Die kleine Alissa, so benannt nach ihrer Mutter, war im Dunkeln erwacht. Sie hatte in dieser Nacht unruhig geschlafen, denn die Anwesenheit der Frau mit den kalten Augen und dem silbernen Haar, die bei ihnen wohnte, bescherte ihr Alpträume. Obwohl sie für gewöhnlich kein furchtsames Kind war (sie war schließlich ein großes Mädchen von immerhin sechs Jahren – und mußte sich um ihren kleinen Bruder Tolan kümmern), hatte diese Fremde etwas an sich, das in Alissa den Wunsch weckte, wegzulaufen und sich zu verstecken. Sie war dankbar für die tröstliche Gegenwart ihrer Mutter, die heute, da ihre Besucherin das beste Schlafzimmer für sich beanspruchte, auf einem Strohlager im Kinderzimmer schlief.
Da war es wieder, das Geräusch, das Alissa geweckt hatte – die verstohlenen, schlurfenden Schritte auf der Treppe. Zitternd kauerte sich das kleine Mädchen tiefer in seine Decken und preßte seine Puppe fest an sich. Alissa hörte das harte Zischen eines stoßweisen Atems draußen vor der Tür. Mit einem Gefühl der Erleichterung ließ die Kleine, die sich nun ein wenig töricht vorkam, von der Puppe ab. Es war nur Papa, der zu Bett kam. Wie konnte sie ihn nur vergessen! Aber als sie hörte, wie er mit unbeholfenen Fingern den Türriegel hochzerrte, lief ihr doch ein kalter Schauder über den Rücken. Abermals wurde sie von Furcht gepackt. Der Vater hatte anscheinend wieder zuviel Wein getrunken – und mit einer traurigen Weisheit, die die kurze Spanne ihrer Lebensjahre Lügen strafte, wußte sie, wie das Ergebnis ausfallen würde.
Die meiste Zeit war Alissas Vater lediglich ein gestrenger Herr seines kleinen Haushalts. Er arbeitete hart und erwartete, daß seine Familie, die Kinder eingeschlossen, ihren Anteil übernahm – sonst mochten ihnen die Götter gnädig sein. Gelegentlich verbrachte er jedoch den Abend in einer Taverne oder saß bis spät in die Nacht allein über seinem Weinkrug – und dann gab es unausweichlich Schwierigkeiten. In allzu vielen Nächten war Alissa, aufgeschreckt von dem Geräusch von Schlägen und gedämpften Schreien, aus dem Bett gekrochen, um unsichtbar und mit vor Furcht hämmerndem Herzen zuzusehen, wie er ihre Mutter schlug. Zu viele Male in ihrem kurzen Leben hatte sie selbst während seiner trunkenen Wutanfälle Prügel bezogen. Aber für gewöhnlich war das Kinderzimmer eine sichere Zuflucht, wenn der Vater betrunken war. Wenn er sie nicht sah, ließ er sie meistens in Ruhe. Heute nacht jedoch würde es kein Entrinnen für sie geben, es sei denn … Die Tür schwang auf, und ein Lichtstrahl ergoß sich ins Zimmer, aber Alissa, die in ihrem dünnen Nachtgewand zitterte, war bereits mitsamt ihrer Stoffpuppe unterm Bett verschwunden.
Es war sehr staubig unter dem Bett. Alissa legte sich eine Hand übers Gesicht und atmete in flachen Zügen ein, weil sie hoffte, auf diese Weise das Kitzeln in ihrer Nase besänftigen zu können. Als sie aus ihrem Versteck spähte, sah sie ein Paar Füße in kräftigen Stiefeln unsicher auf das Strohlager an der Wand zuschlurfen, wo ihre Mutter ahnungslos und nach der harten Arbeit des Tages vollkommen erschöpft schlief. Obwohl sie gegen alle Erfahrung noch hoffte, daß ihr Vater in einer seiner besseren Stimmungen war und sich gleich schlafen legen würde, schob das Kind sich millimeterweise näher an die Bettkante heran und reckte den Hals, um besser sehen zu können.
Papa stellte die Laterne auf den Fußboden neben Mutters Lager. Er bückte sich, und als der goldene Strahl des Lampenlichtes seine Züge erhellte, fand Alissa, daß er irgendwie fremd aussah. Sein Gesichtsausdruck war angespannt und unnahbar, als lausche er auf irgendein schwaches, von ferne kommendes Geräusch. Ihre Mutter regte sich, von dem Licht im Schlaf gestört, und rollte sich auf den Rücken. In Vaters Hand glitzerte etwas auf. Als das Messer heruntersauste und sich bis zum Griff in Mutters Brust grub, konnte Alissa gerade noch einen Aufschrei ersticken. Mit einem seltsamen, gurgelnden Geräusch krampfte die Frau sich zusammen, dann wurde ihr Leib schlaff. Alissa wünschte sich, von entsetzter Ungläubigkeit betäubt, wegschauen zu können, brachte es aber nicht fertig. Es war, als hätte sie sich in Stein verwandelt. Das konnte nicht wirklich geschehen – es konnte nicht ihr eigener Vater sein, der so etwas Schreckliches tat! Das Blut – das Blut war überall, es stank und glitzerte im Lampenlicht wie ein dunkler See.
Mit einem heftigen Ruck riß Papa das Messer zwischen Mutters Rippen heraus und wandte sich zu ihrem kleinen Bruder um, der mittlerweile aufgewacht war und weinend in seinem Bettchen lag. Erst da war der Bann des Entsetzens gebrochen. Wie ein Blitz aus Eis, der sich in ihren Körper bohrte, traf Alissa die Erkenntnis, daß sie die nächste sein würde. Papa kehrte ihr, das Messer zum tödlichen Schlag erhoben, den Rücken zu. Alissa rollte sich herum und kroch unter dem Bett hervor. Der hohe, dünne Schrei des kleinen Tolan übertönte ihre Schritte, als sie zur Tür rannte – bis das Geräusch abrupt erstarb. Da fuhr Papa herum und stürzte mit einem entsetzlichen Aufschrei auf sie zu – aber Alissa war schon aus dem Zimmer und jagte die Treppe hinunter, bevor er sie einholen konnte. Sie war nur wenige Schritte vor ihm an der Haustür und zerrte verzweifelt an dem Griff, aber die Tür war verschlossen, und ein Kind hatte nicht genug Kraft, um den großen Schlüssel im Schloß herumzudrehen.
