Die einzigen Laute, die in der dünnen Luft zu hören waren, waren das Heulen des Windes und der hohle Donnerschlag der gewaltigen, rotgoldenen Schwingen Sonnenfeders. Aus dieser Höhe schien es möglich, die ganze Welt mit einem Blick zu umfassen … Und eines Tages werde ich sie beherrschen, dachte Eliseth. Sie genoß die Erregung, in solch gefährlicher Höhe dahinzufliegen, unter sich nur einen Abgrund und die gezackten Felsen. Mit allen Sinnen gab sie sich der Kraft von Sonnenfeders starken Armen hin, die sie umfangen hielten und sicher emportrugen. Als Wettermagusch vermittelte der Flug ihr ein überwältigendes Gefühl der Macht – die Winde zu berühren, mit dem Sonnenschein zu flirten und die Wolken zu durchdringen, aus denen sie die Essenz ihrer Magie zog. Wie sehr die Magusch sich wünschte, ihre eigene Rasse hätte das Glück gehabt, das Geschenk des Fluges empfangen zu dürfen! Was ich dann hätte erreichen können, dachte sie. Nun, zumindest konnte sie sich Sonnenfeders Schwingen borgen, und er war so verrückt nach ihr, daß er ihrem Wunsch stets mit Freuden nachkam.
Heute bedurfte sie der Kraft des Fluges mehr denn je; er schenkte ihr einen klaren Kopf und die Fähigkeit, die neuen Herausforderungen, die ihrer harrten, von allen Seiten zu beleuchten. Der vollkommen unerwartete Anblick Aurians hatte ihr tatsächlich einen Schock versetzt, denn in letzter Zeit war Eliseth so tief in ihre eigenen Pläne verstrickt gewesen, daß sie kaum noch an ihre Rivalin gedacht hatte. In der Tat hatte Aurian so lange gebraucht, um in die Welt zurückzukehren, daß die Wettermagusch beinahe aufgehört hatte, sie noch als Bedrohung anzusehen – bis jetzt.
Ich kann von Glück sagen, daß ich rechtzeitig gewarnt wurde, dachte Eliseth, denn ich bin sicher, daß Aurian nicht die Absicht hatte, sich mir auf diese Weise zu zeigen. Es muß ein Unfall gewesen sein oder Sorglosigkeit ihrerseits. Die Magusch runzelte die Stirn. Aber wo war sie, verflucht noch mal? Was war das für ein farbloser, nebliger Ort? Aurians Umgebung hatte etwas seltsam Unnatürliches an sich gehabt … Ich habe nichts von alledem wiedererkannt. Und es war auch keine klare Vision, wie man sie beim Hellsehen erlebte – das Bild schien sich zu kräuseln, fast als hätte ich die Szene durch Wasser betrachtet, aber wie kann das sein?
»Warum bist du heute so geistesabwesend?« murmelte Sonnenfeder der Magusch ins Ohr.
Eliseth wollte ihm gerade eine schroffe Antwort geben, überlegte es sich dann jedoch anders. »Es ist nichts, was dich besorgen müßte. Würdest du mich jetzt bitte zurückbringen, Sonnenfeder?«
»Wir haben es doch gewiß nicht so eilig?« flüsterte der Himmelsmann. Langsam ließ er die Hände über ihren Körper gleiten. »Ich hatte gedacht, wir würden vielleicht eine Weile hier draußen bleiben.«
Eliseth war ernsthaft in Versuchung. Sie hatte nicht lange gebraucht, um den prickelnden Reiz einer Paarung mitten in der Luft zu entdecken. Nachdem sie es mit dem geflügelten Mann probiert hatte, fand sie es überhaupt nicht mehr merkwürdig, daß dies die Art war, auf die die Himmelsleute sich für gewöhnlich paarten. Heute mußte sie ihre Aufmerksamkeit traurigerweise anderen Dingen schenken. »Nein!« sagte sie kategorisch. »Das heißt – nicht heute, mein Liebster. Bring mich bitte zurück nach Aerilla. Ich habe noch zu arbeiten.«
Nachdem ein bekümmerter und leicht gereizter Sonnenfeder sie zum Tempel Yinzes zurückgeflogen hatte, zog sich die Wettermagusch in ihr geheimes Quartier in den Katakomben unter dem Gebäude zurück. Sie versperrte die Tür hinter sich und streifte ihren pelzgefütterten Umhang ab. Die Räume waren groß und mit jedem erdenklichen Luxus ausgestattet – was tatsächlich ein Glück war, dachte die Magusch, denn sie verbrachte viel Zeit darin, lauerte in ihnen wie eine Spinne im äußeren Ring ihres Netzes. Denn obwohl Eliseth jetzt die wahre Herrscherin Aerillas war, hatten nur wenige der Geflügelten tatsächlich Kenntnis von ihrer Existenz. Hätten sie es gewußt, sie hätten niemals eine Magusch als ihre Herrscherin geduldet.
