicht seine Stimme, die durch den Raum klang, sondern der schneidende, höhnische Tonfall Eliseths.

»Du solltest dich bei mir bedanken, Aurian – ich habe dir einen Gefallen getan. Ich habe das Opfer gebracht, das du aus Schwäche und Feigheit nicht zu vollbringen vermochtest. Und hier ist das Flammenschwert; es ist mit dem Blut deines Geliebten gezeichnet und an dich gekettet. Es wartet nur noch auf dich. Es wartet darauf, daß du die Hand ausstreckst und es für dich forderst, dann wird der Sieg dein sein und mit ihm die Macht, die ganze Welt zu beherrschen. Nur zu – nimm es dir. Nimm es dir, wenn du es wagst. Ergreife das Schwert und nimm die Welt in deine Hände – wenn du an meinen Wächtern vorbeikommst!«

Hinter Anvar, außerhalb der Reichweite des verblassenden Maguschlichtes, regte sich etwas. Aus dem Mund von Anvars Leiche und aus den toten, blicklosen Augen strömten Schwaden dunklen Dunstes, die sich vereinigten und wuchsen und zu einer Legion gewaltiger, zuckender Gestalten formten. Bösartige, fratzenhafte Gesichter pulsierten und flackerten in einem wilden Strudel kalter Grausamkeit, in dem sich ihre Züge zu immer neuen Ungeheuern zusammenfanden. Eliseth hatte die Nihilim gerufen. Die Todesgeister waren zurückgekehrt, um Aurians Leben zu fordern, wie sie einst das Leben Forrals gefordert hatten.

Jemand schrie. Nach einem kurzen Augenblick begriff Aurian, daß sie es selbst war. Endlich riß sie sich von dem makabren Anblick der verstümmelten Leiche Anvars los, drehte sich um und floh Hals über Kopf die Turmtreppe hinunter, aber Eliseths Lachen verfolgte sie – ebenso wie die Todesgeister.

Schluchzend und um Atem ringend stürzte die Magusch durch die Turmtür auf den Hof – und fuhr beim Klang einer neuen Stimme herum.

»Aurian? Aurian!« Schwach und geisterhaft schien die Stimme aus der Bibliothek zu dringen, die links von ihr auf der anderen Seite des Hofes lag – was nicht weiter verwunderlich war, denn es war Finbarr, der nach ihr rief. Finbarr, der sie schon einmal gerettet hatte. Besinnungslos drehte Aurian sich um und rannte auf das Geräusch zu – durch das große Portal, durch die von Echos widerhallende, leere Bibliothek und schließlich durch die verschnörkelte Eisentür am anderen Ende des Gebäudes, die zu den Archiven führte. Die weit verzweigten Katakomben schienen unter ihren Schritten zu erbeben, als die Magusch durch die endlosen Korridore rannte. Immer noch folgte sie dem Faden von Finbarrs schwacher, kaum faßbarer Stimme; mit jeder Faser ihres Wesens war sie sich der Todesgeister bewußt, die ihr immer näher rückten.

»Aurian …« Die Stimme war jetzt links von ihr und kam aus einem dunklen, schmalen, modrigen Korridor, den Aurian noch nie gesehen hatte. Obwohl der Anblick ihr nicht gefiel, blieb ihr keine Zeit mehr zu zögern – die Nihilim waren ihr dicht auf den Fersen. Also warf Aurian ihr flackerndes Maguschlicht auf die vor ihr liegenden Steinfliesen und stürzte sich verzweifelt in das dunkle Maul des Tunnels – und direkt in Miathans Arme.

»Ich wußte, daß du irgendwann zu mir zurückkehren würdest!« Die toten Juwelen der Augen des Erzmaguschs leuchteten triumphierend auf. Obwohl ihr Geist einen schrillen Protestschrei ausstieß, lag Aurians Körper schlaff in seinen Armen, und das hypnotische Glitzern dieser grauenvollen Augen nahm ihr alle Kraft. Miathan konnte ihr ohne jede Mühe den Erdenstab entwenden. Sein hageres, ausgezehrtes Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem eigenen entfernt, und sein rasselnder Atem roch wie die Luft aus einem offenen Grab. Aurian nahm jeden Funken ihres Willens zusammen und spie ihm ins Gesicht. Mehr konnte sie nicht tun. Das Lächeln des Erzmaguschs war kalt und grausam. Langsam drehte er die Magusch herum, bis sie den Schwarm der Nihilim sehen konnte, die sich wartend im Schatten hielten.