Als die Gestalt mit den wilden, leer blickenden Augen, die sie einst als ihren Vater gekannt hatte, turmhoch über ihr aufragte, kreischte Alissa laut auf. Er schwang das bluttropfende Messer hoch über seinen Kopf und ließ es auf sie herabsausen, aber genau in dem Augenblick duckte sie sich und sprang zur Seite. Dann ergriff sie den einzigen Fluchtweg, der ihr noch offenstand – sie rannte den kurzen Flur hinunter, der zur Bäckerei führte, obwohl sie wußte, daß auch dort die Außentür versperrt sein würde. Bern, der ihr dicht auf den Fersen war, glitt bei einer unbedachten Bewegung mit seinen blutdurchtränkten Stiefeln auf den blankgewienerten Fliesen des Korridors aus. Alissa hörte ihn fluchen und wußte, was geschehen war, als sie den dumpfen Aufprall seines Sturzes hörte. Das verschaffte ihr einen Augenblick – einen einzigen Augenblick –, um sich zu verstecken.
Um Luft ringend rannte das Kind in die Bäckerei und sah sich verzweifelt nach einem Versteck um. Der einzige Ort, der ihr Zuflucht zu bieten schien, war der große Ofen, in dem das Feuer mittlerweile erloschen war. Ohne länger darüber nachzudenken, lief Alissa quer durch den Raum und kletterte in den nach Brot duftenden Backofen hinein. Dann schlug sie gerade rechtzeitig die Tür hinter sich zu und kauerte sich in der Dunkelheit zusammen. In ihren Armen lag immer noch die Stoffpuppe; das kleine Mädchen wagte kaum zu atmen.
Eliseth, deren Geist Berns Gedanken wie ein Parasit umklammert hielt, benutzte die Augen des Bäckers, um den Raum abzusuchen. Dann runzelte sie verärgert die Stirn. Dieses verfluchte Kind! Wo zur Hölle steckte es? Sie drückte die Türklinke herunter. Sie war nach wie vor versperrt. Nun, in diesem Fall konnte das elende kleine Balg nicht weit gekommen sein. Zuerst dachte Eliseth an die Wandschränke, bis sie Berns Gedächtnis entnahm, daß sie zu gut mit Vorräten bestückt waren, um genug Platz für ein Versteck zu bieten – dann fiel ihr Blick auf die Öfen. Einer von ihnen war nicht groß genug für ein Kind, aber der andere …
Der Bäcker bewegte sich wie ein Schlafwandler: Er war bei vollem Bewußtsein, verfügte aber nicht über einen eigenen Willen. Er machte keine Anstrengungen, gegen die Magusch zu kämpfen, als sie ihn durch den Raum zu dem Ofen führte und ihn die schwere Tür mit einem Besenstiel verkeilen ließ. Die Asche war noch warm, und in Windeseile war ein neues Feuer entzündet. Während Bern immer mehr Holz aufschichtete, hörte Eliseth Alissa schreien. Um ihre Macht über den Bäcker auf die Probe zu stellen, zwang Eliseth ihn, dazustehen und den Todesqualen seiner kleinen Tochter zu lauschen. Es dauerte sehr, sehr lange, bis die Schreie verstummten.
Nachdem sie in Berns Geist Anweisungen hinterlassen hatte, die ihn für eine Weile unbeweglich machen würden, durchstöberte Eliseth das Haus und suchte sich Dinge zusammen, die ihr vielleicht von Nutzen sein konnten. Sie nahm Berns kleinen Goldvorrat sowie Decken, Laken, Vorräte und alles andere, was sie in der Bäckerei finden konnte und womit sich das Leben in der verfallenden Akademie behaglicher gestalten ließ. Traurigerweise war die Frau des Bäckers viel kleiner gewesen als die Magusch, so daß ihre Kleider für sie nutzlos waren, aber Eliseth nahm mehrere Paar Strümpfe, Handschuhe und einen dicken Wollumhang. Obwohl auch dieser natürlich zu kurz war, würde er sie doch vor der schlimmsten Kälte bewahren, bis sie sich einen anderen Mantel verschaffen konnte.
Dann häufte Eliseth ihre Beute auf dem Boden neben der Hintertür auf und kehrte ungesehen und unbehindert auf dem schnellsten Weg in die Akademie zurück. Sobald sie dort angekommen war, streckte sie ihr Bewußtsein nach Bern aus, denn sie konnte nicht gleichzeitig ihren eigenen Körper und den eines anderen beherrschen, so daß sie gezwungen gewesen war, den Bäcker in der Stadt zu lassen. Es war jedoch bei weitem einfacher, ihn zu finden, als die Magusch erwartet hatte. In den dumpfigen, verwahrlosten Küchen der Akademie entzündete Eliseth ein Feuer, füllte dann den Kelch mit Wasser und hockte sich vor den Herd, um im Lichtschein der flackernden flammen in den Becher zu blicken. Durch die Herrschaft der Magusch über den Gral war ihre Verbindung zu dem Bäcker so stark, daß sie förmlich zu ihm hingezogen wurde. Sie brauchte nur an Bern zu denken, da sah sie ihn schon im Wasser aufschimmern, wie er den Leichnam seines einzigen Sohns aus einem Gewirr blutdurchtränkter Decken hob.