Eliseth schenkte sich heißen, gewürzten Wein aus dem Topf ein, der auf dem Metallrost des Ofens stand; dann setzte sie sich hin und zog sich eine Pelzdecke über den Schoß, um sich gegen die unvermeidliche Zugluft zu schützen. Diese elenden Geflügelten, dachte sie, schienen die Kälte überhaupt nicht zu spüren, aber sie selbst war leider weniger abgehärtet. Ihre Gemächer mit den gewölbten Außenmauern befanden sich in einem hängenden Turm, einem von mehreren, die unterhalb der Ebene des Tempels aus dem Berg emporragten. Die Möbel stellten eine seltsame, aber behagliche Mischung aerillanischen und nexianischen Stils dar, denn Eliseth hatte Skua und Sonnenfeder so lange in den Ohren gelegen, bis sie ihr ein ordentliches Sofa machen ließen statt der spindeldürren und schrecklich unbequemen Hocker, wie sie die Himmelsleute bevorzugten. Außerdem besaß sie jetzt auch ein richtiges Bett, auf dem sie sich ausstrecken konnte, sowie einen ordentlichen Zuber. Auf diese Weise blieb es ihr erspart, sich unter den eiskalten Wasserfall stellen zu müssen, der direkt von den Zisternen auf dem Gipfel zu ihnen herunterströmte. Man hatte ihr mittlerweile zwar eine Badewanne angefertigt, aber das Erhitzen des Badewassers war ein so langwieriger und Prozeß, daß sie nur selten in den Genuß eines Bades kam, das auch dann bestenfalls lauwarm war.
Nach Eliseths Maßstäben war das Quartier immer noch spartanisch, aber sie würde sich wohl noch ein Weilchen damit abfinden müssen. Erst vor wenigen Monaten war ihr dieser Ort nach der langen und anstrengenden Reise durch die Ebenen der Xandim als ein Hort der Behaglichkeit und des Luxus erschienen.
Die Berge hätten schließlich nicht nur den Plänen der Magusch, sondern auch ihrem Leben um ein Haar ein Ende gemacht. Eliseth hatte nie gelernt, in der Wildnis zu überleben. Sie war weder auf die bittere Kälte noch auf die harte, trostlose Umgebung oder die Erschöpfung vorbereitet gewesen, die sich mit jedem Tag anstrengenden Kletterns und der Mühsal, einen sicheren Weg finden zu müssen, verschlimmerte. Ohne ihr Wissen, das sie aus den Gedanken ihrer Xandim-Gefangenen zog, und ohne die Fähigkeit, das Wetter zu beherrschen, wäre sie gewiß umgekommen.
Als die Wettermagusch endlich in die Nähe von Aerilla gekommen war, hatte sie die beiden Xandim getötet und zum ersten Mal seit vielen Tagen wieder eine warme Mahlzeit genossen – bestehend aus Pferdefleisch. Anschließend hatte sie sich in einen schützenden Nebel gehüllt, im Gral die Stadt und ihre Umgebung beobachtet und auf ihre Chance gewartet. Mit derselben erfolgreichen List, mit der sie die beiden Xandim unter ihre Kontrolle gebracht hatte, schlug Eliseth schließlich abermals zu und fand an einem einsamen Ort ein weiteres vereinzeltes Opfer. Diesmal war es ein junges geflügeltes Mädchen gewesen, das zum Beerensammeln allein in die Berge gezogen war. Es war jämmerlich einfach gewesen, die Kleine zu töten – es hatte sich kaum zur Wehr gesetzt. Eliseth hatte ihr Opfer benutzt, um Skua und Sonnenfeder eine Botschaft zukommen zu lassen und den Zwischenfall dann aus dem Gedächtnis des Mädchens ausgelöscht. Sie lebte jetzt wieder ihr normales Leben in der Stadt: Ahnungslos, unwissend – eine Schachfigur, die jederzeit wieder ins Spiel gebracht werden konnte, falls die Magusch sie benötigte.