»Ich lasse dir die Wahl, mein Liebes.« Miathans Stimme war ein obszöner Singsang. »Unterwirf mir deinen Körper, deinen Willen und deine Kräfte – oder unterwirf dich den Todesgeistern als ihr Opfer. Wähle, Aurian. Wähle!«

»Niemals! Niemals werde ich mich dir unterwerfen!« Und dann war plötzlich Shia da, zwischen der Magusch und den lauernden Geistern. »Aurian! Wach auf – du träumst! Wach auf!«

Als die Stimme endlich das Geräusch ihrer eigenen Schreie zu übertönte, spürte Aurian einen brennenden Schlag im Gesicht. Sie versuchte, sich zur Wehr zu setzen, aber etwas Schweres drückte sie herunter und nahm ihr jede Bewegung. Als sie die Augen öffnete, sah sie Maya, die mit erhobener Hand über ihr saß und sich anschickte, erneut zuzuschlagen. Ganz in ihrer Nähe kniete mit ernstem Gesicht D’arvan, und dahinter konnte Aurian zwei Pferde sehen, die sie stumm beobachteten. Im frühmorgendlichen Nebel zwischen den dunklen Bäumen wirkten ihre Umrisse ein wenig verschwommen. Aurian atmete tief durch; der Duft feuchter Erde und das raschelnde Wispern von Blättern ließen einen Wald ahnen. Die warme Brise und der schwere, berauschende Blütenduft kündeten von Sommer.

»Verflucht! Wo bin ich?« murmelte die Magusch.

»Keine Angst«, beschwichtigte Maya sie. »Du bist in Sicherheit.« Sie half der Magusch, sich aufzusetzen. »Aber das war wirklich ein beachtlicher Alptraum, meine Freundin!«

»Ein Alptraum?« wiederholte Aurian verständnislos. »Ich erinnere mich nicht …«

»Aber ich!« Eine riesige schwarze Gestalt trat aus dem Gebüsch.

»Shia!« rief Aurian.

Eine zweite große Katze mit schwerem Knochenbau und goldenen Hecken in einem ebenholzschwarzen Fell folgte Shia aus dem Gebüsch, aber obwohl Aurian froh war, daß Khann das Tor in der Zeit sicher durchschritten hatte, galt ihre Aufmerksamkeit doch zuerst ihrer alten Freundin.

Shias Schnurren war laut genug, um Aurians Knochen vibrieren zu lassen. »Ich bin gekommen, um dich zu wecken.« Ihre Gedankenstimme hallte merkwürdig hohl in Aurians Kopf wider. »Ich hatte während deines elenden Traums Kontakt zu deinem Geist – und das war keine angenehme Erfahrung.« Sie rieb ihren Kopf an Aurians Gesicht, und die Magusch erhob sich auf die Knie, um sie zu umarmen. »Keine Angst, liebe Freundin. Es war nur ein Traum. Wir werden Anvar schon wiederbekommen.«

»Anvar …« Als die Erinnerung an den Traum mit all seinen lebhaften und schauerlichen Einzelheiten zurückflutete, verfiel Aurian in ein unkontrolliertes Zittern. Niemals in ihrem Leben würde sie diese schreckliche Vision von Anvar vergessen, dessen Kopf auf das Schwert der Rammen gespießt war …

Maya legte der Magusch tröstend eine Hand auf den Arm. »Es ist alles gut, Aurian. Ganz gleich, wie furchtbar es war, es war nur ein Traum.« Sie bückte zu D’arvan auf. »Hol ihr etwas zu trinken, ja?«

Als D’arvan zwischen den Bäumen verschwunden war, drehte Maya sich wieder zu der Magusch um. »Ich weiß bereits über den Traum Bescheid. Deine Gedanken waren so intensiv – wahrscheinlich weil du so große Qualen ausgestanden hast –, daß D’arvan die Einzelheiten aus deinen Gedanken lesen konnte. Und er hat sie an mich weitergegeben.« Sie runzelte die Stirn. »Es tut mir leid, Aurian – wir hätten dich früher wecken sollen, aber in Anbetracht der Tatsache, wo wir gelandet sind, dachten wir, der Traum würde vielleicht etwas bedeuten. Als wir aus dieser Sache herauskamen – was immer es gewesen sein mag –, waren wir in einem so traurigen Zustand, daß wir alle eine Weile geschlafen haben. Nur du wolltest einfach nicht aufwachen; D’arvan meinte, du littest noch unter den Nachwirkungen deines Kampfes mit dem Schwert, und wir sollten dich in Ruhe lassen. Also sind die Katzen weggegangen, um Wache zu halten, während wir hier bei dir blieben …«

Aber Aurian hörte nicht mehr zu. Mayas Worte hatten genügt, um das Grauen ihres Traums für den Augenblick aus ihren Gedanken zu verscheuchen. Statt dessen erinnerte sie sich an ihre letzte Schlacht im Tal und die Entdeckung des Flammenschwerts. Eine Woge heißer Scham schlug über ihr zusammen, als sie an das Scheitern bei der Inbesitznahme des Artefakts dachte und an die katastrophalen Konsequenzen ihres Versagens. Diese Pferde, die still zwischen den Bäumen grasten, hatte sie auch in Menschengestalt gekannt – Schiannath, der Herdenfürst der Xandim, und das Windauge Chiamh, der Seher der Xandim und ein guter Freund. Durch ihr Unvermögen, das Schwert in Besitz zu nehmen, waren die gefährlichen, unberechenbaren Phaerie abermals auf die Welt losgelassen worden. Und sie hatten ihre Macht benutzt, um sich ihre legendären Pferde zurückzuholen und die Xandim, die ihre Gestalt zu ändern vermochten, in einfache Tiere verwandelt.

