8 Ein Dieb in der Nacht

Da die Stadt diesmal von dem Angriff der Phaerie wie durch ein Wunder vollkommen verschont geblieben war, sah Lord Pendral keinen Grund, sein Fest aufzuschieben – was Grince zutiefst erleichterte. Jetzt konnte er den größten Diebstahl seiner Laufbahn wie geplant angehen. Lautlos wie ein Schatten schlich sich der Dieb durch einen verlassenen Korridor im oberen Stockwerk von Lord Pendrals Villa. Er war den Wachen, die beide Treppenhäuser im Auge behielten, entgangen, indem er durch einen der großen Kamine eingedrungen war – eine Route, die normalerweise nur von den mageren Lumpenkindern benutzt wurde, die man dort hinaufschickte, um sich durch das verwirrende Labyrinth der Rauchfänge zu zwängen und den Ruß wegzukehren. Ein Lächeln trat auf die Züge des jungen Diebes. Sein Leben lang war es ihm von beträchtlichem Vorteil gewesen, klein und unterernährt zu sein.

Es war noch früh am Abend – weit entfernt von der Stunde, zu der Grince normalerweise diese Art von Arbeit begann. Gerade erst zog die Dämmerung herauf, aber die Gärten, die das große Haus umgaben, wurden von Fackeln und Laternen beleuchtet. Das Geräusch von Gelächter und ungezählten Stimmen wehte durch ein Fenster im zweiten Stock zu dem Dieb herauf, und mit ihm kam der köstliche Duft von gebratenem Fleisch, das ihm seinen knurrenden Magen schmerzlich in Erinnerung rief. Ein träger Strom von Kutschen erstreckte sich über die ganze geschotterte Einfahrt, und jede dieser Kutschen machte irgendwann auf dem kreisförmigen Vorplatz des Hauses halt, um ihre kostbar gewandeten Passagiere aussteigen zu lassen. Dann fuhr sie wie alle anderen zum Stallhof hinterm Haus, denn heute abend gab Lord Pendral für die anderen Mitglieder der Kaufmannsgilde ein großes Fest.

Für Grince war das Bankett eine von den Göttern gesandte Gelegenheit. Zu jeder anderen Zeit waren die Ländereien des Hohen Herrn von Nexis sorgfältiger bewacht als die Ehre einer Jungfrau. Nach dem Attentat, dem Pendral im vergangenen Jahr nur knapp entronnen war, ging dieser keine Risiken mehr ein. Selbst heute wimmelte es überall von Soldaten, aber auch eine gewaltige Anzahl von Pendrals Dienern sowie viele andere Leute liefen überall herum: die vornehmen Gästen des Hohen Herrn mit ihren eigenen Dienern, Kutschfahrern und Wachen. Das unvermeidliche Chaos paßte hervorragend in Grinces Pläne. Seine Flucht – immer der wichtigste Teil seiner Überlegungen – sollte später ziemlich einfach sein, denn an diesem Abend hatte Pendral, da so viele Fremde in den Gärten umherliefen, die großen Mörderhunde, die er nach dem Giftanschlag auf ihn erworben hatte, in ihre Käfige gesperrt. Normalerweise hätte man sie die ganze Nacht hindurch frei auf seinem Besitz herumlaufen lassen. Die Wachen würden nach jemandem Ausschau halten, der einbrach, nicht nach jemanden, der ausbrach.

Grinces unerlaubter Besuch auf Lord Pendrals Grund und Boden war aufs sorgfältigste vorbereitet. Am vergangenen Tag hatte der Dieb eine Livree von der Wäscheleine hinter Lord Pendrals Residenz gestohlen. In dieser Verkleidung hatte er sich mühelos Eintritt zum Haus des Hohen Herrn verschafft. Er wußte, daß die Treppe zu den oberen Stockwerken und zu Pendrals privaten Räumen bewacht sein würde, daher hatte er sich einen leeren Kamin gesucht, der groß genug war, um bis ins Wohnzimmer vorzustoßen. Anschließend hatte Grince sich in das Labyrinth der Rauchfänge gezwängt, um schließlich in einer Rußwolke in einem der Schlafzimmer wieder zum Vorschein zu kommen. Dort hatte er sich die brennenden Augen gerieben und das Taschentuch abgenommen, das er sich zum Schutz gegen den Ruß vors Gesicht gebunden hatte. Er hatte die geschwärzte Uniform von Pendrals Diener ausgezogen und sich Hände, Gesicht und die Sohlen seiner weichen, biegsamen Schuhe an den Vorhängen abgewischt – und dann war er in aller Ruhe in den Korridor hinausgeschlüpft, um nach Pendrals Schatzkammer zu suchen.

Als er nun zu beiden Seiten des mit dicken Teppichen belegten Flurs sämtliche Türen überprüfte, bewegte Grince sich so schnell wie nur möglich und hielt gleichzeitig die Ohren offen, um auf das Geräusch nahender Schritte zu lauschen. Obwohl Lord Pendral und seine Gäste noch eine Ewigkeit unten sitzen und sich die Bäuche vollschlagen würden, war trotzdem Eile angeraten. Schließlich war nicht ausgeschlossen, daß ein Diener unerwarteterweise mit einer Lampe vorbeikam und die verräterische Rußspur bemerkte, die vom Gästeflügel zu den Räumen des Hausherrn führte.

Grince hatte schon vor einer ganzen Weile seine Vorbereitungen getroffen, indem er einen von Pendrals Wachposten mit genug Schnaps bestochen hatte, um ihm die Zunge zu lösen. Jetzt wußte der Dieb genau, wo Pendrals Gemächer zu finden waren. An dem Raum, den er angestrebt hatte, trat der Dieb schnell durch die Tür, bevor er sie ebenso schnell wieder hinter sich schloß. Die dicken Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen worden, so daß das Zimmer im Zwielicht lag, aber Grince konnte die eckigen Umrisse der verschiedenen Möbelstücke dennoch mühelos erkennen – ein Nachttisch, ein großes, mit Vorhängen verhangenes Bett und etliche Truhen.

Der Dieb nahm einen der Kerzenstummel, die er immer bei sich trug, aus der Tasche und zündete ihn flink an. Dann stand er eine Weile reglos da und sah sich in dem Raum um. Auf der anderen Seite des Zimmers stand etwas, das er für einen Alkoven hielt; die Nische war mit dunklen, zu den Fenstervorhängen passenden Stoffen behangen. Der Wachposten war sich nicht ganz sicher gewesen, hatte aber vermutet, daß Lord Pendral dort seine Reichtümer aufbewahrte. Grince hielt einen Augenblick lang inne und sah sich mit großer Konzentration den Fußboden an; er beleuchtete mit seiner Kerze jeden Zentimeter des Bodens, bis schließlich ein feines, silbriges Funkeln fast auf Bodenhöhe seine Aufmerksamkeit weckte. Ah, da war es! Die zarten Fäden der Stolperdrähte, die sich ungefähr eine Handbreit über dem bunt gemusterten Teppich kreuz und quer durchs Zimmer spannten, waren in dem fahlen Licht kaum zu sehen.