Zuerst hatte Eliseth mit dem Gedanken gespielt, den Gral zu benutzen, um die Königin selbst unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach näherem Nachdenken schien dieser Plan jedoch zu viele Tücken zu haben. Erstens waren gewiß alle Mitglieder des königlichen Haushalts zu gut bewacht, als daß die Magusch sich ihrer bemächtigen und den Gral hätte benutzen können. Zweitens herrschten Rabe und Aguila gemeinsam und in solcher Harmonie, daß, falls der eine sich plötzlich merkwürdig benahm, der andere gewiß sofort Verdacht schöpfen würde. Daher wäre sie gezwungen gewesen, sich um beide gleichzeitig zu kümmern – was sie wieder zu ihrem ersten Problem zurückbrachte. Nein, es war für Eliseth bei weitem einfacher, ihr Werk durch Feinde des Throns in Angriff zu nehmen – ein Vorgehen, das für sie selbst weit ungefährlicher war.
Schließlich war es ein Kinderspiel gewesen, die beiden verdrossenen Geflügelten für sich zu gewinnen. Skua hegte einen alten Groll gegen die Königin. Nach Berichten des Hohenpriesters hatte Rabe seine Autorität von Anfang an untergraben. Skua wußte natürlich, daß ein Großteil ihrer Feindseligkeit gegenüber dem Tempel seinen Ursprung in den furchtbaren Taten seines Vorgängers Schwarzkralle, seines Vorgängers, hatte; eines Tages mußte der Kampf zwischen Krone und Tempel um die Macht über das gemeine Volk jedoch endgültig entschieden werden. Sonnenfeders Groll gegen Königin Rabe hatte dagegen weit weniger mit den Feinheiten der Politik zu tun. Er konnte ihr einfach nicht verzeihen, daß sie ihn an jenem lange vergangenen Tag vor dem Hohen Rat gedemütigt hatte. Außerdem verzehrten ihn Eifersucht und bitterer Zorn auf den niedrig geborenen Aguila, der in die hohe Position des Prinzgemahls erhoben worden war.
Die drei Verschwörer hatten schnell einen Plan gefaßt. Man beschaffte sich eine gewöhnliche, alltägliche Harfe, und Eliseth umgab sie mit einem kleinen Zauber, der ihr einen besonderen Glanz schenkte. Dann verkündete Skua der Gemeinde im Tempel, daß es dem großen Gott Yinze in seiner Weisheit gelungen sei, die Harfe der Winde wieder in die Hände seiner Himmelskinder, zu legen. Eliseth, die aus ihrem Versteck zusah, hatte ihre eigene Zauberkraft benutzt, um die sorgfältig einstudierten ›Wunder‹ der Harfe zu manipulieren.
Die Himmelsleute waren außer sich: verrückt vor Freude und Hoffnung. Wenn es einem Mitglied ihrer Rasse gelang, seine magischen Kräfte zurückzuerlangen, warum sollte es dann nicht ihnen allen gelingen? Nur die Königin und ihr Gemahl zeigten sich von Skuas Behauptungen wenig beeindruckt und verliehen ihren Zweifeln auch laut Ausdruck, denn Rabe wußte sehr gut, wie die wahre Harfe aussah. Außerdem wußte sie, daß Anvar die Harfe erobert und mit einer Macht an sich gekettet hatte, die kein Sterblicher zerreißen konnte, ob er nun Hoherpriester war oder nicht. Solche Argumente trafen bei ihren Untertanen jedoch auf taube Ohren.
Fast über Nacht mußte die Herrscherin der Himmelsleute entdecken, daß sie die Unterstützung ihrer Untertanen verloren hatte. Die Leute wärmten die alten Geschichten ihrer Verbindung mit den Erdlingen wieder auf und tuschelten über Schwarzkralles Verbündeten, Harihn. Abermals wurden Zweifel an Rabes Urteil laut. Skua äußerte offen Kritik an ihr, und die Öffentlichkeit unterstützte die Syntagma und die Tempelwache. Klugerweise waren die Königin und ihre Familie aus Aerilla geflohen – gerade rechtzeitig, um ihr Leben zu retten.
Nun, überlegte Eliseth, während sie an ihrem langsam abkühlenden Wein nippte, sie war keineswegs erhaben darüber, sich ein Beispiel an Rabe zu nehmen. Rechtzeitiges Handeln war das Geheimnis der meisten Erfolge – und dank der Vorwarnung des Grals wußte sie, daß es höchste Zeit war, das nächste Stadium ihrer eigenen Pläne in Angriff zu nehmen. »Wenigstens komme ich dann aus diesem ungemütlichen Quartier und dieser bedrückenden Stadt heraus«, dachte die Magusch laut. »Ich freue mich schon darauf, an einem Ort zu leben, wo ich es endlich wieder warm haben werde.«
Jetzt, da Eliseth hier die Macht an sich gerissen hatte, war ihr Werk getan. Niemals hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich zur Königin über diesen elenden, eiskalten Felsbrocken am Ende der Welt aufzuschwingen – ganz davon abgesehen, daß die Himmelsleute sie, die nicht einmal ein Mitglied ihrer eigenen Rasse war, jemals als Herrscherin akzeptiert hätten. Und wer wollte schon eine Stadt beherrschen, in der man sich nicht einmal in der Öffentlichkeit zeigen konnte? Nein, Aerilla war für Eliseth nur ein Mittel zum Zweck gewesen, und es würde ihren Plänen auch dann noch gute Dienste leisten, wenn Skua herrschte – unter ihrem Kommando. Die Wettermagusch war nun zum Aufbruch bereit; endlich würde sie sich an den Ort begeben, der das Herz und das Zentrum ihres Reiches darstellen sollte: Dhiammara.