Aber das war noch nicht das Schlimmste. Aurian erinnerte sich daran, daß sie Eliseth und dem verwundeten, hilflosen Anvar gefolgt war – in den Riß, der sich in der Wirklichkeit aufgetan hatte. Dann hatte sie versucht, die beiden durch ein endloses, schleimig-graues Nichts zu verfolgen, das nur von leuchtendbunten Blitzen durchbrochen wurde. Sie erinnerte sich an die Übelkeit und die Orientierungslosigkeit und an die hilflose Panik, als ihre Beute schließlich verschwunden war. Sie erinnerte sich auch an die letzte verzweifelte Anstrengung, die sie – zusammen mit diesen lieben und treuen Freunden, die ihr gefolgt waren – zurück in die wirkliche Welt gebracht hatte. Und mit einem furchtbaren, flauen Gefühl in der Magengrube wurde Aurian bewußt, daß Eliseth dank ihres, Aurians, Scheitern nicht nur Anvar in der Gewalt hatte, sondern auch zwei der Artefakte – den Gral der Wiedergeburt und das allmächtige Flammenschwert … Aurian stöhnte und durchsuchte mit jäher Panik das dicke Bett aus Blättern. Als erstes sah sie den Erdenstab sicher und unversehrt im Gras liegen, dann die Harfe der Winde. Als sie das kostbare Artefakt berührte, reagierte es mit einer klagenden Kaskade bebender Töne, als trauere es ebenfalls um Anvar, der es zu seinem Besitz gemacht hatte.

In diesem Augenblick kehrte D’arvan zurück. Er setzte sich neben sie und drückte ihr einen aus Birkenborke geformten Becher in die Hand. »Hier, danach wirst du dich besser fühlen«, sagte er zu ihr. »Tut mir leid, daß wir nichts Kräftigeres haben – du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.«

»Das kannst du laut sagen«, murmelte Aurian. Aber obwohl ihre Nerven immer noch vibrierten und ihre Sorgen sie niederdrückten, erfüllte der Anblick des provisorischen Bechers sie mit glücklichen Erinnerungen. Sie fing Mayas Blick auf. »Ich sehe, du hast ihm ein paar von Forrals Überlebenstechniken in der Wildnis beigebracht …« Ihre Worte verloren sich. Die Kriegerin hatte vorhin irgend etwas darüber gesagt, wo …

»Maya?« Die Magusch umklammerte den zerbrechlichen Birkenbecher so fest, daß er in ihren Händen zerknitterte. »Wenn man bedenkt, wo wir gelandet sind, sagtest du. Wo sind wir denn gelandet?«

Die kleine, dunkelhaarige Kriegerin seufzte. »Wir sind im Wald, ein Stück südlich von Nexis.«

Aurian ließ den unbrauchbar gewordenen Becher fallen, ohne es überhaupt zu bemerken. »Wie sieht es in Nexis aus?« fragte sie leise.

Maya biß sich auf die Lippen. Es widerstrebte ihr offenkundig, Aurians Frage zu beantworten, und schließlich war es D’arvan, der das Wort ergriff.

»Es hat sich verändert, Aurian. Nexis hat sich mehr verändert, als das in dem einen Jahr unserer Abwesenheit möglich sein sollte.«

Die Magusch runzelte die Stirn und versuchte, trotz des Hämmerns in ihrem Kopf ihre Gedanken zu ordnen. »Wir sind also gereist … wir haben uns eindeutig zwischen verschiedenen Orten bewegt – aber auch zwischen verschiedenen Zeiten“?«

D’arvan nickte. »Es ist schwer, diesen Gedanken zu akzeptieren, aber was sonst könnte eine solche Veränderung der Stadt erklären?«

Aurian fröstelte innerlich. »Zeig’s mir«, verlangte sie.

»Wahrhaftig, Magusch. Sieh dir deine Stadt an und begreife, daß die Phaerie in deiner Abwesenheit nicht müßig gewesen sind.« Hellorin lächelte düster und zog sich von seinem Fenster des Schauern zurück. Obwohl sein Gesicht völlig ausdruckslos blieb, wie es sich für den Fürsten der Phaerie geziemte, konnte er seine Aufregung kaum bezähmen. Oh, wie lange er auf diesen Tag gewartet hatte! Er hatte immer gewußt, daß sein Sohn eines Tages zurückkehren würde – und als Bonus hatte D’arvan die verschwundenen Xandim-Pferde mitgebracht.

Von seinem hohen Turm in dem raffiniert gebauten Palast sandte Hellorin einen Gedankenruf aus, der bis in die entlegensten Winkel seiner neuen Stadt hallte. Diesmal würden sie nicht erst auf Mondlicht warten. Die Jagd mußte sofort losgehen. Sie durften keinen Augenblick verlieren, damit dem Waldfürsten seine Beute nicht ein zweites Mal entkam.