Ein selbstzufriedenes Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Diebs aus. Das hier würde ein Kinderspiel werden. Wenn dieser fette Narr Pendral nicht mal soviel Verstand gehabt hatte, einen Stolperdraht an der Tür zu spannen, verdiente er es, daß man ihn ausraubte. Grince trat vorsichtig über den Draht und dachte, daß die kostbaren Münzen, die er darauf verwendet hatte, den jungen Wachposten in einer der teureren Tavernen der Stadt betrunken zu machen, nicht verschwendet gewesen waren. Sonst hätte er die Drähte mit Sicherheit übersehen und den Alarm ausgelöst.

Auf Zehenspitzen bewegte sich Grince quer durch den großen Raum, dann blies er die Kerze aus und steckte sich den Stummel wieder in die Tasche, um die Hände frei zu haben. Behutsam zog er die Vorhänge auseinander und hielt den Atem an, falls die Messingringe klirrten und ihn auf diese Weise verrieten. Einen Zentimeter um den anderen glitten die schweren Samtvorhänge zur Seite, um statt des erhofften Alkovens eine kleine Bogentür freizugeben, deren dunkles Holz mit Eisenstäben verstärkt war. Grince spürte, wie sein Herzschlag sich vor Aufregung beschleunigte. Kein Zweifel, hinter dieser Tür mußten ungeahnte Schätze verborgen sein …

Die Tür stellte für einen Dieb seines Formats keine Herausforderung dar. Binnen weniger Augenblicke gab das Schloß nach. Mit einem Schauder der Erregung legte Grince die Hand auf die Vertäfelungen und schob die Tür auf. Dahinter lag ein schmaler, fensterloser Raum, kaum größer als ein Wandschrank. Und in dieser winzigen Kammer stand eine massive Holztruhe, die von breiten, in dem schwachen Laternenlicht dunkel glänzenden Eisenstreifen umschlungen wurde.

Grince atmete langsam und unhörbar aus. Dann kniete er auf den kalten, blank gebohnerten Brettern vor der schweren Truhe nieder und zog ein weiteres feines Werkzeug aus seinem Gürtel. Das Vorhängeschloß nötigte ihm einen harten Kampf ab, aber schließlich sprang es mit einem vernehmlichen Klicken auf. Mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft stemmte Grince den schweren Deckel auf. Und da lagen sie! Bei ihrem Anblick keuchte der kleine Dieb unwillkürlich auf. Die ungezählten Juwelen lagen schimmernd in ihrer massiven Truhe und rangen selbst dem trüben Licht seiner Laterne Myriaden durchscheinender Funken ab. Ungefaßte Edelsteine aller Größen und Schattierungen lagen in herrlichem Überfluß zuhauf zwischen langen, gewundenen Perlschnüren und Halsbändern, deren wunderschöne Steine in zarteste Filigranarbeiten aus Silber und Gold eingebettet waren. Der hintere Teil der Truhe war in kleine Holzschubladen unterteilt, die Ringe, Ohrringe, Broschen und Armbänder enthielten.

Der Dieb Heß sich einen glitzernden Strom von Diamanten wie kaltes, funkelndes Frühlingswasser durch die Finger rinnen und versuchte seinen Jubel unter Kontrolle zu halten. Mit einem grimmigen Lächeln begann er, sich den glitzernden Schatz händeweise in den Sack zu schaufeln, der an seinem Gürtel befestigt war, damit er die Hände zum Durchklettern der Schornsteine frei hatte. Das war seine lange überfällige Rache. Der Wert des Schatzes würde Grince für den Verlust, den Pendral ihm zugefügt hatte, zwar nicht im entferntesten entschädigen – aber jetzt hatte der Dieb dem grausamen Kaufmann das geraubt, was er am meisten auf der Welt liebte.

Grince verschwendete keine Zeit mehr, sondern widmete sich gleich seiner Flucht. Abermals knotete er sich das geschwärzte Taschentuch vors Gesicht. Dann ging er auf den Kamin in Pendrals Gemach zu, wobei er, wie schon auf dem Hinweg, mit großer Vorsicht die Stolperdrähte mied. Während er sich den Schornstein hinaufzwängte, konnte er den schweren Sack spüren, der jetzt Pendrals kostbare Juwelen enthielt und merklich an seinem Gürtel zog.

Als er sicher wieder oben auf dem Dach angelangt war, lehnte der Dieb sich gegen den Schornstein, schloß die Augen und wischte sich mit einer rußigen Hand über die Stirn. In seinen Jubel mischte sich die unaussprechliche Erleichterung darüber, sicher wieder draußen in der kühlen, wohlduftenden Luft des Sommerabends zu sein. Mit tiefen Atemzügen versuchte er sich so weit zu beruhigen, daß er nun den letzten Teil seiner Flucht angehen konnte. Seine Glückssträhne würde wahrscheinlich nicht mehr lange anhalten. Auf dem Rückweg hatte er sich in dem Labyrinth der Schornsteine verirrt; an einer Stelle hatte er sogar befürchtet, nie wieder ins Freie zu gelangen. Aber ab jetzt würde alles wieder gutgehen, beruhigte Grince sich. Nicht mehr lange, und er war weit fort von diesem Haus.

Nachdem er sich noch einmal die brennenden Augen gerieben hatte, schob der Dieb sich millimeterweise und mit größter Vorsicht über das schräge Dach. Dann drehte er sich um und kletterte das rauhe, zerbröckelnde Mauerwerk der Villa hinunter. Die ersten Stellen, an denen er Halt finden konnte, sah er noch recht deutlich, aber der untere Teil der Mauer lag bereits in tiefem Schatten. Grince seufzte und machte sich daran, in dem dämmrigen Halblicht, so gut es ging, die Wand hinunter zu klettern. Er würde nach Hause gehen, seinen Hund Krieger füttern, sich waschen und zusehen, daß er die Juwelen los wurde – und dann, dann würde er sich einen sehr großen Drink genehmigen.

Er war die Mauer schon halb herunter geklettert, als der Wachposten ihn erspähte. »He! Du da!« Als die laute Stimme des Mannes ertönte, erstarrte Grince vor Entsetzen und klammerte sich an dem rauhen Steinwerk fest, bis ihn Arme und Finger schmerzten. Wenn er sich nicht rührte, würde der verflixte Wachposten ihn vielleicht für einen Schatten halten …

Aber so viel Glück hatte er nicht. Fluchend hörte Grince, wie ein Horn gellend Alarm blies. Jetzt, da man einen Dieb entdeckt hatte, würde Lord Pendral im Handumdrehen bemerken, daß seine kostbaren Juwelen verschwunden waren. Unten im Garten wurden Schreie laut, und Grince hörte das Geräusch eiliger Schritte, die immer näher kamen. Ein Pfeil surrte an seinem Ohr vorbei und Heß ihn zusammenzucken. Der erste Pfeil bohrte sich jedoch harmlos in das Gemäuer zu seiner Linken, und der nächste prallte über seinem Kopf von der Mauer ab. Bisher konnten sie nicht genau zielen, weil das düstere, graue Gemäuer und die Abenddämmerung ihn nahezu unsichtbar machten, aber wenn er blieb, wo er war, würde es nicht lange dauern, bis die Bastarde irgendwann doch trafen. Hastig dachte Grince über die verschiedenen Möglichkeiten nach, die sich ihm boten. Runter? Sinnlos. Zur Seite? Nicht viel besser – er würde immer noch in Bogenschußweite bleiben, und selbst wenn er ein offenes Fenster fand, würden sie sehen, in welchem er verschwand und ihn im Haus stellen. Der Dieb verschwendete einen Atemzug auf einen weiteren Fluch und kletterte dann hastig denselben Weg hinauf, über den er gekommen war. Zumindest entfernte er sich auf diese Weise von den verfluchten Pfeilen.