Eliseth erhob sich und trat ans Fenster, so daß die Decke von ihrem Schoß zu Boden glitt. Es blieb noch ein Letztes zu tun, bevor sie Aerilla verließ. Sie zweifelte nicht daran, daß Aurian schon bald herausfinden würde, daß sie sich nicht länger im Norden aufhielt – falls sie es nicht bereits wußte. Schon bald würden sich die Blicke und die Gedanken ihrer Feindin auf das andere Ufer des Ozeans richten – und bevor Aurian etwas unternahm, war es von großer Wichtigkeit, daß Eliseth ihre Spione postierte.
Eliseth nahm den Gral und füllte ihn zur Hälfte mit Wasser, bevor sie ihn auf den Tisch stellte. Dann, nachdem sie sich bequem hingesetzt hatte, bückte sie in die tintenschwarzen Tiefen und konzentrierte all ihre Gedanken auf Anvar.
Zunächst passierte gar nichts. Die Magusch saß reglos da; ihr Kopf schmerzte bereits von der Anstrengung, der Konzentration – aber noch immer erschien kein Bild im Gral. Was, bei allen Göttern, stimmte da nicht? So etwas war einfach nicht möglich] Eliseth verspürte einen Anflug von Ungeduld – und den Hauch eines Zweifels. Aber sie ließ nicht locker, bis die Mittagssonne durch ihre Fenster fiel. Das harte Licht brannte ihr um ein Haar die Augen aus dem Kopf, als die Strahlen die Oberfläche des Wassers trafen, und Eliseth sprang mit einem bösen Huch zurück; das sorgfältig konstruierte Gebäude ihrer Konzentration war in tausend Stücke geborsten.
Die Magusch verstand einfach nicht, was da geschehen war – sie konnte ja nicht wissen, daß der Geist, den sie zu beherrschen hoffte, noch nicht in seinen Körper zurückgekehrt war und daß ein anderer Anvars Stelle eingenommen hatte, einer, über den sie keine Macht besaß. Sie wußte nur, daß ein wichtiger Teil ihrer Pläne gescheitert war. Mit einem neuerlichen Fluch schleuderte sie den Gral von sich. Er flog quer durch den Raum und ergoß sein Wasser in einem hohen, glitzernden Bogen über den Teppich. Mit einem grellen Blitz schlug er schließlich gegen die Wand, und ein Sternennebel feiner Risse breitete sich von der Stelle aus, an der das Artefakt den Stein getroffen hatte. Eliseth keuchte entsetzt auf, als ein – allzu deutliches – Bild vor ihrem inneren Auge aufblitzte, das Bild des Turmes, der aus seinen Verankerungen brach und in tausend Trümmern den Berg hinunterkrachte. »Verflucht! Sei doch vorsichtig!« warnte sie sich. »Das Ding ist kein verdammtes Spielzeug!«
Vorsichtig nahm sie den Gral wieder auf, untersuchte ihn auf mögliche Schäden und wischte ihn mit dem Saum ihres Gewandes ab. Ein- oder zweimal pulsierte er verdrossen, dann lag er wieder reglos in ihren Händen. Eliseth lief, das kostbare Artefakt an sich gedrückt, in ihrem Zimmer auf und ab. Was konnte sie tun? Sie mußte eine Möglichkeit finden, sich über die Bewegungen ihrer Feindin zu informieren! Nach einer Weile hatte sie endlich die Antwort gefunden. Sie war zwar nicht besonders optimistisch, aber sie konnte es ja noch einmal mit Vannor versuchen.