Bern beugte sich über den verstümmelten kleinen Körper und weinte. »Ihr Götter, wie konnte das geschehen?« schluchzte er gequält. »Wie konntet ihr das zulassen?«
Eliseth zuckte die Achseln und drängte sich abermals in die Gedanken des Bäckers. Sie zwang ihn, die Leichen seiner Familie zurückzulassen, und schickte ihn nach unten, wo er das Pferd anschirren und ihre zusammengeraubte Beute auf den Karren verladen mußte. Dann ließ sie ihn mit einer Flasche Lampenöl und einem langen Stock, der ihm als Fackel dienen würde, wieder ins Haus gehen. Aus vielerlei Gründen würde es das beste sein, die Beweise zu vernichten.
Da sein Wille unter der eisernen Herrschaft der Magusch stand, steuerte Bern sein Pferd mit dem Karren geradewegs hügelaufwärts zur Akademie, um Eliseth willig die Dinge auszuliefern, die einst zu seinem hartverdienten Besitz gezählt hatten. Hinter ihm schossen die Flammen der brennenden Bäckerei in die Nacht hinauf und sandten, verlorenen, suchenden Seelen gleich, einen Funkenreigen gen Himmel.
Eliseth machte es sich, so gut sie es auf dem harten Holzstuhl vermochte, bequem und sah zu, wie die Flammen an den rußigen Steinen der Feuerstelle züngelten, während sich draußen vor dem Fenster in den Gemächern des Erzmagusch das Zwielicht vertiefte. Sie hatte schon vor langem geargwöhnt, daß Miathan seine Räume mit einer Art selbstaktivierendem Zauber belegt haben mußte, denn obwohl die Spuren seiner Magie in seiner Abwesenheit nach und nach verblichen waren, befand sich sein hoch über den feuchten unteren Stockwerken des Turms gelegenes Quartier in einem weit bewohnbareren Zustand als alle anderen Räume – und das war nur gut so, denn die Magusch war vollkommen erschöpft. Tagsüber hatte sie sich mit aller Kraft darauf konzentriert, die Gedanken ihrer Marionette zu beherrschen, während Bern die Räume ausgefegt und geputzt und alles, was schmutzig oder verwest war, fortgeworfen hatte. Eliseth reckte sich seufzend. Bei den Göttern – es war fast so anstrengend gewesen, als hätte sie die Arbeit selbst getan!
Die Magusch schenkte sich noch ein Glas Wein ein und ließ wählerisch eine Hand über einem Tablett mit Brot und Käse kreisen. Die Wohltat, jetzt diese Zuflucht zu besitzen, war all ihre Anstrengungen wert gewesen. Die Sterblichen würden es nicht wagen, der Akademie auch nur in die Nähe zu kommen – sie fürchteten diesen Ort, und Eliseth würde dafür sorgen, daß das auch so blieb. Zum ersten Mal, seit sie in diese seltsame Zukunft gelangt war, entspannte die Magusch sich ein wenig. Sie war hier in Sicherheit, und jetzt würde sie auch ein gewisses Maß an Behaglichkeit genießen, während sie darüber nachdachte, wie sie Nexis am besten unter ihre Herrschaft bringen konnte.
Ihre Macht über Bern war ein hervorragender Anfang und ein gutes Zeichen für die Zukunft. Eliseth konnte jederzeit in seine Gedanken eindringen, ohne daß er ihre Gegenwart bemerkte. Sie konnte durch seine Augen sehen und seine Taten aus sicherem Abstand manipulieren. Und sie hatte herausgefunden, daß der Bäcker sich später nicht mehr daran erinnerte, daß seine Gedanken von einem anderen geleitet worden waren. Ein böses, triumphierendes Lächeln breitete sich auf Eliseths Gesicht aus. Was für eine Waffe dieser Kelch doch war! Miathan war ein Narr gewesen, daß er die Möglichkeiten des Grals nicht erkannt hatte – aber sie würde dafür dankbar sein. Der Kelch war die Lösung all ihrer Probleme: Sie konnte sich mit seiner Hilfe nicht nur an Vannor und seiner verwünschten Tochter rächen, sondern würde auch Nexis und diese törichten Sterblichen in ihre Gewalt bringen, ohne daß diese es überhaupt bemerkten!
Dieser Gedanke führte zu einem weiteren, und die Magusch spürte, wie sich eine angenehme Erregung in ihr rührte. Irgendwann würde Aurian zurückkehren – soviel stand fest. Was, wenn Eliseth Anvar auf dieselbe Weise besitzen konnte wie Bern? Dann konnte sie ihre Feindin ausspionieren und aus weiter Ferne ihre Pläne beeinflussen. Was, wenn sie Aurian ohne jeden Kampf, sei es einen körperlichen oder einen magischen, töten konnte – ja, sogar ohne sich selbst dabei auch nur im geringsten zu gefährden? Und wäre es nicht einfach wunderbar, Eilins Tochter, bevor sie sie endgültig vernichtete, mit einem solchen Verrat zu schlagen? Einem Verrat, der für diese in die Sterblichen vernarrte Hexe schlimmer sein mußte als alles andere auf der Welt?
Eliseth lachte laut auf. Ich werde meine helle Freude haben, dachte sie. Aber sie wußte, daß sie sich dieses Vergnügen noch für eine Weile versagen mußte. Schließlich war Aurian noch nicht hier – aber Vannor war es. Durch ihn wollte sie ihre Eroberung von Nexis in die Tat umsetzen. Und gab es einen besseren Zeitpunkt, damit zu beginnen, als den heutigen Abend?
Irgendwie vermochte es die Magusch jedoch nicht, sich in den Gemächern des Erzmaguschs wohl zu fühlen. Vielleicht lag es daran, daß sie die Nacht in seinem Bett verbringen sollte – jedenfalls wurde Eliseth von unangenehmen Gedanken an Miathan heimgesucht, und sie konnte nicht umhin, an diesen letzten Ausdruck von Zorn und Haß zu denken, der sich unauslöschlich in sein Gesicht eingemeißelt hatte, als sie ihn verraten und aus der Zeit genommen hatte. Eine unleugbare Unruhe bemächtigte sich ihrer. Angenommen, ihr Zeitzauber war in ihrer Abwesenheit schwächer geworden? Was dann?