Mit entschlossenem Griff umfaßte Grince die Dachrinne und schwang sich hinauf. Die gewölbten Dächer waren jetzt feucht vom Tau, und es war viel schwieriger – und gefährlicher – als zuvor, sich auf diesem schlüpfrigen Terrain zu bewegen. Atemlos und mit größter Vorsicht, um nur ja nicht das Gleichgewicht zu verlieren, schob er sich auf aufgeschürften Händen und Knien weiter hinauf. Und obwohl er normalerweise kein frommer Mensch war, begann er zu beten. Wenn er jetzt abstürzte … Nun, besser, er brach sich den Hals, als daß diese Bestie Pendral ihn einfing. Zumindest hatte der Pfeilregen aufgehört. Grince gelangte an ein Gewirr von Schornsteinen und schlüpfte dazwischen, um sich für einen Augenblick auszuruhen und wieder zu Atem zu kommen. Trotzdem wußte er, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb, bevor irgendein kluger Mistkerl da unten auf den Gedanken kam, Leitern herbeizuschaffen. Die Vor- Stellung, auf diesen schlüpfrigen Schieferplatten so hoch überm Boden gejagt – oder angeschossen – zu werden, behagte ihm ganz und gar nicht. Der kühle Nachtwind zerzauste sein Haar und ließ den Schweiß auf seinem Rücken und seiner Stirn abkühlen.

Als im Garten abermals Stimmen laut wurden, reckte Grince sich über die Dachrinne und blickte hinunter. Da unten in der Dunkelheit flammte ein goldenes Licht nach dem anderen auf, und die leichte Brise wehte den beißenden Geruch nach Rauch zu ihm hinauf. Irgend jemand hatte Fackeln geholt – Grince spürte sofort, daß die Leiter als nächstes drankommen würde.

Wie zuvor blieb dem Dieb nur eine einzige Möglichkeit – und er wußte, daß er sich besser beeilen sollte. Die Eisentür, durch die er die Rauchfänge verlassen hatte, lag auf der anderen Seite des Hauses, und er hatte wahrlich keine Lust, einen weiteren Weg über dieses taufeuchte Dach zu wagen. Mit einem unglücklichen Stoßseufzer band er sich abermals das Tuch vors Gesicht und ließ sich, mit den Füßen zuerst, in den breitesten Schornstein hinunter.

Aber das Glück war Grince in dieser Nacht wohl nicht gewogen. Irgendwie verlor er in dem ausgeklügelten System der Rauchfänge erneut die Orientierung und kam an der schlimmstmöglichen Stelle heraus. Glücklicherweise war jedoch der größte Teil des Festmahls bereits zubereitet, und statt der hell lodernden Feuer schwelte nur noch etwas Glut in den Kaminen, um einen Teil der Gerichte warm zu halten. Der Dieb schoß in einer Wolke von Ruß und Asche aus dem gewaltigen Kamin heraus und schlug verzweifelt auf seine glimmende Kleidung. Töpfe und Kessel krachten von ihren Dreifüßen herunter und verteilten ihren Inhalt in einer klebrigen, glutheißen Woge über den Boden. Hustend, würgend und mit tränenden Augen sprang Grince über den sich immer weiter ausbreitenden See und rutschte dabei ständig auf Soßen und Gemüsen aus, die bei jedem Schritt unter seinen Füßen glucksten.

Glücklicherweise hatte der Aufruhr im Garten das Küchenpersonal vom Feuer weggelockt. Zu Grinces Unglück jedoch scharten die Leute sich alle am Eingang. Als die Köchin sah, daß die rauchende, geschwärzte Erscheinung, die aus dem Kamin gestürzt war, ihr ganzes, mühselig zubereitetes Tagewerk zerstört hatte, stieß sie einen schrillen Schrei aus. Dann waren sie alle hinter ihm her.

Grince konnte froh sein, daß Pendral sein Küchenpersonal nicht wegen seiner besonderen Geistesgaben auswählte. Wenn einer von ihnen die Wachen geholt hätte, während die übrigen blieben, wo sie waren, und den Ausgang versperrten, hätte Grince keine Chance gehabt. Statt dessen rannten alle gleichzeitig los und verfolgten ihn quer durch die riesige Küche. Grince sprang auf einen der Tische und versprengte mit gewaltigem Lärm irdenes Eßgeschirr in alle Richtungen. Er selbst ging hinter Tischen und Theken in Deckung und wich allen Angriffen aus, während der kostbare Beutel mit den Juwelen immer noch an seinem Gürtel baumelte, sich in Stühlen und Tischen verfing und ihn bei jedem Schritt aufhielt. Aber nachdem er solche Mühsal für seine Diebesbeute auf sich genommen hatte, hatte Grince nicht die Absicht, sich so ohne weiteres wieder davon zu trennen. Er warf einen Hocker hinter sich, um seine Verfolger zu Fall zu bringen, rollte sich unter einem Tisch durch, kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein – und sah plötzlich einen unverstellten Fluchtweg vor sich. Er biß die Zähne zusammen und rannte los.

Er war noch keine zehn Meter weit gekommen, als man ihn bemerkte, denn da die Köchin und ihre Gehilfen hinter ihm ein solches Spektakel machten, konnte seine Flucht kaum unentdeckt bleiben.

Als Grince um das Haus herumrannte, zuckte er jedesmal zusammen, wenn seine verbrannten Fußsohlen auf den Boden trafen, und dankte den Göttern, daß seine Schuhe ihn vor den schlimmsten Verletzungen bewahrt hatten. Er nahm den Weg zurück zum Stallhof – und rannte einer Gruppe von vier Wachposten, die eine lange Leiter trugen, direkt in die Arme. Durch ihre sperrige Last behindert, gingen sie zu Boden wie Kegel, aber sie hatten ganz in der Nähe einige Kameraden, die von dem Lärm angelockt wurden. Mit zunehmender Verzweiflung machte der Dieb sich frei; er blutete jetzt aus einer leichten Schwertwunde im Bein. Ungezählte Wachen – es wurden immer mehr! – rannten durch das hohe Tor zum Stallblock und schwärmten in Grinces Richtung aus. Dieser drehte sich auf dem Absatz um und lief zurück zum Haus – und zu den Küchenarbeitern, die aus dieser Richtung auf ihn zu stürzten. Verflucht! dachte er, schlug einen Haken nach rechts, um eine kleine Lücke zwischen den beiden Verfolgergruppen zu nutzen, und rannte dann auf eine Reihe langgestreckter, niedriger Gebäude zu. Weil ihm keine andere Wahl mehr blieb, entschied er sich willkürlich für eine der Türen, sprang wie der Wind hindurch, schlug sie hinter sich zu und verriegelte sie.