Seufzend füllte die Magusch den Kelch erneut. Sie hatte Vannor schon vor langer Zeit verlassen. Nachdem der elende Tölpel erst den Angriff auf die Phaerie derart verpfuscht und sich dann auch noch von Hellorins verfluchten Horden hatte gefangennehmen lassen, war er ihr nicht mehr von Nutzen gewesen – aber auch niemandem sonst, dachte sie gehässig. Es war jedoch lange her, daß sie sich das letzte Mal auch nur die Mühe gemacht hatte, eine Verbindung zu ihm herzustellen – vielleicht hatte sich inzwischen ja etwas geändert … Was sie ihm im übrigen auch raten wollte, dachte sie verbittert. Eine winzige Chance bestand tatsächlich, aber es war auch ihre letzte und einzige Hoffnung. Mit verengten Augen beugte Eliseth sich abermals über den Gral und konzentrierte ihren Willen auf den ehemaligen Hohen Herrn von Nexis.
Maya stand auf dem üppigen grünen Rasen vor Hellorins Palast und sah zu, wie die frühe Morgensonne das weiche Gras mit ihrem smaragdenen Feuer berührte. Wie sehr sie sich wünschte, ein Schwert in der Hand zu haben! Es hätte ihr vielleicht geholfen, die Tapferkeit zu heucheln, die sie nicht verspürte – jetzt, da sie ihren Mut dringender brauchte als je zuvor in ihrem Leben. An diesem Morgen schien die ganze Welt nur aus Dingen zu bestehen, die sie nicht wollte – sie wollte nicht, daß D’arvan ging, sie wollte nicht zurückgelassen werden. Und ganz gewiß wollte sie nicht ausgerechnet zu dieser Zeit ein Kind unterm Herzen tragen – schon gar nicht eins, das sie mit Hilfe dieser unheimlichen Phaeriemagie empfangen hatte, statt auf natürlichem Wege, wie es sich gehörte. Bei den Göttern – was soll ich bloß mit einem Kind anfangen, dachte sie verzweifelt. Ich bin eine Kriegerin, verdammt noch mal – ich bin überhaupt nicht zur Mutter geeignet. Der Gedanke entsetzt mich – ich weiß ja nicht mal, wo ich beginnen soll.
Sie hatte in dieser Angelegenheit jedoch keine Wahl. Das Kind war bereits in ihr. Nachdem sie und D’arvan ihr Lager geteilt hatten, war die Phaeriefrau gekommen und hatte sie in einen Schlafzauber gewoben. Als sie wieder erwacht war, hatte sich D’arvans Samen in ihrem Leib eingenistet. Jetzt gab es kein Zurück mehr; der Handel war geschlossen. Es war meine eigene Idee, rief sie sich ins Gedächtnis. Der ganze Plan stammt von mir. Wenn irgend jemand an der Sache schuld hat, dann ich – ich und meine große Klappe! An ihrer Kehle konnte Maya Hellorins Kette spüren, die sie an ihren neuen Status erinnerte – ein glitzernder Kreis aus Kälte, der sich nie an die Temperatur ihrer Haut anzupassen schien. War das alles, was die Zukunft für sie bereithielt? Ketten?
D’arvan legte ihr einen Arm um die Schultern, und mit einem flauen Gefühl im Magen wurde ihr klar, daß die bloße Anspannung ihres Körpers ihre Ängste und Zweifel verraten hatte. »Es ist schon gut«, murmelte er. »Keine Angst – ich bin im Handumdrehen wieder da.«
Maya blickte zu ihm auf und prägte sich für die Zeit ihrer Trennung alle Einzelheiten ein, die sie erhaschen konnte: die Art, wie die Brise sein feines, helles Haar bewegte, die Art, wie das Morgenlicht dunkle Schatten zwischen den scharf hervortretenden Knochen seines Gesichtes schuf. Sie versuchte, den Blick Parrics zu meiden, der mit zwei Phaeriewachen und dem teilnahmslosen Vannor in der Nähe stand. Hellorin hatte erst in letzter Minute seine Erlaubnis gegeben, Vannor ziehen zu lassen, da er schließlich einsehen mußte, daß D’arvan ihm wirklich nicht helfen konnte. Obwohl man ihm die furchtbare Kette von seinem Hals genommen hatte, machte der Kavalleriehauptmann immer noch ein finsteres Gesicht. Er war von Anfang an gegen diesen Plan gewesen – er hatte bereits mehr als einmal zum Ausdruck gebracht, daß er sie, Maya, für verrückt hielt. Als sie jetzt Atem holte, um D’arvan zu antworten, erklang eine silberfeine Trompetenfanfare, und der Waldfürst trat aus seinem Palast. Er nickte der Menge herrlich gewandeter Phaerie zu; es waren allesamt Höflinge, die den Rasen säumten. »Bringt die Pferde!«
Maya ballte die Fäuste. Warum, verflucht noch mal, konnte Hellorin die Sache nicht einfach hinter sich bringen? Er hätte die Xandim hier warten lassen können, so wie alle anderen, aber nein … Hatten alle Könige dieses lächerliche Bedürfnis, sich zur Schau zu stellen?