Was für ein absoluter Unfug! Eliseth versuchte, ihre törichten Phantasien mit einem Lachen abzutun, aber irgendwie hatte ihr Gelächter einen hohlen Klang. Es gab eine einfache Möglichkeit, sich in dieser Hinsicht zu beruhigen, sagte sich die Magusch mit der für sie typischen Entschlossenheit – sie brauchte lediglich in die Katakomben hinunterzugehen, wo sie Miathans unbewegliche Gestalt sicher in einer der Archivkammern untergebracht hatte. Sie würde sich davon überzeugen, daß er immer noch da war, immer noch in ihrer Gewalt war, und damit wäre die Sache erledigt. Trotzdem ging Eliseth unruhig in dem Schlaf gemach auf und ab und zögerte den Augenblick hinaus, da sie sich in das dunkle Labyrinth der verlassenen Tunnel hinabwagen mußte. Schließlich gab es außer Miathan noch einige andere unangenehme Dinge dort unten. Sie erinnerte sich an die Todesgeister und wünschte, diese Erinnerung wäre ihr erspart geblieben.
Mittlerweile war Eliseth jedoch zornig auf sich selbst – so sehr, daß ihr Ärger schließlich ihre Furcht überwog. Die Magusch riß eine Lampe vom Tisch, lief mit eiligen Schritten die steinerne Wendeltreppe hinunter, warf die Tür des Maguschturmes laut hinter sich zu und marschierte ohne einen Blick zurück quer durch den Hof und in die Bibliothek hinein.
Sobald sie in die kalten, feuchten Archive kam, fiel Eliseth wieder ein, warum es ihr so verhaßt gewesen war, soviel Zeit hier verbringen zu müssen, während sie die Zaubermacht des Grals erforscht hatte. Ihre Schritte, die jetzt weit weniger energisch und selbstsicher klangen, hallten hohl in den schmalen Tunneln und auf den schräg abfallenden Steinböden wider, die viele Generationen von Archivaren abgetreten hatten. Die Wände glitzerten feucht und spiegelten das Licht ihrer Lampe wider; die Wettermagusch zitterte in der dumpfigen, kühlen Luft. Hätte sie doch nur daran gedacht, ihren Umhang mitzunehmen. Aber egal, beruhigte sie sich, ich werde nicht lange hier unten sein. Ich brauche mir lediglich Miathan anzusehen, dann gehe ich wieder. Wenn ich mich recht erinnere, liegt der Raum, in dem ich ihn zurückgelassen habe, gleich hier an diesem Korridor …
Er war weg. Sie konnte es nicht glauben. Miathan war ihr entkommen. Zuerst dachte sie, sie müsse sich verirrt haben und in die falsche Kammer getreten sein – aber ein Irrtum war ausgeschlossen. Um ganz sicher zu sein, hatte sie damals die Tür markiert, und als sie nun zurücktrat, konnte sie die Runen im Lampenlicht deutlich sehen. Eliseth blickte in den leeren Raum, und die Furcht durchschoß sie wie ein eiskalter Blitzschlag. Wo war er? Plötzlich erinnerte sich die Magusch daran, was Bern ihr erzählt hatte – daß die Sterblichen sich fürchteten, in die Nähe der Akademie zu gehen, weil hier angeblich Miathans Geist spukte. Konnte er immer noch hier sein? Konnte er vielleicht gerade jetzt in diesen dunklen Tunneln lauern? Und sich an sie anschleichen? Mit einem entsetzten Aufkeuchen drehte Eliseth sich um und floh.
Der Wein, den sie von Bern mitgenommen hatte, war von schlechterer Qualität, als sie es gewohnt war, aber ausnahmsweise einmal scherte Eliseth sich nicht darum. Sobald sie wieder in der sicheren Zuflucht ihrer Gemächer angelangt war – Miathans Gemächern, wie sie sich mit einem Schaudern ins Gedächtnis rief –, hatte sie die Tür verriegelt und versperrt und das Schloß mit jedem Wachzauber verstärkt, den sie ihrem von Panik umnebelten Geist abringen konnte. Die Wettermagusch war zutiefst erschüttert. Sie nahm noch einen langen Schluck aus dem Becher, den sie mit zitternden Händen umfaßt hielt, und versuchte, ihre in alle Winde verstreuten Gedanken zu sammeln. Ihr Plan, hierzubleiben und von der Akademie aus die Stadt zu beherrschen, gehörte damit der Vergangenheit an. Eines stand fest, dachte sie grimmig – bevor sie nicht Miathans Aufenthaltsort entdeckt hatte, war es schon gefährlich für sie, überhaupt in Nexis zu bleiben. Sollte der Erzmagusch sie unvorbereitet antreffen, konnte sie ihr Leben – wenn sie Glück hatte – in Minuten messen.
Sobald der erste Schreck sich gelegt hatte, vermochte Eliseth ein wenig ruhiger zu denken. Es schien zweifelhaft, daß Miathan gegenwärtig hier war. Dann hätte er sie mittlerweile doch gewiß entdeckt? Ihr Erscheinen durch den Riß in der Zeit hatte eine gewaltige Wöge der Macht aufgewühlt, die er, hätte er in oder unter der Akademie gelauert, gewiß gespürt hätte. Vielleicht blieb ihr doch noch genug Zeit, sich um Vannor und Anvar zu kümmern – und sobald ihre Marionetten ihre Stellung bezogen hatten, spielte es keine Rolle mehr, ob sie die Stadt verlassen und sich irgendwo anders in Sicherheit bringen mußte. Alles hing von Vannor ab. Wenn sie nur schnell genug handeln konnte …
Traurigerweise war ein sofortiges Handeln unmöglich. In Wirklichkeit sollten drei oder vier angsterfüllte Tage vergehen – Eliseth hatte soviel zu tun, daß sie kaum mehr mitzählen konnte –, bevor die Magusch bereit war.