Die Luft im Stall war warm und erfüllt von den groben Düften von Heu und Pferden. Ein Streifen blaßgelben Lampenlichts, das durch die halboffene Tür am anderen Ende des Gebäudes drang, war die einzige Lichtquelle. Grince rannte durch den Mittelgang, ohne sich um die glatt gestriegelten Bewohner der Boxen zu beiden Seiten zu scheren. Obwohl er dieses Ziel ursprünglich in der Hoffnung angesteuert hatte, vielleicht ein Pferd stehlen zu können, hatte es jetzt, wo der Hof voller bewaffneter Wachen stand, keinen Sinn mehr, etwas Derartiges zu versuchen. Seine einzige Chance bestand darin, sich irgendwo zu verstecken, aber dafür schien der Stall mit seinen ungeschützten Gängen absolut ungeeignet zu sein. Der Dieb lief noch schneller – es war ein Wettrennen gegen die Zeit. Schon jetzt konnte er die verriegelte Tür unter einem Hagel von Faustschlägen knirschen hören. Das Holz begann unter dem Ansturm von draußen zu splittern und zu bersten.

Als der Dieb das andere Ende des Gangs erreichte, schien es keine Hoffnung mehr für ihn zu geben. Hinter der Tür dort lag ein großer quadratischer Raum voller mit Korn gefüllter Fässer. Mit einem einzigen schnellen Blick erfaßte Grince die in Reih’ und Glied auf Haken gehängten Sättel samt Zaumzeug. Von einem der Dachbalken baumelte eine Laterne, und in deren Licht wurde Grince klar, daß es keinen Ausweg aus diesem Raum gab. Er war in eine Sackgasse gelangt. Die Angst jagte wie ein Feuerstrahl durch sein Rückgrat – aber es gab nichts, was er tun konnte. Sie würden ihn mitsamt seiner Beute erwischen.

Grince hob den Blick himmelwärts und murmelte: »Danke für nichts, Ihr Götter, Ihr Bas …«, und das war der Augenblick, in dem er die Falltür in der Decke bemerkte.

»Ich nehme alles zurück!« Es war keine Leiter zu sehen, aber er brauchte nur ein paar Sekunden, um über die Haken hinaufzuklettern und die Sättel dabei aus dem Weg zu fegen. Schwieriger war es da schon, den Riegel über seinem Kopf zu öffnen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren … Grince hielt sich mit einer Hand am obersten Haken fest und reckte sich, bis er das Gefühl hatte, als glitten seine Arme aus ihren Gelenken – aber endlich gab das bockbeinige Schloß nach, und die Falltür schwang auf. Die schwere Holztür versetzte ihm einen Schlag, der ihn beinahe den Halt gekostet hätte. In blinder Panik griff er nach dem Rand der Öffnung, und einen verzweifelten Augenblick lang hing er an den Fingerspitzen, bevor seine Angst ihm die Kraft verlieh, sich hochzuziehen. Nachdem er sich über den Rand der Falltür gehievt hatte, rollte er sich auf den Rücken und stellte nach Luft ringend fest, daß er auf einem Bett aus stacheligem Heu lag und zu dem von Spinnweben übersäten Dach des Stalls aufblickte. Ihm war, als würde er sich nie im Leben wieder bewegen können, aber dies schien nicht der geeignete Augenblick für eine Ruhepause zu sein. Bei dem Geräusch splitternden Holzes und zorniger Stimmen sprang er wie von der Tarantel gestochen auf. Seine Verfolger waren bereits im Stall!

Es war unmöglich, die Falltür von dieser Seite aus zu verschließen. Verzweifelt sah Grince sich um und suchte nach einem anderen Ausweg. An der langen Wand im hinteren Teil des Dachbodens lagen Heuballen aufgestapelt, während der Boden auf der anderen Seite frei war. Grince konnte eine Reihe kleiner Öffnungen im Boden erkennen, wo das Heu direkt vom Dachboden in die Futterkrippen der unten wartenden Pferde heruntergelassen werden konnte. Er dachte kurz darüber nach, ob er sich durch eines dieser Löcher hinunterlassen könnte, aber das war aussichtslos und durfte nur als allerletzte Möglichkeit in Betracht kommen. Auf diese Weise würde er lediglich wieder Pendrals Wachen in die Hände fallen – falls die Pferde ihn in dem beengten Raum des Stalls nicht zu Tode trampelten.

Mit einem lauten Krachen flog die Tür der Sattelkammer auf. Sie hatten ihn fast gefunden. Na komm schon, Grince. Denk nach! Und plötzlich hatte er es. Es mußte eine Möglichkeit geben, das Heu hier raufzuschaffen. Sie hatten die Falltür mittlerweile gesehen – er hörte sie rufen. Ohne lange nachzudenken, ließ er sich auf die Knie nieder und griff durch die Öffnung, um die Laterne von ihrem Haken zu reißen. Als sie zu Boden fiel und in einem Feuerball zerkrachte, der brennende Öltropfen in alle Richtungen versprengte, sprangen die Wachen auseinander. Ein Hitzeschwall schoß durch die Falltür hinauf – der Raum unter ihm hatte sich in ein Inferno verwandelt. Er hörte Schmerzensschreie und Stimmen, die fluchten und brüllten. »Schnell!« rief jemand. »Schafft die Pferde raus!«

Grince beglückwünschte sich gerade zu seiner Klugheit, als ihm klar wurde, daß er sich, falls es keinen anderen Ausweg gab, selber umgebracht hatte. »Du verdammter Narr!« Grince wußte, daß seine einzige Rettung jetzt schnelles Handeln war. Der Dachboden füllte sich mit Rauch, und der Junge spürte, wie der Holzboden unter den Sohlen seiner Schuhe immer heißer wurde und seine Füße, die er sich bereits an dem Küchenfeuer verbrannt hatte, noch weiter quälte. Würgend und halb blind, tastete er sich an der schmalen Seitenwand des Gebäudes entlang. Nichts. Verflucht! Der Boden um die Falltür herum schwärzte sich langsam und verkohlte! Grince floh ans andere Ende des Dachbodens. Dort war es für den Augenblick sicherer, und wenn ihm nichts anderes einfiel, konnte er sich immer noch durch eine der kleinen Falltüren in den Stall unter sich hinablassen.