In der kurzen Pause vor der Ankunft der Xandim wandte Hellorin sich an Maya und D’arvan, offensichtlich, um sie beide an sich zu ziehen. Wenn er das bei mir versucht, dachte Maya grimmig, schwöre ich, daß er am Ende seine Eier um die Ohren tragen kann, Phaerie hin, Phaerie her.
Glücklicherweise konnte der Waldfürst sich gerade noch bezähmen. »Seid ihr beide wohlauf, meine Kinder?« rief er.
D’arvan gab sich genauso großspurig wie sein Vater und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Es ist alles bestens, mein Fürst.«
Maya knirschte mit den Zähnen. Wenn mein Sohn jemals versucht, sich auch so zu benehmen, dachte sie, wird er eine Woche lang nicht sitzen können.
Bevor der Kriegerin selbst eine Erwiderung einfiel, kamen die beiden Xandim an: ein prächtiges, gewaltiges Schlachtroß mit einem dunkel gescheckten Fell aus Wolkenschwarz und Grau; daneben ein etwas kleineres Tier mit einem leuchtenden, kastanienbraunen Fell und zotteliger, rabenschwarzer Mähne und Schweif. Maya fiel es schwer, sich die beiden als Männer vorzustellen. Wie hatten sie wohl in ihrer Menschengestalt ausgesehen? Was mußte das für ein Leben sein, das man von der Geburt bis zum Tod als zwei verschiedene Wesen erlebte? Sie wünschte sich eine Gelegenheit, die beiden kennenzulernen und mit ihnen zu sprechen. Sie hatte nur eine flüchtige, nebelhafte Erinnerung an das eine Mal, als sie sie als Menschen gesehen hatte. Damals war sie diejenige gewesen, die die Gestalt eines Tieres trug, denn Hellorin hatte sie in ein Einhorn verwandelt. Bei diesem Gedanken spielte ein mürrisches Lächeln in die Züge der Kriegerin. Vielleicht unterscheiden wir uns doch nicht so sehr, dachte sie. Auch ich habe in der Gestalt zweier verschiedener Geschöpfe gelebt – aufgrund einer Laune des Waldfürsten hin.
Maya konnte spüren, daß D’arvan weiterdrängte, daß er es nicht erwarten konnte, endlich aufzubrechen, damit sein launenhafter Vater nicht zu guter Letzt doch noch seine Meinung ändern konnte. Dies war nicht der rechte Ort für Abschiedsszenen – er war zu öffentlich, alles war zu hektisch –, und außerdem hatten er und Maya sich bereits Lebewohl gesagt. D’arvan tauschte einige leise Worte mit seinem Vater, die Maya nicht hören konnte, dann umarmte er sie das letzte Mal für lange Zeit – vielleicht für immer … Die Kriegerin drückte ihn fester an sich. »Du solltest besser vorsichtig sein«, zischte sie ihm zu, »oder du hast zwei von uns auf dem Pelz.«
D’arvan lächelte. »Vertrau mir«, sagte er. »Es wird alles gut. Gib acht auf unser Kind, meine Liebste – niemand könnte das besser als du.« Dann war er fort. Es kostete Maya schier unmenschliche Anstrengung, nicht die leeren Arme nach ihm auszustrecken. Statt dessen ballte sie die Fäuste. Dann halfen die Phaeriewachen dem Kavalleriehauptmann, Vannor auf das große graue Pferd zu hieven, daß Schiannath sein mußte; D’arvan stieg auf Chiamh, der über die Situation alles andere als glücklich zu sein schien. Er warf sich nach vorn und zerstampfte mit seinen gewaltigen Hufen den Rasen – bis der Magusch sich vorbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Was auch immer D’arvan gesagt hatte, es schien wie Magie zu wirken. Seite an Seite sprangen die beiden Xandim schließlich in die Luft und eilten ihrer Freiheit entgegen. Ein Teil von Mayas Herzen ging mit ihnen – in einem einzigen, atemberaubenden Augenblick erfuhr sie Freude und Kummer und bitteren, bitteren Neid. Dann war der Himmel leer.