Endlich! dachte Eliseth voller Erleichterung. Nach der heutigen Nacht kann ich mir ein sicheres Versteck suchen. Die Nacht war schon weit fortgeschritten, und es blieb ihr nur noch etwa eine Stunde, bevor der Himmel langsam hell werden würde. Ungesehen glitt Eliseth in der Dunkelheit über den moosbewachsenen Pfad, der vom Fluß hinauf und durch die Gärten von Vannors Herrenhaus führte. Die Magusch war nur um Armeslänge von dem Wachposten entfernt, an dem sie vorbeikam, aber der Mann bemerkte sie trotzdem nicht. Bei den Göttern, wie war es diesen jämmerlichen Geschöpfen nur je gelungen, ihre, Eliseths, Stadt unter ihre Herrschaft zu bringen? Die Wettermagusch streckte im Vorübergehen eine Hand aus und berührte den Mann im Gesicht.
»Scheiße!« Der Wachposten zuckte zusammen und wirbelte herum. Mit einer einzigen fließenden Bewegung hatte er sein Schwert aus der Scheide gezogen. Er sah nichts. Mittlerweile war die Magusch bereits fort. Aus sicherer Entfernung hörte sie die Stimme seines Gefährten. »Bei Tharas Titten! Was ist denn in dich gefahren, so mit dem Schwert herumzufuchteln?«
»Aber ich habe deutlich gespürt, wie etwas mich berührt hat«, beteuerte der andere. »Etwas hat mein Gesicht gestreift.«
»Ach, du liebe Güte, sei doch nicht so ein erbärmlicher Feigling – es war wahrscheinlich nur eine Motte. Es ist schon schlimm genug, in diesem Regen Dienst zu tun, auch ohne daß du plötzlich anfängst, irgendwelche verdammten Gespenster zu sehen …«
Ihre Stimmen verklangen in der Ferne, während Eliseth sich abwandte und durch das Gebüsch auf das große Haus zusteuerte. Sie war dankbar für die dichte Bewölkung, die die Finsternis der Nacht noch verstärkte. Mit einem Luftzauber konnte sie das Licht, das sie umgab, zerstreuen, und solange der Mond nicht hinter den tiefhängenden Wolken auftauchte, würde man sie wohl kaum entdecken.
Eliseth hatte lange und sorgfältig über diesen Plan nachgedacht. Vannor war zu gut bewacht, um sich ihm direkt zu nähern – sie würde ihn nie allein zu fassen bekommen, so wie es ihr bei Bern gelungen war, und daher würde sie ihn auch nicht mit magischen Waffen töten können. Außerdem wollte sie nicht, daß die Sterblichen von ihrer Rückkehr in die Welt erfuhren, und wenn sie ihre Zauberkraft gegen diesen unverschämten Herrscher von Nexis richtete, würde sie damit ihr Geheimnis preisgeben. Und sie war natürlich zu klug, um einen körperlichen Angriff auf Vannor zu wagen. Selbst mit einer Hand war er stärker und kampferfahrener als sie. Es konnte einfach zu viel schiefgehen.
Es gab jedoch noch eine andere Möglichkeit, einen Sterblichen zu töten – und tatsächlich war es Berns verstorbene und unbeweinte Ehefrau, die sie auf diese Idee gebracht hatte. In der Tasche der Magusch befand sich eine kleine Phiole mit Gift, dessen Zusammensetzung sie einer der Schriftrollen in der Bibliothek entnommen und das sie mit Zutaten aus Meiriels Krankenstube zusammengebraut hatte. Während der vergangenen Tage hatte sie das Gift an den Ratten und anderem Ungeziefer, das die Akademie verseuchte, erprobt, bis sie sicher war, daß die Zusammensetzung stimmte. Gemäß den Unterlagen gab es kein Gegenmittel. Natürlich würde sie, um sicherzugehen, daß ihr Gift sein beabsichtigtes Opfer erreichte, wahrscheinlich jeden im Haushalt des Kaufmannes töten müssen – aber was machte das schon? Es waren doch nur Sterbliche. Die tödliche Flüssigkeit war farb- und geschmacklos und sehr zu Eliseths Zufriedenheit von langsamer Wirkungsweise, so daß Vannor ein langer und qualvoller Tod bevorstand. Zumindest würde er nun den Tod erleiden, den seine verräterische Tochter vor so langer Zeit verhindert hatte – aber diesmal würde Zanna ihn nicht retten können.
Die Magusch war im hinteren Teil des Hauses angelangt und traf schließlich auf den Nebeneingang, der in die Küche führte. Vorsichtig, um nur ja kein Geräusch zu machen, versuchte sie, den Riegel herunterzudrücken. Abgeschlossen – aber das sollte kein Problem für sie darstellen. Sie streckte die rechte Hand aus – und einen Augenblick später hörte sie ein zufriedenstellendes Klicken, und der Mechanismus des Schlosses sprang auf. Jetzt zeichnete das schwache Leuchten einer Lampe die Umrisse des Küchenfensters nach. Eliseth, die sich millimeterweise an der Mauer entlangschob, preßte sich gegen das Mauerwerk und spähte vorsichtig in die Küche. Jemand hatte das Feuer dort, das wohl schon einmal für die Nacht mit Asche belegt worden war, von neuem geschürt, und ein einsamer Mann saß an dem langen Holztisch und arbeitete. Wie erwartet, war Vannors Küchenchef eine ganze Weile vor der Morgendämmerung aufgestanden, um den Teig für das Brot des kommenden Tages zuzubereiten, bevor die übrigen Küchenhelfer aufwachten.