Als die Katzen, die Magusch und Maya sich so lautlos wie nur möglich über die weiche Decke des lebendigen Waldmooses bewegten, konnte Aurian spüren, wie der Morgentau nicht nur ihren Umhang, sondern auch die ledernen Xandimgewänder durchdrang, die sie noch immer trug. Sie fühlte sich einsam und haltlos, benommen und ohne Ziel. Dieser Wechsel in eine andere Zeit und an einen anderen Ort war bei weitem zu schnell gegangen. Für die Magusch war es, als lägen die furchtbare Schlacht im Tal und ihre katastrophale Begegnung mit dem Flammenschwert erst eine Stunde zurück. Noch immer konnte sie den Rauch in ihrem Haar riechen, den Rauch des Feuers, das Eliseth im Wald gelegt hatte. Und ihre ledernen Gewänder waren immer noch an manchen Stellen von Cygnus’ Blut befleckt und steif. Als sie den Waldrand erreichte und zwischen den letzten Bäumen hindurch spähte, krampfte sich Aurians Magen zusammen. Es war tatsächlich Nexis – so vieles war ihr immer noch vertraut –, aber wie sehr die Stadt sich doch verändert hatte!

Die Gefährten waren oberhalb eines steilen Hangs aus dem Wald getreten, wo ein Erdrutsch alle Bäume, die früher dort gewachsen waren, in den Fluß gerissen hatte. Unterhalb der Anhöhe, auf der Aurian stand, fand der grüne Wald ein jähes Ende, und darunter sah man eine Wüste aus Steinbrocken, Schlamm und nackter, mit geborstenen und gesplitterten Baumstämmen übersäter Erde. Zwar wurde der Fluß von den Trümmern eingedämmt, die der Erdrutsch hügelabwärts gerissen hatte, aber er hatte diese Hindernisse mittlerweile überwunden und füllte das obere Tal mit einem langen, schmalen See aus. Unterhalb der erdrückenden Masse aus Erde und Bäumen war der Fluß zu einem dürftigen, stehenden Bächlein dahingeschwunden, das aufs Geratewohl durch den schlammigen Graben sickerte, der einstmals das Flußbett gewesen war.

Jetzt, da der Fluß, der Lebensnerv der Stadt, abgestorben war, war auch Nexis zu einem langsamen Tod verurteilt. Die Lagerhäuser am nördlichen Flußufer erhoben sich hoch und trocken auf ihren Pfahlaufbauten über dem verwaisten Wasserlauf. Es sah aus, als wären viele der Lagerhäuser durch Brände zerstört worden. Miathans gewaltige neue Mauern, die Zanna der Magusch während ihres kurzen Aufenthalts im Versteck der Nachtfahrer beschrieben hatte, waren rissig geworden und an manchen Stellen sogar vollends eingestürzt. Die Akademie jedoch ragte immer noch hoch auf ihrem Felsen in der Biegung des ausgetrockneten Flußbetts gen Himmel. Soweit Aurian aus dieser Entfernung sehen konnte, waren die Bibliothek und der Maguschturm unversehrt geblieben, obwohl die Wetterkuppel zerborsten war wie die Schale eines zersplitterten Eis. War Anvar irgendwo dort unten, so wie in ihrem Traum? Schon der Gedanke daran war Aurian schier unerträglich.

Die Magusch riß ihre Aufmerksamkeit von der Akademie los und zwang sich, die Überreste von Nexis näher zu betrachten. Was war mit den Häusern auf den Nordhängen des Tals geschehen? Die Umrisse der einst so ordentlichen und regelmäßigen Straßen schienen sich verändert und ihre klare Umgrenzung verloren zu haben, und soweit Aurian sehen konnte, waren viele jener Häuser zerstört worden. Weiter unten bot sich ebenfalls ein Bild der Zerstörung. Obwohl das große, überkuppelte Gebäude der kreisförmigen Gildehalle unversehrt zu sein schien, war das Dach der großen Arkade doch teilweise eingestürzt, so daß das Labyrinth der Marktbuden, Gänge und Gehwege ungeschützt den Elementen preisgegeben war. Quer über den Exerzierplatz der Garnison verlief ein breiter Riß, und Aurian fragte sich beklommen, ob der äußere Teil des Plateaus irgendwann abbrechen und auf den unteren Teil der Stadt herniederkrachen würde.