Die Tür, durch die das Heu herauf geschafft wurde, lag am anderen Ende des Dachbodens und wurde teilweise von einem Heuballen verdeckt. Mit einem Hustenanfall, der ihm schier das Innerste nach außen kehrte, riß der Dieb die Doppeltüren weit auf und sog gierig die herrliche, kalte Nachtluft ein. Als er sich vorbeugte, schlug er mit dem Kopf gegen etwas, das eine Sekunde später wieder zurückschwang und ihm einen weiteren heftigen Schlag versetzte. Nachdem Grince blinzelnd die letzten Tränen niedergekämpft hatte, bemerkte er einen großen Eisenhaken, der mit einem Haschenzug in der Nähe der Decke verbunden war. Er folgte dem Seil bis hinunter in die Finsternis neben der Tür, dann lockerte er es und Heß es sich durch die Finger gleiten, bis der Haken den Boden erreicht hatte. Als er es wieder befestigte, ließ er es jedoch zu schnell hinuntergleiten. Das grobe Seil schürfte ihm die Hände auf. Noch bevor er fluchend auf dem Boden aufprallte, begann er in der Luft mitzulaufen.

Grince war hinter dem Stallblock an einer ihm unvertrauten Stelle des Grundstücks herausgekommen, aber das beunruhigte ihn nicht, solange ihm niemand folgte. Er rannte auf schmerzenden Füßen hügelabwärts und wußte, daß er über kurz oder lang das trockene Flußbett erreichen mußte. Dort zumindest hatte er eine gewisse Chance, seine Verfolger abzuschütteln. Hinter sich hörte er das Stalldach mit einem lauten Krachen einstürzen, und die dunklen Flammen, die hoch in den Nachthimmel schossen, warfen seinen Schatten vor ihm auf den Weg. Eine lebhafte Erinnerung an die Vergangenheit – die Soldaten, die Jarvas’ Herberge überfielen; das Dach des Lagerhauses, das in Flammen aufging; seine Mutter, die von einem Schwert durchbohrt worden war … Grince stolperte, rollte sich herum und rappelte sich fluchend wieder hoch. Die grauenhafte Kindheitserinnerung verlieh ihm neue Entschlossenheit, und das Entsetzen gab seinen dahinfliegenden Füßen zusätzlichen Schwung. Mit etwas Glück würden sie glauben, er sei im Stall umgekommen.

Ein Schrei wurde laut. Irgendein Mistkerl hatte das verwünschte Seil gefunden. Wie um ihn weiter zu quälen, begann der Weg sich in die falsche Richtung zu winden, statt ihn näher zum Ruß zu bringen. Unter bitteren Flüchen zwängte Grince sich durch ein Gebüsch neben dem Pfad. Er rechnete eigentlich damit, hinter sich die Verfolger zu hören, und war überrascht, als nichts passierte. Aber dann, nach einem kurzen Augenblick, wurde die Luft von einem tiefen, mißtönenden Bellen zerrissen. Sie hatten die Hunde losgelassen!

Bis zu diesem Moment hatte Grince geglaubt, nicht schneller rennen zu können. Seine Muskeln brannten, sein Herz hämmerte, als wolle es bersten, und seine pfeifenden Lungen rangen verzweifelt nach Luft. Als er das tödliche Heulen hinter sich hörte, entdeckte er jedoch neue und unerwartete Kräfte in sich. Das Bellen wurde immer schriller. Pendrals Mörderhunde hatten seine Fährte aufgenommen.

Besinnungslos vor Panik pflügte Grince sich durch das Gebüsch. Bei jedem Schritt hinderten ihn trügerische Wurzeln, und biegsame, mit Stacheln bewehrte Zweige rissen an seinen Kleidern und zerkratzten sein ungeschütztes Gesicht. Ungeachtet seiner Schrammen und Prellungen taumelte er weiter und zwang sich durchs Unterholz. Das Bellen der Hunde wurde immer lauter. Bald würden sie ihn erreicht haben: Er konnte das Geräusch knackender Zweige hören, während die Bestien durch das Gebüsch brachen. Und jetzt hörte er sogar ihren hechelnden Atem auf dem Weg hinter sich.

Bevor er wußte, wie ihm geschah, schoß Grince durch den letzten Teil des Unterholzes und befand sich wieder im Freien. Gedankt sei den Göttern! Jetzt konnte er schneller laufen. Irgendwo hinter sich hörte er die Schreie der Wachen und die schrillen Pfiffe der Hundeführer, die die Tiere noch anfeuerten, aber Grince scherte sich nicht darum. Ungefähr hundert Meter unter sich, am Fuß eines grasbewachsenen Hügels, konnte er die Fackeln von Pendrals Mole sehen, die den Unvorsichtigen daran hindern sollten, in den Abgrund zu stürzen – aber wenn der Dieb im Freien schneller laufen konnte, konnten die Hunde es erst recht. Einer nach dem anderen schossen sie hinter Grince aus dem Gebüsch. In Sekundenschnelle waren sie ihm auf den Fersen.

Grince spürte, wie etwas hinter ihm an seinem Rock zerrte und hörte Stoff reißen. Irgendwie zwang er sich zu einem letzten verzweifelten Kraftakt. Wenn diese Sache scheiterte, blieb ihm ohnehin nichts mehr, und sein Tod war nur noch eine Frage von Augenblicken. Die Zeit schien sich zu einer Ewigkeit auszudehnen. Er war sich eines jeden gequälten Atemzuges bewußt, spürte jeden schmerzenden Muskel, der ihn weitertrieb. Der Fluß war jetzt näher – aber kaum hörte er das hohle Trommeln seiner Schritte auf der Holzmole, da warf sich auch schon eines der gewaltigen Tiere von hinten gegen ihn. Ein brennender Schmerz schoß durch seinen Oberarm und seine Schulter, wo die Zähne des Hundes sich durch Muskeln und Haut bohrten. Miteinander ringend, wälzten sich der Hund und der Dieb wieder und wieder über die Mole, bis Grince mit einemmal spürte, daß er fiel.

Er wäre viel härter aufgeschlagen, hätte der Hund nicht seinen Fall gebremst. Nichtsdestoweniger waren es gut und gern fünf Meter von der Mole bis zum Boden, und das genügte, um den Rest des Rudels zurückzuhalten, das sich jaulend und kläffend oben am Ufer versammelte. Die Wucht des Aufpralls raubte ihm den Atem, aber er wußte, daß die Soldaten jeden Augenblick da sein würden. Keuchend kroch er auf Händen und Knien unter den Felsüberhang, um sich dort zu verstecken, bevor oben die Soldaten erschienen. Er durfte keine Zeit verlieren – sobald die Männer eine Möglichkeit fanden, die Hunde herunterzubringen, würden sie wieder hinter ihm her sein.

Schon konnte Grince die ersten Stimmen über sich hören. Auf allen vieren kroch er weiter und hielt sich bedachtsam unter dem Felsvorsprung, wo sie ihn nicht sehen konnten. Da ließ ihn ein grauenvolles Geräusch verharren. Voller Angst blickte er sich um – und stellte fest, daß das Schlimmste geschehen war, was ihm passieren konnte. Der Hund, den der Sturz betäubt hatte, kam langsam zu sich. Grince konnte sehen, daß das Tier ihn betrachtete; seine gelben Augen funkelten in dem Lampenlicht, das von oben auf sie herunterfiel. Die Bestie zog die Lippen zurück und ließ mit einem drohenden Knurren weiße Fangzähne aufblitzen. Grince schluckte; sein Mund war plötzlich sehr trocken geworden. Dann bewegte er sich mit extremer Langsamkeit und betete zu jedem Gott, auf den er sich besinnen konnte, während er sich zentimeterweise von dem Mörderhund entfernte.