Hellorin legte ihr einen Arm um die Schultern. »Komm, meine kleine Wölfin. Jetzt bleibt dir nichts mehr zu tun, als für dein Kind zu sorgen und auf D’arvans Rückkehr zu warten.«
Eine der Birken in dem Wäldchen war zu hoch gewachsen und bei dem letzten Sommerunwetter einem Blitz zum Opfer gefallen. Yazour hackte den erdgebundenen Riesen zu Feuerholz für den Winter; er mußte diese Aufgabe nun so schnell wie möglich beenden, denn der Sommer glitt langsam in den Herbst hinein, und der Sonnenuntergang würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Im untersten Stockwerk des Turms auf der anderen Seite des Sees brannte schon eine Lampe, und er konnte einen schwachen Schimmer Maguschlicht einer Libelle gleich durch den Garten huschen sehen, wo Eilin zwischen den Gemüsebeeten einherging und die Zutaten fürs Abendessen auswählte. Der Abend war ruhig und friedlich; die einzigen Geräusche waren verschlafenes Vogelgezwitscher, durchmischt mit dem sanften Murmeln der kleinen Wellen am Seeufer und dem leisen Schmatzen Iscaldas, die ganz in seiner Nähe graste.
Er konnte später nicht sagen, was ihn genau in diesem Augenblick aufschauen ließ. Irgendein Instinkt, der ihm vielleicht von seinen fernen Tagen als Krieger zurückgeblieben war, lenkte seinen Blick nach Norden … »Beim Schnitter der Seelen!« Yazour ließ die Axt fallen. Im nächsten Augenblick saß er auf Iscaldas Rücken und galoppierte, verzweifelt nach Eilin schreiend, über die Brücke. Der Tag, den sie schon lange fürchteten, war schließlich gekommen. Die Phaerie kehrten ins Tal zurück.
»Hinein mit dir, Iscalda – da bist du sicherer.« Ohne jedes Zeremoniell öffnete Yazour die Turmtür und zog das Pferd in die Küche. Im Eingang stieß er auf Eilin, die gerade hinausgehen wollte. Die Magusch, die sein Schwert und ihren eigenen Stab trug, warf einen Blick auf die weiße Stute und trat beiseite, um Iscalda durchzulassen. »Dann sind nun also alle in Deckung«, sagte sie. »Keine Angst, Iscalda«, fügte sie mit einem zornigen Glitzern in den Augen hinzu. »Wir werden diesen verwünschten Hellorin schon bald wieder los sein.«
Yazour und Eilin nahmen Seite an Seite auf der Brücke, die zur Insel führte, Aufstellung. Die Phaerierosse waren jetzt schon sehr nahe. »Das sind ja nur zwei«, sagte Eilin verwirrt. »Das sieht aber gar nicht wie eine Invasion aus. Was führt Hellorin denn jetzt schon wieder im Schilde?«
Yazour schämte sich ein wenig, daß er zuvor derart in Panik geraten war. Als er die ersten Reiter gesehen hatte, hatte er nicht einmal so lange gewartet, bis er sie zählen konnte – er war einfach davon ausgegangen, daß ihnen ein Angriff bevorstand. »Könnte das vielleicht ein Trick sein?« fragte er.
Und dann trug der Wind ihnen das Geräusch von Stimmen entgegen, die ihre Namen riefen.
D’arvan stieg ein wenig steif vom Pferd; fast tat es ihm leid, daß dieser atemberaubende Ritt über den Himmel schon zu Ende war. Für kurze Zeit hatte er sogar verstanden, warum sein Vater so sehr darauf beharrte, seine Xandimrosse zu behalten. Dann waren all diese Gedanken vergessen, als Eilin über die Brücke lief, um ihn in die Arme zu schließen. »D’arvan«, rief sie. »Gedankt sei den Göttern – du bist in Sicherheit.« Sie klammerte sich an sein Gewand und ihre Finger gruben sich in den Stoff. »Ist Aurian mit dir zurückgekehrt?« fragte sie hastig. »Warum ist sie nicht bei dir? Geht es ihr gut?«
»Soweit ich weiß, ja«, erklärte D’arvan. »Sie ist tatsächlich mit mir zurückgekommen, aber ich mußte sie in Nexis lassen.« Als er spürte, daß Eilin vor Enttäuschung die Schultern hängen ließ, fügte er schnell hinzu: »Sie hatte jedoch die beiden Katzen bei sich. Shia ist ein ehrfurchtgebietendes Geschöpf, und sie würde nie zulassen, daß Aurian ein Leid widerfährt.«
Ein Stück abseits der beiden Magusch begrüßte Yazour Parric mit offenkundiger Freude. Plötzlich hörten sie ein wildes Wiehern, und die Tür von Eilins Turm flog auf.
Dann erklangen donnernde Hufschläge auf der Holzbrücke, und Iscalda kam herbeigeschossen, um ihren Hals an dem Schiannaths, ihres Bruder, zu reiben.