Während es langsam heller wurde, wandte die Magusch sich von dem einstmals so gewaltigen, jetzt aber versiegten Fluß ab und ließ ihren Blick auf der veränderten Stadt in der verwüsteten Landschaft verweilen. Entsetzt schüttelte sie den Kopf. »Was kann da nur passiert sein?« Im Zusammenhang mit dem Erdrutsch, der den Fluß eingedämmt hatte, schien die Zerstörung auf eine Art Erdbeben hinzuweisen. Aber warum? Das Umland von Nexis war doch früher immer vollkommen ruhig gewesen. Aber jetzt fiel ihr wieder ein – wie hatte sie das nur vergessen können? –, daß Eliseth bei ihrem Angriff auf das Tal den Gral der Wiedergeburt besessen hatte. Das bedeutete, daß sie eine Möglichkeit gefunden haben mußte, Miathan zu besiegen. Hatten die beiden Magusch miteinander gekämpft? War das der Grund für diese gewaltigen Schäden in der Stadt? Andererseits, wenn der Erzmagusch getötet worden war, hätten Anvar und sie seinen Tod doch gewiß gespürt. Also, wo war Miathan jetzt? Mit einem Schaudern dachte Aurian an ihren Alptraum.

»Was meinst du, wieviel Zeit haben wir verpaßt?« fragte Maya leise.

Aurian zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Diese Art Zerstörung hätte Jahre in Anspruch nehmen können – oder nur einen einzigen Tag.«

»Das glaube ich nicht«, wandte D’arvan ein. »Es kann nicht an einem einzigen Tag geschehen sein – zumindest ist seit diesem Erdrutsch mehr als ein Tag vergangen. Seht doch nur …« Der Erdmagusch wies auf den unförmigen Erdhügel, der den Fluß eindämmte. »Genau kann man das zwar nicht sagen, aber was da auf dieser frischen Erde wächst, ist mindestens ein Jahr alt – wahrscheinlich älter, denke ich.«

»Da könntest du recht haben.« Aurian schaute blinzelnd in die Ferne und wünschte sich besseres Licht – noch mehr aber wünschte sie sich, daß Chiamh jetzt bei ihr wäre; Chiamh mit seiner guten Laune und seiner Fähigkeit, sie mitzunehmen, wenn er den Wind ritt. Auf diese Weise hätte sie sich die zerstörte Stadt genauer ansehen können.

»Natürlich habe ich recht«, erwiderte D’arvan mit fester Stimme. »Deine Mutter war eine gute Lehrerin.«

Maya machte ein besorgtes Gesicht. »Aber wenn du recht hast, Liebster – und ich will das durchaus nicht bestreiten –, warum, in Gottes Namen, haben die Leute deswegen nichts unternommen? Wenn die Bewohner der Stadt sich vernünftig organisiert hätten, hätte es nicht mal ein Jahr gedauert, diesen Schlamm zu entfernen, damit der Fluß wieder in sein altes Bett zurückfindet.« Sie runzelte die Stirn. »Was die Frage aufwirft …«

»Wer jetzt das Kommando in Nexis hat?« beendete Aurian ihren Satz. »Wem könnte es etwas nützen, die Stadt in diesem furchtbaren Zustand zu belassen?« Mit verbitterter Miene drehte sie sich zu ihren Gefährten herum. »Wir mögen zwar nicht wissen, was dort unten vorgeht, aber eines wissen wir mit Sicherheit – weder Vannor noch Parric, noch irgendein ein anderer von unseren Freunden haben hier das Sagen. Keiner von ihnen würde die Stadt so herunterkommen lassen. Und wenn Nexis nicht von unseren Freunden beherrscht wird …«

»Müssen wir annehmen, daß die Stadt sich in den Händen unserer Feinde befindet«, ergänze Maya grimmig.

Als die Magusch und ihre Gefährten zu den Pferden zurückkehrten, stellten sie fest, daß Khanu und Shia auf der Jagd gewesen waren. Sie hatten ihren Menschenfreunden zwei fette Kaninchen übriggelassen. Die Gefährten beschlossen, sich zuerst einmal auszuruhen und etwas zu essen, bevor sie nach Nexis hinuntersteigen würden, um in der Akademie nach Hinweisen auf den Aufenthaltsort von Miathan und Eliseth zu forschen. Selbst die Magusch, die ihre Ungeduld kaum zu bezähmen vermochte, mußte einsehen, daß es töricht gewesen wäre, sich von Hunger und Müdigkeit geschwächt einer unbekannten Gefahr zu stellen. Außerdem war die Abenddämmerung ein günstigerer Zeitpunkt, um ungesehen in die Stadt zu gelangen. Sobald Maya und D’arvan mit der Zubereitung der Kaninchen beschäftigt waren, stahl Aurian sich davon und verschwand im Wald. Sie war sicher, daß ihre beiden Weggefährten nach ihrer langen Trennung sich nach ein wenig Ungestörtheit sehnten – und was sie selbst betraf, so wollte sie allein sein, um nachzudenken.

Als ihr der scharfe Geruch angebrannten Fleischs in die Nase stieg, löste Maya sich widerstrebend aus D’arvans Umarmung. Fluchend drehte sie die auf Spießen über das Feuer gehängten Kaninchen und zog die brutzelnden Kadaver ein Stückchen weiter von den Flammen weg.