Der Koch schien für seinen Posten überraschend jung zu sein, und war – was noch ungewöhnlicher für einen Mann seines Berufs war – dünn und schlaksig. Eliseth tat diese Einzelheiten ohne großes Interesse ab. Für sie war ein Sterblicher genausogut wie der andere. Es hatte keinen Sinn zu warten. Sie atmete tief durch und nahm ihren ganzen Willen zusammen, um die Luft in der Küche zu manipulieren. Dicht vor den Füßen des arglosen Kochs erschien ein leuchtender Flecken grünlichen Nebels. Dieser zog sich langsam in die Länge und nahm eine festere Gestalt an, bis er das Aussehen einer kleinen, grünen Schlange hatte. Plötzlich hielt die Magusch inne. Dies war zwar ihre Lieblingsillusion und würde den Koch mit Sicherheit ablenken – aber was, wenn er Angst vor Schlangen hatte, wie so viele dieser lächerlichen Sterblichen? Er würde Zeter und Mordio schreien und den Rest des Hauses wecken, und das war das letzte, was sie wollte. Eliseth fluchte leise und löste ihre Illusion des Reptils auf. Was konnte sie statt dessen benutzen? Ein komplexeres Geschöpf würde sowohl ihre Fähigkeiten als auch ihre Phantasie bis auf das äußerste strapazieren – aber sie konnte es schaffen. Und um sich endlich an Vannor zu rächen, würde sie es schaffen.
Die Magusch kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich mit aller Macht. Der Nebelflecken wurde bleich und durchscheinend. Er schimmerte und zuckte mehrmals, bis sich nach mehreren Sekunden eine Silhouette zu formen begann. »Na, komm schon, komm schon«, murmelte Eliseth ungeduldig vor sich hin, während nach und nach die Einzelheiten des Geschöpfes sichtbar wurden. Als der Koch hinunter schaute, saß eine kleine weiße Katze zu seinen Füßen.
»Meine Güte! Wo kommst du denn her?« Lächelnd bückte der Mann sich und streckte eine Hand aus, um das kleine Geschöpf zu streicheln. Eliseth, die das Ganze eine solche Anstrengung kostete, daß sich auf ihrer Stirn Schweißperlen bildeten, zog ihre Illusion von der ausgestreckten Hand weg.
»Du hast wohl Angst vor mir, Kleine, hm? Hat dich jemand schlecht behandelt?« fragte Vannors Koch die Katze.
Eliseth schnitt eine Grimasse und blickte himmelwärts. Sie hatte niemals begreifen können, warum einige Sterbliche tatsächlich mit Tieren sprachen, als könnten sie sie verstehen. Trotzdem, wenn es ihren Zwecken diente … Obwohl sie außerstande war, bei ihrer Illusion auch Laute zu produzieren, öffnete sie das Maul der Katze zu einem stummen Miau.
»Armes kleines Ding – hast du Hunger? Warte nur hier, dann werde ich sehen, was ich für dich tun kann.«
Als der Koch in der Speisekammer verschwand, bewegte Eliseth sich schnell wie der Blitz. Sie schlüpfte durch die Hintertür, sprenkelte ihre tödliche Flüssigkeit über den Brotteig auf dem Tisch und war schon wieder draußen, bevor der Koch zurückkehrte. Als sie lautlos durch die Gärten glitt, warf sie noch einen letzten Blick zurück. Der Mann stand, einen Teller in der Hand, in der offenen Tür und rief nach der Katze, die nicht mehr da war – und nie da gewesen war.
Der Ort Zwischen den Welten war eine einsame Stätte. Forral hatte keine Ahnung davon, wieviel Zeit in der Sterblichenwelt verstrichen war, während er hier festgesessen hatte. Denn im Reich des Todes war die Zeit nicht von Bedeutung, und die silbrige, nebelüberhauchte Landschaft sanft gewellter Hügel und sternenbesetzter Himmel blieb unveränderlich und wandelte sich auch nicht, um dem Vergehen der Stunden oder dem Wechsel der Jahreszeiten Ausdruck zu verleihen. Jetzt, da der Schnitter der Seelen ihm den Zugang zu dem geheiligten Wäldchen auf dem Hügel und dem dazugehörigen Portal verwehrt hatte, waren Forrals einzige Verbindungen mit der Welt, die er verlassen hatte, die Geister, die einzeln oder in Gruppen durch diese Zwischenwelt wanderten. Sie waren auf dem Weg von der Pforte Zwischen den Welten zum Brunnen der Seelen, wo sie wiedergeboren werden würden. All diese Geschöpfe wurden jedoch vom Geist des Todes bewacht und geleitet, der dazu seine Maske des alten Eremiten mit der Lampe überstreifte. Der Schnitter gestattete es Forral nie, den Schatten zu nahe zu kommen oder sie mit seinen Fragen aufzuhalten.
Mehr und mehr schien es dem Schwertkämpfer, als würde er zu dem Geist in dieser Landschaft der Toten, denn je länger er hier verweilte, um so weniger schienen ihn die Schatten der einstmals Lebenden, die auf dem Weg zu einer neuen Existenz kurz an ihm vorbeikamen, noch wahrzunehmen. Als er seinerzeit hierher gekommen war, hatten die anderen ihn wenigstens gesehen oder seine Stimme gehört, obwohl ihr schauerlicher Wächter sie, wenn dies geschah, jedesmal schnell weiterführte. Jetzt jedoch schienen seine Mitgeister die Gestalt des einsamen Schwertkämpfers überhaupt nicht mehr zu bemerken, obwohl er sich doch stets angstvoll in der Nähe hielt – denn er hoffte verzweifelt auf Nachrichten von Aurian. Am schmerzlichsten war es jedoch, wenn eine vertraute Gestalt erschien; ganz gleich, ob es der Schatten eines Freundes oder sogar eines Feindes war. Mit ansehen zu müssen, wie jemand, den er einst in der Sterblichenwelt gekannt hatte, ohne die leiseste Spur des ’ Wiedererkennens an ihm vorbeiglitt – es war fast, als müsse er immer wieder von neuem sterben.