»Nun, das ist ja ein glückliches Wiedersehen«, sagte D’arvan. Er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Ich glaube, ich kann die Sache aber noch besser machen …« Er betastete den Talisman, der ihm an einem Silberkettchen um den Hals hing. Der glitzernde, blankpolierte Stein in der Mitte des Talismans fühlte sich warm an und verströmte ein trübes, graues Licht, wie Sonne, die durch einen silbrigen Regenschleier scheint. Sein Vater hatte ihm den Talisman kurz vor seiner Abreise gegeben, und er war durchtränkt von Alter Magie, der Essenz und dem Wesen von Hellorins Macht. Als D’arvan nun das Geschenk des Waldfürsten in Händen hielt, spürte er, wie ihn die Magie durchlief, eine Magie, so fremd und doch so vertraut, als hätte sie eine Gewalt in seinem Blut entfacht, die lange ungenutzt dort geschlafen hatte. Der Magusch holte tief Luft und entfesselte den Zauber, der die Xandim in ihrer Pferdegestalt festhielt.
Die Veränderung kam völlig unerwartet. Chiamh, der sich mittlerweile so sehr an vier Beine gewöhnt hatte, fand sich plötzlich auf zweien wieder. Er taumelte, stolperte – und schlug der Länge nach aufs Gesicht. Einen Augenblick lang blieb er mit geschlossenen Augen und von Schwindel geschüttelt dort liegen; die Freude, die ihn lähmte, war zu groß, um ihrer sogleich Herr zu werden. Er fuhr mit den Händen durch das rauhe Gras und tastete mit ungewöhnlich empfindsamen Fingern jeden einzelnen, schmalen Halm ab. Nie hätte er gedacht, daß er jemals wieder Menschengestalt annehmen würde. Vorsichtig öffnete er die Augen – und die Welt schoß reich an Farben und Wahrnehmungsschärfe auf ihn zu. Die Fähigkeit der Sinne war einfach anders, dachte Chiamh – während er als Pferd besser hören und riechen konnte, konnte er als Mensch erheblich besser sehen und gebot über einen viel feineren Tastsinn.
»Chiamh – ist alles in Ordnung mit dir?« Yazour und Parric beugten sich über ihn, und das Windauge hatte keine Ahnung, welcher von beiden Männern ihn angesprochen hatte. Sie sahen jedenfalls beide gleichermaßen besorgt aus.
»Es könnte mir gar nicht besser gehen«, versicherte er ihnen mit einem Grinsen, während sie ihm aufhalfen. Parric, dem Chiamh mehr als einmal das Leben gerettet hatte, drückte ihm leidenschaftlich die Hand und schlug ihm so heftig auf die Schultern, daß Chiamh beinahe wieder das Gleichgewicht verloren hätte. »Bei Chathak, wie schön, dich wiederzuhaben, alter Freund«, sagte er zu dem Windauge. »Das Leben ohne dich war furchtbar langweilig.«
»Ah, dir fehlt doch bloß dein Amt als Herdenfürst«, neckte Chiamh ihn. Ganz in der Nähe lagen Schiannath und Iscalda lachend und weinend einander in den Armen. Das Windauge wandte sich an D’arvan. »Ich habe dir noch nie in meiner Menschengestalt gegenübergestanden«, sagte er ernst, »und ich weiß wenig über dich, außer daß du ein Freund von Aurian bist. Aber ich schulde dir für das, was du für mich und diese anderen Xandim getan hast, unendlichen Dank …«
Gerade in diesem Augenblick wurde das Windauge von dem leichten, schnellen Geräusch weiterer Schritte auf der Brücke unterbrochen. Er drehte sich um und sah zu seiner maßlosen Verblüffung einen kleinen, dunkelhaarigen Jungen von ungefähr fünf Jahren in Begleitung eines großen, grauen Wolfs auf sie zukommen. Obwohl er sich sehr verändert hatte, erkannte Chiamh Aurians Sohn dennoch auf den ersten Blick. »Nein, das ist ja Wolf!« rief er voller Freude. Dann sah er Yazour verwirrt an. »Aber wer ist das Kind?«
Das Kind kam zu ihnen und zupfte Yazour am Ärmel. »Papa?« sagte er.
»Was?« stieß Chiamh staunend hervor. »Er ist dein Sohn?«
Yazour war mittlerweile sehr rot geworden. »Ich …«
Er sah die Lady Eilin an. »Sieh nicht mich an«, sagte sie. »Er ist dein Freund, also erklär du’s ihm. Ich werde schon genug zu tun haben, wenn ich Aurian beibringen muß, daß sie einen Bruder hat.«