Langsam und mit steifen Gliedern erhob sich der Hund, und seine haßerfüllten Augen folgten dem Dieb bei jeder Bewegung.

»Seht doch! Der Hund hat etwas bemerkt«, hörte Grince von oben. »Na los, Junge – schnapp ihn dir! Zerreiß ihn!«

Grinces Plan, sich den in der Dunkelheit gelegenen Wasserlauf hinunterzuschleichen, löste sich in Luft auf. Als der Hund sich auf seine Kehle stürzte, riß Grince den schweren Sack von seinem Gürtel und ließ ihn mit aller Kraft gegen den breiten Schädel des Tieres krachen. Er traf sein Ziel, und der Hund zog sich jaulend zurück. Grince tastete nach seinem Messer, um dem Tier die Kehle durchzuschneiden – und fand nichts. Irgendwann im Verlaufe seiner wilden Flucht mußte er die Waffe verloren haben. Verflucht!

Wieder einmal zwang die Furcht Grinces schmerzenden Körper weiterzulaufen – nicht durch die Wasserrinne selbst, sondern an der Seite entlang, bis er den gewaltigen Felsen sehen konnte, auf dem sich drohend und finster die Maguschakademie erhob. Als er die erste Biegung des Rußbetts erreichte, wurde die Böschung, wie er gehofft hatte, etwas flacher, so daß man sie erklimmen konnte. Aber bevor er oben angelangt war, hörte er den Hund im Flußbett knurren. Er hatte die Jagd wieder aufgenommen und wurde von den sich übers Ufer nähernden Soldaten angefeuert.

Verzweiflung überkam den Dieb. Jetzt hatten sie ihn in die Enge getrieben. Er hätte weinen mögen – es war so ungerecht. So viele Male hatte er seine Verfolger überlistet – und doch konnte er sie einfach nicht endgültig abschütteln.

»Da ist er!«

»Schnappt euch den kleinen Bastard!«

»Packt ihn euch, wenn er raufkommt!«

Die Soldaten nahmen oben auf dem Hügel Aufstellung, da es ihnen unnötig riskant erschien, das schlüpfrige Gefälle hinunterzusteigen. Das Scharren der Hundepfoten auf dem Ufer hinter ihm übertönte die Stimmen der Männer. Grince saß in der Falle; er konnte nirgendwo hin. Das Licht von den Laternen der vielen Wachen über ihm blendete ihn, und er sah das Loch erst, als er hineinfiel – und sich in einem merkwürdigen Tunnel wiederfand, dessen Wände und Fußboden glatt und gewölbt waren und leicht anzusteigen schienen. Bevor Grince nach dem Sturz das Gleichgewicht wiederfinden konnte, glitt er auf dem schlüpfrigen Boden der Länge nach aus und bedeckte sich von Kopf bis Fuß mit schleimigem Matsch. Er rieb sich das ekelhafte Zeug aus den Augen und drehte sich um. Hinter ihm versperrte die massige Silhouette des Hundes des Ausgang. Er war am Ende. Grince straffte sich und schloß die Augen; er wimmerte vor Angst und wartete darauf, die scharfen Zähne des Hundes zu spüren, die sein Fleisch wegrissen …

Nichts geschah. Mit einem seltsam traumartigen Gefühl absoluter Ungläubigkeit wurde ihm klar, daß die Männer die Hunde zurückgerufen hatten. Grince öffnete gerade noch rechtzeitig die Augen, um zu sehen, wie die gewaltige Bestie sich aus dem Tunnel zurückzog und widerstrebend davonschlich. Was im Namen aller Götter geht da vor, fragte sich der Dieb. Die verfluchten Kerle hätten mich um ein Haar gehabt – warum geben sie jetzt auf? Dann hörte er ein paar Brocken eines Gesprächs mit. Zwei Männer gingen über ihm am Ufer entlang: »… und schickt ein paar Männer runter, damit sie das Loch im Auge behalten – für den Fall, daß er doch wieder auftaucht.«

»Lord Pendral wird nicht gerade begeistert sein, daß wir ihn verloren haben – ganz zu schweigen von den Juwelen.«

»Ich bin nicht sein Handlanger! Ich bin Soldat, kein Diener, verdammt noch mal. Wenn Lord Pendral seine verfluchten Juwelen wiederhaben will, soll er einen Lakaien ausschicken – oder selber da runtersteigen und sie sich holen. Vielleicht würden die Geister ihm ja nichts antun – wo er doch früher ein dicker Freund der Magusch war. Zumindest habe ich so etwas läuten hören. Der Dieb ist erledigt, also habe ich meine Arbeit hier getan.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

Grince hörte den ersten Mann seufzen. »Sieh mal, du Idiot. Er wird da unten entweder verhungern oder rauskommen und die Konsequenzen tragen – ich lasse ein paar Männer am Ausgang zurück. Oder er kann diesem Kanal bis zu seinem Ende folgen, das heißt direkt bis zur Akademie und ihren Geistern. Die werden dem kleinen Mistkerl nach all den Schwierigkeiten, die er uns gemacht hat, genau das Willkommen bereiten, das er verdient …«

Die Stimmen verloren sich und waren schließlich nicht mehr zu hören. Der Dieb vermochte sein Glück nicht zu fassen. Die Geister waren ihm egal – er glaubte ohnehin nicht an so etwas und hatte weit größere Angst vor Pendrals Zorn als vor den sogenannten Schatten der Magusch. Wenn der Herr von Nexis jemanden aussandte, um seinen gestohlenen Besitz zu holen, würde er Grince und die Juwelen nicht mehr finden. Er war ihnen zu guter Letzt doch noch entkommen! Die Erleichterung raubte ihm fast die Sinne. Wäre der schlüpfrige Boden nicht gewesen, hätte Grince tanzen mögen. Wie die Dinge lagen, konnte er nur still vergnügt vor sich hin grinsen. Ich kann durch die Abwasserkanäle nach Hause gehen, und sie werden mich niemals kriegen, dachte er. Dies mag sich doch noch als der beste Raubzug erweisen, der mir je geglückt ist.

Kichernd schulterte Grince seinen Sack und machte sich auf den Weg in den Tunnel hinein. Über ihm, auf dem Gipfel des Hügels, wartete die Akademie.

Shia, Khanu und die Magusch mühten sich die Serpentinen hinauf, die zu den oberen Toren der Akademie führten. Obwohl Aurian ihr langsames und bedächtiges Tempo erzürnte, wußte sie doch genau, daß es nicht schneller ging. Der Aufstieg, der in früheren Zeiten durch das sanfte Gefälle der Bergstraße so sehr erleichtert worden war, war jetzt höchst unangenehm – vor allem im Dunkeln. Die Oberfläche der Straße war voller Schlaglöcher und Risse. Zumindest die Magusch mußte auf Schritt und Tritt fürchten, sich einen Knöchel zu brechen oder der Länge nach hinzuschlagen.