Die unbarmherzige Einsamkeit nagte an seiner Zuversicht und seinem Mut, und Forral fühlte sich zunehmend elender. Es gab nichts, womit er sich über diese zeitlose Gefangenschaft hinwegtrösten konnte – er konnte weder essen noch trinken, noch schlafen, und es gab nichts zu tun, nichts Neues zu sehen. Er konnte nichts berühren, nichts spüren – nicht einmal seinen eigenen Körper.
Gelegentlich setzte Forral sich in Bewegung oder rannte sogar voller Verzweiflung los, um zu versuchen, dieser trostlosen, monotonen Landschaft zu entrinnen. Aber er wurde niemals müde, und seine dahinfliegenden Schritte führten ihn nur um die Hügel, die ihn umgaben, herum, zurück zu dem Ort, von wo er losgelaufen war – dem Tal unterhalb des heiligen Hains. Der Weg zum Brunnen der Seelen war ihm jetzt durch eine Barriere verwehrt, die von einer unsichtbaren Kraft geschaffen wurde. Dasselbe galt für die Pforte Zwischen den Welten. Nicht einmal der Tod selbst Heß sich noch auf ein längeres Gespräch mit Forral ein; der Geist verschwand einfach, wann immer der zornige und verbitterte Schwertkämpfer ihn zur Rede stellen wollte. Forral wußte, daß der Schnitter darauf wartete, daß er endlich aufgab, daß er früher oder später dieses elenden Halblebens müde wurde und sich freiwillig der Wiedergeburt fügte.
Hätte er nicht solche Angst um Aurian und ihr Kind gehabt – sein Kind –, hätte Forral mit Freuden kapituliert. Aber wie konnte er mit dem Wissen fortgehen, daß er vielleicht eine Chance verlor – eine einzige, winzige Chance –, ihnen zu helfen? Trotzdem erschreckte ihn der Gedanke, daß seine Erinnerung an die Magusch langsam verblaßte, daß die endlose Formlosigkeit und Einsamkeit seiner Umgebung diese Erinnerung langsam aushöhlte. Wie lange, fragte er sich, konnte es noch dauern, bevor Aurian vollends im Nebel des Vergessens versinken würde? Wieviel Zeit blieb ihm noch, bevor er sogar das Gefühl für seine eigene Identität verlor – und was würde dann aus ihm werden? Während Forral wartete – worauf, das vermochte er selbst nicht zu sagen –, brauchte er jeden Funken Mut, dessen sein Kriegerherz noch fähig war, um nicht der Verzweiflung nachzugeben.
Der Schwertkämpfer saß zwischen den silbrigen Hügeln und hing seinen unglücklichen Gedanken nach.
Vor kurzem war ein ganzer Strom von Menschen durch die Pforte gekommen; sie waren einzeln, zu zweit oder zu dritt erschienen – insgesamt etwa ein halbes Dutzend. Was ging da vor? Wenn so viele auf einmal kamen, hatte sich gewiß eine Katastrophe ereignet – und was schlimmer war, er war sicher, daß er einige der Gesichter hätte kennen müssen, aber die Erinnerungen hielten sich höhnisch neckend gerade außerhalb seiner Reichweite. Verliere ich den Verstand, überlegte er verzweifelt – und wenn ja, was wird dann von mir übrigbleiben? Wird mein Geist einfach aufhören zu existieren? Forral schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte der Tod die ganze Zeit über recht gehabt. Er hätte auf den Geist hören sollen. Vielleicht sollte er ihn suchen gehen, seine Niederlage eingestehen und sich zu einer Wiedergeburt bereit erklären, bevor es zu spät war …
Forral spürte, daß die Pforte Zwischen den Welten sich abermals öffnete. Er konnte es fühlen, wie das Anschwellen der Energiefluten innerhalb seiner unkörperlichen Gestalt; wie die unterschwellige, kaum wahrnehmbare Veränderung der Atmosphäre zwischen einer weltlichen Nacht und dem nachfolgenden Morgen. Noch während er sich ärgerlich einen Narren schimpfte, sprang der Schwertkämpfer auf und rannte, wie schon so oft zuvor, das Tal hinunter. Aber der Versuch, das sich bereits öffnende Portal vor dem Geist des Todes zu erreichen, war wie jedesmal zum Scheitern verurteilt.
Wie immer kam er zu spät. Bevor er den schmalen Eingang zum Tal erreicht hatte, konnte Forral die Veränderung in sich spüren, während die Tür sich abermals vor der Welt der Lebenden schloß. Trotzdem ging er weiter, kämpfte gegen seine Enttäuschung an und versuchte angestrengt, einen Blick auf die Neuankömmlinge im Reich des Schnitters zu werfen. Er hoffte, daß man ihn einmal – nur dieses eine Mal – wahrnehmen würde. Der Bodennebel hob sich über den dunklen Eingang des Tals und enthüllte den vertrauten Anblick zweier Gestalten; es waren der verwirrte Neuankömmling sowie der alte Eremit mit der Lampe, der ihn führte.
Die Erinnerung traf Forral wie ein körperlicher Schlag. Trauer und ein an Wahnsinn grenzendes Gefühl der Ungerechtigkeit durchfuhren den Schwertkämpfer wie ein Höllenfeuer, als er die vertraute, untersetzte Gestalt erblickte, die dem Tod auf dem Fuß folgte. Forral trat eifrig vor. »Vannor! Vannor, du alter Fuchs!«
»Was? Wer ist da?« Der Kaufmann blickte angestrengt durch den wabernden Nebel. Zum ersten Mal, seit Forral sich erinnern konnte, wirkte sein alter Freund unsicher und verwirrt. Nun, das war auch kaum eine Überraschung, oder? mahnte er sich. Plötzlich begriff er, daß Vannor wahrscheinlich noch nicht begriffen hatte, was ihm widerfahren war. Ich sollte besser vorsichtig sein, dachte der Schwertkämpfer – aber es war bereits zu spät.