»Vorsicht.« D’arvan sah sie mit einem halb schuldbewußten Grinsen an. »Aurian wird nicht begeistert sein, wenn wir ihr Frühstück verbrennen lassen.«

Maya, die ganz damit beschäftigt war, ihre Kleider glatt zu streichen, erwiderte sein Lächeln. »Ich bin sicher, sie würde uns unter den gegebenen Umständen verzeihen, aber es wäre nicht fair, wenn wir sie aus Selbstsucht hungern ließen.« Aber sosehr sie sich auch bemühte, die Kriegerin brachte es nicht fertig, ihrer Stimme einen reuigen Klang zu geben. Obwohl es unvorsichtig und egoistisch schien, in diesem Augenblick an dergleichen zu denken, waren sie und D’arvan doch so lange getrennt gewesen, daß sie sich einfach Heben mußten. Außerdem wußte sie, daß Aurian sich nur deshalb taktvoll entfernt hatte, um ihnen ein paar Augenblicke der Ungestörtheit zu schenken – aber wenn sie und D’arvan sich lange genug in den Armen gelegen hätten, um die Kaninchen verbrennen zu lassen, wäre die Magusch mittlerweile längst wieder da gewesen.

Maya unterdrückte einen Anflug von Schuldbewußtsein und ärgerte sich über ihre Gedankenlosigkeit. Für uns mag das alles ja schön und gut sein, dachte sie – aber die arme Aurian hat ihren Liebsten verloren. Zum zweiten Mal. Der Gedanke an Forral tat ihr immer noch weh – er war Mayas Kommandant und ein guter Freund gewesen. Aber Aurian war ebenfalls ihre Freundin, und sie hätte es der Magusch nicht mißgönnt, wenn sie mit Anvar glücklich geworden wäre – wenn Anvar nur gefunden werden konnte. Und wir sollten ihr bei der Suche nach ihm helfen, dachte Maya. Stirnrunzelnd drehte sie sich zu D’arvan um. »Meinst du nicht, einer von uns sollte Aurian nachgehen? Wir dürfen sie gerade jetzt nicht allein ihren Grübeleien überlassen.«

»Ich glaube nicht, daß Aurian wirklich grübelt – außerdem ist Shia ihr schon nachgegangen.« D’arvan zeigte auf den verwaisten Platz auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers. Die Kriegerin hob eine Augenbraue und schüttelte dann kläglich den Kopf. »Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen. Nicht nur, daß diese Geschöpfe so furchterregend wirken – mir macht auch die Vorstellung zu schaffen, daß ihr beide, du und Aurian, mit ihnen reden könnt, als wären es ganz normale Leute.« Sehr zu Mayas Überraschung war es Shia gewesen, die ihnen ein Gutteil Informationen über den Verlauf von Aurians Abenteuern gegeben hatte, während die Magusch selbst schlief. D’arvan grinste. »Von ihrem Standpunkt aus betrachtet, sind sie ganz normale Leute, Liebes. Shia steht Aurian so nahe wie wir – wahrscheinlich sogar näher.«

Maya schnitt eine Grimasse. »Vielleicht bin ich ja nur eifersüchtig. Ich wünschte, ich könnte so mit Shia reden wie du.«

»Das wünschte ich auch.« D’arvan lächelte. »Ich glaube, ihr beide würdet sehr gut miteinander auskommen. Ihr habt sehr viel gemeinsam – und wenn du darüber nachdenkst, ist das Ganze nicht merkwürdiger als die Tatsache, daß diese beiden Pferde da drüben früher Menschen waren.«

Die Kriegerin riß die Augen auf. »Erzähl mir jetzt bloß nicht, daß du mit denen auch reden kannst!«

D’arvans Gesichtsausdruck wurde sofort wieder ernst. »Ich wünschte, ich könnte es. Aber nicht mal Aurian kann in ihre Gedanken eindringen, um die Menschen zu finden, die sie einmal waren. Wenn es uns nicht gelingt, meinen Vater dazu zu überreden, sie zurückzuverwandeln, sind Chiamh und Schiannath – genauso wie die anderen Xandim – so gut wie tot.«

Der trostlose Klang seiner Stimme ließ Maya schaudern. »Und du nimmst Hellorin das, was er getan hat, sehr übel«, fügte sie mit instinktiver Sicherheit hinzu.

»Natürlich tue ich das!« D’arvan schlug ohnmächtig mit der Faust auf den Boden. »Wie konnte er nur so etwas Grausames tun! Ich – ich habe ihn geliebt, Maya, trotz der schwierigen Dinge, die er von uns verlangt hat, und trotz der Einsamkeit und der Gefahr, der er uns ausgesetzt hat. Aber mit seinem Verrat an den Xandim hat er auch mich verraten.«

»Alle Legenden warnen uns davor, daß die Phaerie durchtriebene Wesen sind«, murmelte die Kriegerin.