Aurian wußte nicht, was sie eigentlich in der zu einer Ruine verfallenen Akademie zu finden hoffte. Andererseits mußten Eliseth und Miathan doch irgendwelche Hinweise auf ihren Verbleib hinterlassen haben? Ich kann es nur hoffen, dachte die Magusch. Im Augenblick weiß ich nicht, wie es weitergehen soll – ich weiß nicht, was ich als nächstes tun oder wohin ich mich wenden soll. Trostsuchend berührte sie das Flammenschwert an ihrem Gürtel; das warme Leuchten der Macht, das unter ihren Fingern pulsierte, beruhigte sie ein wenig. Die Harfe der Winde hatte sie sich, wie Anvar es immer zu tun pflegte, über den Rücken gehängt, und das Instrument protestierte mit einem unglücklichen Summen gegen seinen neuen Besitzer. Aurian konnte spüren, wie seine Magie sich sehnsüchtig nach Anvar ausstreckte, seinem wahren Meister. Das Artefakt, dem es an bewußter Intelligenz fehlte, konnte nicht wissen, daß Anvar tot oder zumindest verschwunden war.

Endlich erreichten sie den Gipfel des Hügels und traten durch den verfallenden Torbogen auf den zerstörten Hof. Aurian blieb stehen und sah sich mit einem Schaudern der Beklommenheit um. Abgesehen davon, daß noch kein Mond schien, ähnelte die Szenerie auf unheimliche Weise der ihres Traums – bis hin zu der Silhouette des in Trümmern liegenden Wetterturms und dem grauenvollen Gefühl, daß der Ort von den Geistern der Vergangenheit umdrängt wurde. Der Wind schien in allen Ecken und Winkeln zu flüstern und zu seufzen, und jedes schwarze, leere Fenster der sie umgebenden Gebäude schien voller wachsamer Augen zu sein.

Aurian und die Katzen beschlossen, zusammenzubleiben, und durchsuchten zunächst alle Gebäude von geringerer Bedeutung: das Wachhaus und die Ställe, die Räume, die der Feuer- beziehungsweise der Erdmagie gewidmet waren, Meiriels Krankenstube und die Küche mit der angrenzenden Halle. Sämtliche Gebäude waren verlassen und schienen sich schon beträchtliche Zeit in diesem Zustand zu befinden. Spinnweben spannten sich ungestört vor Türen und Fenstern, und die staubigen Böden wiesen keinerlei Fußabdrücke auf. Ein kränklich bleicher, abnehmender Mond ging gerade in dem Augenblick auf, als sie endlich in den kalten Schatten des Maguschturms traten und auf der anderen Seite des Hofs die Bibliothek mit ihrem endlosen Labyrinth unterirdischer Archive vor sich hatten. Aurian erschienen beide Möglichkeiten, der Turm wie die Bibliothek, gleichermaßen unerfreulich, aber sie kam zu dem Schluß, daß der Turm immer noch die bessere Wahl war. Mit einem leichten Schaudern blickte die Magusch durch den offenen Eingang des Gebäudes, das einst, in glücklicheren Zeiten, ihr Zuhause gewesen war. Die Tür stand offen – wie das dunkle, gierige Maul eines Ungeheuers, das nur darauf wartete, sie zu verschlingen. »Tja … Ich denke, wir bringen es besser hinter uns«, murmelte sie. Dann machte sie gemeinsam mit Shia den ersten Schritt in die Dunkelheit, während Khanu draußen zurückblieb, um Wache zu stehen.

Das fahle Mondlicht hatte den Eingang zum Turm noch nicht erreicht, und im Innern des Gebäudes herrschte pechschwarze Dunkelheit. Sogar Aurians Nachtsicht benötigte ein gewisses Maß an Licht, wie wenig es auch sein mochte. Vergeblich mühte Aurian sich, in die undurchdringliche Finsternis am Fuß des Treppenhauses zu spähen. Sie wollte nach Möglichkeit kein Maguschlicht entzünden, um sich nicht zu verraten, falls jemand sie beobachtete. Der Turm erhob sich hoch über die Mauern, die die Akademie umgrenzten, und jedes beleuchtete Fenster würde von der Stadt aus zu sehen sein.

»Wir fangen unten an«, sagte die Magusch zu Shia. Wie so oft in der Vergangenheit war sie froh darüber, daß ihre Gedankenrede sie der Notwendigkeit enthob, laut zu sprechen. »Wenn in einem dieser Räume irgend etwas sein sollte, möchte ich nicht, daß es uns den Ausgang versperrt.«

Der erste Raum war die winzige Zelle, die Aurians erstes Zuhause in der Akademie gewesen war. Das Zimmerchen war genauso kahl wie damals, als Aurian dort gewohnt hatte, und sie drückte die Tür hastig und voller Unbehagen wieder zu. Dieser Raum weckte zu viele Erinnerungen an das unglückliche kleine Mädchen, das ein Opfer von Eliseths Grausamkeit gewesen war. Die nächsten Räume lagen ein Stockwerk höher – die Zimmer, die D’arvan und Davorshan gehört hatten. Sie waren ebenfalls leer und vom Staub langer Jahre überzogen, obwohl Aurian von dem Ausmaß der Feuchtigkeit und des Verfalls dort entsetzt war. In Bragars Gemächern lagen die Dinge genauso.

Bisher hatte die Magusch die einzelnen Räume nur mit einem flüchtigen Blick gestreift und sich nicht mal die Mühe gemacht, ein Licht zu entzünden, da sie dort nicht viel Interessantes erwartete. Hoffentlich barg Eliseths Zimmerflucht mehr Hinweise auf den Aufenthaltsort der Wettermagusch. Erst als sie ins nächste Stockwerk und damit zu Eliseths Räumen kamen, bemerkte Aurian die Fußabdrücke. Bei ihrem überraschten Ausruf kam Shia, die unten geblieben war, um den Turmeingang zu bewachen, die Treppe hinauf gesprungen. Die Magusch kniete im Eingang von Eliseths Quartier und betrachtete die Abdrücke in dem Staub auf dem Boden. »Sieh mal. Hier ist jemand gewesen.«

So hoch im Turm konnte das Mondlicht endlich auch seine Finger durch die schmalen, in das Mauerwerk eingelassenen Fenster strecken. Wo die Lichtstrahlen den Boden berührten, erstrahlte die dicke Staubschicht in einem weichen, silbrigen Licht – bis auf die dunkleren Stellen, an denen verwischte Fußabdrücke die Treppe hinauf und hinunter führten, in die Räumlichkeiten der Maguschfrau hinein und wieder heraus.