»Forral?« Vannors Stimme, die für gewöhnlich einen so barschen Tonfall hatte, klang schrill und zitternd. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen wich er durch den Nebel zurück. »Das – das kann unmöglich sein«, stammelte er. »Forral ist tot.«
Der Schwertkämpfer seufzte. Zweifellos gab es keine Möglichkeit, dem Kaufmann diese Neuigkeit schonend beizubringen. Er trat auf die zurückweichende Gestalt zu. »Genau wie du, Vannor, alter Freund«, sagte er unumwunden. »Warum sonst sollte ich hier sein?«
»Du bist hier, weil du aufsässig und töricht bist.«
Forral und Vannor fuhren aufkeuchend herum. Sie hatten die Gegenwart des Todes völlig vergessen. Die Geistererscheinung trug die Maske des alten Eremiten, der jenen, die auf dem Weg zu ihrer letzten Ruhestatt durch die Pforte traten, das Geleit gab. Er winkte Vannor zu sich. »Komm, Sterblicher. Schenke diesem Abtrünnigen keine Beachtung – er wird deiner eigenen Sache nicht das geringste nützen. Du mußt mich zum Brunnen der Seelen begleiten und wiedergeboren werden.«
Vannor machte ein finsteres Gesicht. »Also, einen Augenblick mal«, protestierte er. »Dieser Abtrünnige, wie du ihn nennst, ist zufällig ein Freund von mir. Ich gehe nirgendwo hin, bevor ich nicht herausgefunden habe, was hier los ist.« Seine Miene verfinsterte sich. »Was zum Kuckuck ist überhaupt mit mir passiert? Ich erinnere mich nicht daran, wie ich hierher gekommen bin. Wie ist es möglich, daß ich tot bin?«
Der Tod seufzte. »Wenn es überhaupt eine Rolle spielt, du wurdest vergiftet, wie die meisten Mitglieder deines Haushalts.«
»Was?« brüllte Vannor. »Wer hat das getan? Wer wurde noch vergiftet? Alle? Wurde Dulsina getötet? Und was ist mit Antor, meinem Sohn?«
»Dein Sohn ist bereits hier vorbeigekommen.« Der Tod zuckte die Achseln. »Die, die du Dulsina nennst – nein. Mag sein, daß ihre Zeit noch nicht gekommen ist. Was die Identität des Mörders betrifft – nun, das ist nicht das erste Mal, daß dein Feind mir eine Menge Arbeit verschafft hat.« Er lächelte grimmig. »Ich freue mich auf den Tag, an dem ich jene in meinem Reich willkommen heißen darf.«
»Wen?« fragten beide Männer gleichzeitig.
»Die Maguschfrau. Eliseth.« Der Tod zuckte die Achseln.
»Sie ist wieder da?« stieß Vannor entsetzt hervor. »Aber …«
Forral wunderte sich über die schockierte Antwort seines Freundes, aber der Tod hob die Hand, um sich jede weitere Frage zu verbieten. »Die Art und Weise, wie du hierher gekommen bist, ist kaum von Bedeutung. Du mußt mich jetzt begleiten, Vannor – und versuche doch bitte, wenn du kannst, deinen Freund zu überreden, dir zu folgen, denn er hat sich bisher jeder Vernunft verschlossen. Viel zu lange schon hat er Zwischen den Welten verweilt.«
Vannor bedachte die Geistererscheinung mit einem unerbittlichen Blick. »Ich werde dich begleiten, wenn Forral das so wünscht, aber wenn er will, daß ich bleibe, werde ich nicht von seiner Seite weichen. Er ist mein Freund.«
Forral spürte, wie ihn, einer warmen Flut gleich, eine Woge der Erleichterung überschwemmte. Ihm war nie so recht klar gewesen, wie verzweifelt er sich an diesem Ort des Jammers nach einem Freund gesehnt hatte. »Vannor, was ist mit Aurian? Ich weiß, daß sie noch leben muß, denn sie ist nicht hier entlanggekommen, aber geht es ihr gut? Ist sie in Sicherheit? Kümmert Anvar sich um sie? Was ist mit unserem Kind?« Er war so begierig, endlich mehr zu erfahren, daß seine Fragen sich überschlugen und er seinem Freund kaum Gelegenheit gab zu antworten.
Als Forral jedoch den ernsten Gesichtsausdruck des Kaufmannes sah, durchzuckte ihn kalte Furcht. »Es tut mir leid, Forral, diese Fragen kann ich dir nicht beantworten.« Vannor seufzte. »Vor ungefähr sieben Jahren hat Eliseth Aurian und Anvar im Tal der Lady Eilin angegriffen. Aurian hatte das Flammenschwert gefunden, aber Eliseth hat es ihr gestohlen. Dann verschwanden die drei – sie versanken buchstäblich im Nichts.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich …«
Plötzlich trat ein merkwürdiger Ausdruck in die Augen des Kaufmanns. Für den Schwertkämpfer sah es nach blanker Angst aus. Forral blinzelte und rieb sich die Augen. Das Licht an diesem Ort war trügerisch, aber für ihn sah es so aus, als würde Vannor langsam verblassen …
»Forral – hilf mir«, rief das Oberhaupt der Kaufmannsgilde. »Ich fühle mich so merkwürdig – etwas zieht an mir … oh, ihr Götter! Ich kann dich nicht mehr sehen …« Seine Stimme schwand zu einem verzweifelten Wimmern, das in dem zornigen Aufschrei des Todes unterging. »Halt! Diese Seele gehört mir!«
Der Geist trat so hastig vor, daß Forral zur Seite gestoßen wurde – aber es war zu spät. Vannor war fort.