D’arvan knirschte mit den Zähnen. »Dann muß ich eben meinem Erbe gerecht werden – und genauso durchtrieben sein wie mein Vater. Denn ich verspreche dir, Maya – auf die eine oder andere Weise werde ich meinen Vater, den Waldfürsten, dazu zwingen, die Xandim wieder zu dem zu machen, was sie waren.«

Maya lächelte ihn an und begrub den leichten Schauer der Angst, der sie durchlief, in einer Woge des Stolzes. »Das dachte ich mir schon«, entgegnete sie leise. »Aber zuerst sollten wir es auch Aurian sagen. Vielleicht tröstet sie der Gedanke, daß die Xandim gerettet werden können.« Sie zwinkerte verschmitzt. »Was möchtest du lieber machen? Dich um die Kaninchen kümmern oder nach Aurian suchen?«

»Uh!« D’arvan schauderte. »Du weißt, wieviel wir Magusch vom Kochen verstehen. Wenn du überhaupt irgendwas zum Frühstück willst, sollte ich besser nach Aurian suchen.«

Während Aurian durch den nebelverhangenen Wald schlenderte, hielt ein Frösteln ihr Herz umklammert, das dem strahlenden Sommertag nicht entsprach. Wieviel Zeit war vergangen? Monate? Jahre? Jahrhunderte? Was war aus Yazour und Parric geworden, aus Vannor und Zanna? Waren alle die Menschen, die sie gekannt und geliebt hatte, jetzt tot und zu Staub zerfallen? Und was war mit Wolf? Sie hatte ihn um seiner Sicherheit willen bei den Schmugglern zurückgelassen, aber was war den Nachtfahrern widerfahren, seit sie, Aurian, die Welt verlassen hatte? Was war aus ihrem Sohn geworden? Hatte sie auch ihn im Stich gelassen? Hätte sie ihn, bevor sie sich auf die Suche nach dem Schwert machte, im Süden großziehen sollen? Wenigstens bis er alt genug war, um auf sich selbst achtzugeben?

Mit blinden Augen lief die Magusch weiter. Während die Fragen ohne Ruhepause oder Antwort in ihrem Kopf kreisten, wurde sie abermals von der verzweifelten Einsamkeit gepackt, die sie in ihrem Traum durchlitten hatte.

Dann war plötzlich Shia neben ihr, die sich tröstend an sie drückte. »Du bist nicht allein«, sagte sie. »Khanu und ich sind hier und deine Freunde, die Kriegerin und der Magusch. Chiamh und Schiannath …« Sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, aber es was zu spät.

»Schiannath und Chiamh sind nicht mehr als stumpfsinnige Tiere«, entgegnete Aurian bitter. »Dank meiner Dummheit …«

»Im Augenblick besteht deine einzige Dummheit darin, mit dem Schicksal zu hadern!« widersprach ihr die Katze scharf. Sie sah der Magusch ins Gesicht, und ihre goldenen Augen brannten. »Die Dinge sind also schiefgegangen? Na und? Wann hätte dich das früher je aufgehalten? Willst du jetzt aufgeben und dich in Schuldgefühlen und Selbstmitleid suhlen? Kannst du dir solch einen Luxus leisten? Können es deine Freunde, die Xandim? Kann es Anvar?«

Aurian richtete sich zornig auf. »Wie kannst du es wagen, solche Dinge auszusprechen? Ich dachte, du wärst meine Freundin!«

»Ich bin deine Freundin«, erwiderte die Katze. »Du hast keine Zeit, dich solch zerstörerischen Gedanken hinzugeben. Wir müssen herausfinden, was uns zugestoßen ist, und entsprechende Pläne machen. Außerdem«, fügte sie leise hinzu, »außerdem glaube ich zu wissen, was wirklich hinter deiner Verzweiflung steckt. Es ist Anvar, nicht wahr?«

Aurian ließ sich auf die Knie nieder und schlang die Arme um den Hals der großen Katze, um das Gesicht in Shias seidigem Fell zu bergen. »Einerseits ist es Wolf – aber andererseits, ja, es ist Anvar. Shia, ich vermisse ihn so«, gestand sie. »Und ich habe furchtbare Angst um ihn. Wenn Eliseth ihm etwas angetan hat …«

»Das wird sie nicht«, warf eine andere Stimme ein. D’arvan war unbemerkt hinter sie getreten. Aurian sah ihn überrascht – und auch ziemlich entrüstet – an. Sie hatte ganz vergessen, daß ein anderer Magusch zugegen war, der ihre geistige Unterhaltung mit der großen Katze verstehen konnte. Es war ihr peinlich, daß er gehört haben mußte, wie Shia sie zurechtwies. »Ist mir denn jeder aus unserem verfluchten Lager in den Wald gefolgt?« fragte sie mit schneidender Stimme.