Mit einem leisen Fluch lockerte Aurian ihr Schwert in seiner Scheide. »Diese Abdrücke sehen aus, als kämen sie von einem Frauenstiefel – für einen Mann sind sie viel zu zierlich. Eliseth muß hier gewesen sein! Aber was ist mit den anderen Abdrücken? Die Stiefel sind von der gleichen Machart …« Eine prickelnde Furcht durchlief sie. Bei den Göttern! »Ist es möglich, daß Miathan und Eliseth immer noch in der Akademie sind?«

»Das glaube ich nicht. Wer immer diese Abdrücke hinterlassen hat, er war seit langer Zeit nicht mehr hier.« Shia sah sich die Spuren konzentriert an und verfolgte sie mit der Nase bis zurück zum Treppenhaus. »Siehst du? Im Dunkeln mußt du die Abdrücke in den unteren Gemächern übersehen haben. Aber du siehst sicher auch, wie verwischt die Abdrücke sind – ich kann jedenfalls keine Witterung aufnehmen. Im Hof war niemand, und überall sonst haben wir auch nachgesehen. Ich würde sagen, daß seit vielen Monaten niemand mehr hier gewesen ist – wahrscheinlich schon seit Jahren nicht mehr.«

»Dann dürfte es eigentlich nicht gefährlich sein, wenn ich jetzt allein weitergehe«, meinte Aurian. Der Turm war so voller Erinnerungen für sie, daß sie irgendwie niemanden – nicht mal eine so enge Freundin wie Shia – bei sich haben wollte, wenn sie nun in ihr eigenes, früheres Zimmer zurückkehrte. »Wenn du wieder runtergehst, um mit Khanu den Eingang zu bewachen«, sagte sie zu der Katze, »sehe ich mich schnell noch mal oben um – und dann verschwinden wir von hier.« Aurian schauderte. »Die Akademie hat sich so sehr verändert – es ist schrecklich, sie so zu sehen. Ich kann gar nicht glauben, daß das hier jemals mein Zuhause war.«

Eliseths Räume waren geplündert worden – ob von dem Eindringling oder von Eliseth selbst, vermochte Aurian nicht festzustellen. Jedenfalls war nichts von Wert mehr da, und es gab auch keine Hinweise darauf, wo die Wettermagusch sich aufhalten konnte. Daher ging Aurian ins nächste Stockwerk hinauf – und zu ihren eigenen Räumen. Es kostete sie ungeheure Überwindung, die Tür zu öffnen. Als sie sich in dem Zimmer umsah, schnitt sie angesichts des Staubs und der Unordnung dort eine Grimasse. Dann fiel ihr Blick auf den Kamin mit seinem hohen, kunstvoll geschnitzten Sims – dort hatte Anvar vor langer, langer Zeit seinen Eimer fallen gelassen und sie mit einer erstickenden Aschenwolke umhüllt. Die Tür zum Schlafzimmer stand einen Spalt breit offen, und Aurian konnte das Bett sehen, das sie in glücklicheren Zeiten mit Forral geteilt hatte.

Sie hätte niemals hier hereinkommen dürfen. Aurian spürte die ungeweinten Tränen, die ihr die Kehle zuschnürten, als sie von der Erinnerung an die beiden Männer, die sie geliebt hatte, überwältigt wurde. Sie blinzelte und schluckte entschlossen. »Verflucht, das hilft uns auch nicht weiter«, murmelte sie bei sich. Hastig überprüfte sie dann beide Räume. Der Eindringling war auch hier gewesen – sie konnte die verräterischen Fußabdrücke im Staub deutlich sehen. Außerdem hatte er Schranktüren und Schubladen aufgezogen und ihren Inhalt im Zimmer verstreut. »Wer immer das gewesen ist, er sollte sich besser nicht von mir erwischen lassen«, knurrte Aurian. Es war einfacher, wütend zu sein. Auf diese Weise konnte sie sich von ihren traurigen Erinnerungen ablenken. Es hatte keinen Sinn, in diesem Chaos nach alten Besitztümern zu suchen. Mittlerweile mußte alles unbrauchbar geworden sein, und außerdem wollte die Magusch im Grunde gar nichts haben, was sie an die Vergangenheit erinnerte.

Als sie die letzte Treppenflucht hinaufstieg und sich der Tür des Erzmaguschs näherte, zog Aurian ihr Schwert und nahm den Erdenstab in die andere Hand. Als sie ihn umfaßte, gab ihr das Pulsieren der Macht, das ihren Arm durchlief, neuen Mut. Genauso wie in ihrem Traum schien es ihr, als werde Miathans Tür nicht bewacht. In ihrem Traum, erinnerte die Magusch sich, hatte sie das untere Ende des Stabs genommen, um die Tür zu öffnen. Um den Bann des Traumes zu brechen, versetzte Aurian der Tür diesmal einen ordentlichen Stoß mit ihrem Stiefel. Als sie sich quietschend öffnete, sprang Aurian hastig zurück.

Dunkelheit schlug ihr entgegen – eine tiefe Schwärze, die nicht einmal für eine Magusch zu durchdringen war. Es schien, als wäre das Mondlicht nur bis an die Schwelle des Zimmers gekommen – und keinen Schritt weiter. Aurian trat mit wild hämmerndem Herzen ein und beschwor eine Kugel strahlenden Maguschlichts herauf. Sofort wurde Miathans Gemach in blendendes Licht getaucht – und erwies sich als ebenso leer wie die anderen. Aurian, die sich ein wenig töricht vorkam, ging weiter in das Schlafgemach – und blieb wie angewurzelt stehen. Dort auf dem Bett lag eine lange, in Tücher gehüllte Gestalt, die auf diese Entfernung und wegen des pulsierenden blauen Gewebes eines Zeitzaubers nicht deutlich zu erkennen war. Die Magusch biß sich auf die Lippen, umklammerte mit der einen Hand das Schwert und mit der anderen den Stab und trat langsam vor. Und als sie der Gestalt näher kam, erkannte sie auch das Gesicht.

»Anvar!« rief Aurian und stürzte beinahe weinend vor Erleichterung vor. Sie verschwendete keine Zeit darauf, sich zu fragen, warum Eliseth ihn wohl hier liegengelassen hatte – sie war einfach nur überglücklich, ihn wiederzusehen, und brannte darauf festzustellen, ob es ihm gutging. Es dauerte nur Sekunden, den Zauber aufzulösen. Als Anvar seine Augen aufschlug, beugte Aurian sich ängstlich über ihn. Sein Gesicht leuchtete bei ihrem Anblick auf – und spiegelte dann maßlose Verwirrung wider, als Anvar eine Hand hob und sie betrachtete, als könne er seinen Augen nicht trauen.

Aurian, die schon die Hand nach ihm ausgestreckt hatte, hielt inne, denn da war etwas in seinem Gesichtsausdruck, das sie verharren ließ – etwas schwer Faßbares und Erschreckendes. Zu spät wurde der Magusch klar, daß dies eine Falle sein konnte, und sie trat zurück. Sie umklammerte den Stab der Erde so fest, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. »Anvar?« fragte sie zaghaft.

Die Gestalt auf dem Bett setzte sich auf und fuhr sich geistesabwesend durchs Haar – eine Geste, die Aurian nur allzu gut kannte. »Nein, Liebes«, sagte er leise. »Ich bin es – Forral.«

Загрузка...