D’arvan errötete, hielt ihrem zornigen Blick jedoch entschlossen stand. »Maya dachte, du solltest nicht allein sein«, erwiderte er ruhig, »und nach allem, was ich mit angehört habe – es tut mir leid, aber ich habe deine Unterhaltung mit Shia angehört –, hatte sie absolut recht.« Der junge Magusch lächelte mitleidig und hielt Aurian die Hand hin. »Erinnerst du dich, wie ich zu dir gekommen bin, als ich in der Akademie in Schwierigkeiten steckte? Du warst diejenige, die mich vor Eliseth und vor meinem Bruder gerettet hat. Du hast mir damals geholfen – und jetzt kann ich dir das endlich vergelten. Es ist nicht Eliseths Art, etwas zu zerstören, das ihr vielleicht noch einmal von Nutzen sein könnte«, fuhr D’arvan fort. »Ich vermute, daß sie Anvar als Faustpfand benutzen will oder als Köder oder als Geisel. Oder – und das entspräche ihrer rachsüchtigen Natur am ehesten – sie wird versuchen, ihn gegen dich aufzubringen, Aurian. Denk nur, was für ein Triumph das für sie wäre!«

Aurian ballte die Fäuste. »Dann steht ihr aber eine Enttäuschung bevor«, fauchte sie. »D’arvan – du hast recht. Sobald es dunkel ist, schleichen wir uns zur Akademie runter und finden raus, was …«

Plötzlich wurde die Stille des Waldes von dem grellen Schrillen vieler Hörner zerrissen. Durch die Bäume hörte Aurian Chiamh und Schiannath vor Entsetzen aufschreien. Schatten jagten über die Lichtung, versperrten die bleiche Sonne, und ein launischer Wind wirbelte Blätter und Staub auf, so daß die Magusch sich die brennenden Augen rieben, während die Xandim-Rosse mit blitzenden Hufen die Luft aufwühlten.

Als die Phaerie Meteoren gleich auf die Baumgipfel zujagten, dachte Aurian einen entsetzlichen Augenblick lang, sie sei irgendwie in die Vergangenheit zurückgefallen, mitten in die Schlacht im Tal. Die Wahrheit aber war weit schlimmer. Noch bevor sie ihr Schwert ergreifen und nach dem Erdenstab an ihrem Gürtel tasten konnte, waren zwei Phaerie auf D’arvan hinuntergeschossen und hoben ihn nun schreiend in die Luft. Die Magusch rannte entsetzt zu der Stelle, an der sie Maya und die Pferde zurückgelassen hatte – aber gegen die fliegenden Phaerie-Rosse vermochte sie nichts auszurichten. Bevor Aurian auch nur in ihre Nähe kommen konnte, sah sie Maya wild fluchend und hilflos in der eisernen Umklammerung eines Phaerie-Kriegers, der sie über den Widerrist seines Pferdes geworfen hatte und sie nun durch die Luft entführte. Chiamh und Schiannath folgten ihr; beide Pferde waren grausam mit brennendem Licht aufgezäumt und wurden von einem der helläugigen Männer Hellorins geritten.

Als der wilde Wind endlich wieder abflaute, legten sich auch die Blätter und der Staub, und der Himmel war wieder leer.

Einen Augenblick lang stand Aurian wie angewurzelt da und schleuderte Rüche gen Himmel. Dann sackte sie zu Boden, als hätte sie auch den letzten Funken Kraft verloren, und schlug die Hände vors Gesicht. Shia tauschte einen besorgten Blick mit Khanu und drang dann zaghaft in die Gedanken ihrer Freundin ein, konnte dort jedoch nichts als Leere ausmachen.

Nach einer Weile bückte Aurian wieder auf. Ihre Augen glitzerten wie frostüberhauchtes Eisen, und sie knirschte mit den Zähnen. »Sie werden mich nicht besiegen«, murmelte sie grimmig. »Und wenn sie mir alles nähmen, was mir lieb und teuer ist, auch dann werde ich mich nicht von ihnen besiegen lassen.« Sie schlang die Arme um Shia. »Wir werden unsere Freunde zurückbekommen, einen jeden einzelnen von ihnen – ich schwöre es. Irgendwie werde ich sie alle zurückholen – und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«

»Du hast immer noch Khanu und mich«, sagte Shia zu ihr, »und jeder, der versucht, uns von dir zu trennen, wird schnell feststellen, daß er einen schweren Fehler begangen hat! Aber wohin sollen wir uns jetzt wenden, meine Freundin? Was tun wir als nächstes?«

»Nun, die Phaerie können wir im Augenblick noch nicht verfolgen – ich wüßte nicht, wo ich da anfangen sollte«, seufzte Aurian. »Wir werden die Dinge immer schön nacheinander angehen, wie Forral zu sagen pflegte. Zuerst werde ich etwas von dem Fleisch essen, und dann werde ich mich dazu zwingen, es bei mir zu behalten. Ich glaube, wir sollten uns bis zum Einbruch der Nacht ausruhen – dann gehen wir durchs Tal zur Akademie. Vielleicht finden wir dort ein paar Antworten.«

»Wenn du schlafen willst«, sagte Shia, »werden Khanu und ich dich bewachen.«

»Im Augenblick«, sagte die Magusch trostlos, »habe ich das Gefühl, als würde ich nie wieder schlafen.«

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