9. Kapitel


Rupert und Francesca saßen schweigend in ihrem Wohnzimmer und sahen einander an. Auf Toms Vorschlag hatten beide in ihren Büros angerufen und sich für den restlichen Nachmittag frei genommen. Keiner von beiden hatte auf der Taxifahrt zurück nach Fulham ein Wort gesagt. Francesca hatte Rupert gelegentlich einen verletzten, verwunderten Blick zugeworfen; er hatte dagesessen, auf seine Hände gestarrt und überlegt, was er sagen würde. Überlegt, ob er sich eine Geschichte zurechtlegen oder ob er ihr die Wahrheit über sich sagen sollte.

Wie würde sie reagieren, wenn er es tat? Wäre sie wütend? Verzweifelt? Abgestoßen? Vielleicht würde sie sagen, sie hätte schon immer gewusst, dass an ihm etwas anders sei. Vielleicht würde sie versuchen, ihn zu verstehen. Aber wie konnte sie verstehen, was er selbst nicht verstand?

»Gut«, sagte Francesca. »Hier sitzen wir nun also.« Sie sah ihn erwartungsvoll an, und Rupert wandte sich ab. Draußen sangen Vögel, Automotoren wurden angelassen, Kleinkinder schrien, die ihre Kindermädchen in den Wagen drückten. Nachmittägliche Geräusche, an die er nicht gewohnt war. Er fühlte sich unsicher, wie er so im winterlichen Tageslicht dasaß, unsicher angesichts des angespannten, besorgten Blicks seiner Frau.

»Ich finde«, sagte Francesca unvermittelt, »wir sollten beten.«

»Was?« Rupert sah erstaunt auf.

»Ehe wir reden.« Francesca blickte ihn ernst an. »Ein gemeinsames Gebet könnte uns vielleicht helfen.«

»Ich glaube nicht, dass es mir helfen würde«, wandte Rupert ein. Sein Blick wanderte zum Barschrank und wieder weg.

»Rupert, was ist los?«, rief Francesca. »Warum bist du so merkwürdig? Bist du in Milly verliebt?«

»Nein!«, erwiderte Rupert mit Nachdruck.

»Nein?« Francesca machte große Augen. »Du warst nie mit ihr zusammen?«

»Nein.« Wäre er nicht so nervös gewesen, dann hätte er gelacht. »Ich war nie mit ihr zusammen. Nicht in diesem Sinne.«

»Nicht in diesem Sinne«, wiederholte Francesca. »Was soll das heißen?«

»Francesca, du bist völlig auf dem Holzweg.« Er versuchte ein Lächeln. »Schau, können wir das alles nicht einfach vergessen? Milly ist eine alte Bekannte. Schluss, aus.«

»Ich wünschte, ich könnte dir glauben«, meinte Francesca. »Aber es ist doch offensichtlich, dass da etwas läuft.«

»Da läuft gar nichts.«

»Und wovon hat sie dann gesprochen?« Unvermittelt hob sich Francescas Stimme leidenschaftlich. »Rupert, ich bin deine Frau! Wir sollten keine Geheimnisse voreinander haben!«

Rupert starrte seine Frau an. Ihre blassen Augen glänzten leicht, sie rang die Hände. Um ihr Handgelenk trug sie die teure Uhr, die er ihr zum Geburtstag gekauft hatte. Sie hatten sie zusammen bei Selfridges ausgesucht und sich dann Ein Inspektor kommt angeschaut. Es war ein rundum schöner Tag gewesen.

Unvermittelt sagte er: »Ich möchte dich nicht verlieren. Ich liebe dich. Und ich werde unsere Kinder lieben, wenn wir welche haben.« Francesca sah ihn beklommen an.

»Aber«, sagte sie. »Was ist das Aber?«

Rupert erwiderte wortlos ihren Blick. Er wusste nicht, wie er antworten, wo er anfangen sollte.

»Steckst du in Schwierigkeiten?«, fragte Francesca unvermittelt. »Verbirgst du etwas vor mir?« Ihre Stimme nahm einen alarmierten Ton an.

»Nein«, sagte Rupert. »In Schwierigkeiten stecke ich nicht. Ich bin bloß …«

»Was?«, fragte Francesca ungeduldig. »Was bist du?«

»Gute Frage.« Eine unerträgliche Spannung baute sich in ihm auf, und er runzelte die Stirn.

»Was?«, sagte Francesca. »Wie meinst du das?«

Rupert grub seine Nägel in seine Handflächen und holte tief Luft. Es gab nur einen Weg, und der führte vorwärts.

»Als ich in Oxford war«, sagte er und hielt dann inne, »war da ein Mann.«

»Ein Mann?«

Rupert sah auf und begegnete Francescas Blick. Er war ausdruckslos, ahnungslos. Sie wartete darauf, dass er fortfuhr. Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.

»Ich hatte eine Beziehung mit ihm«, sagte er, den Blick noch immer auf sie gerichtet. »Eine enge Beziehung.«

Er machte eine Pause und wartete, versuchte, sie durch Willenskraft dazu zu bringen, aus seinen Worten die richtige Schlussfolgerung zu ziehen. Scheinbar ewig blieben ihre Augen ausdruckslos.

Und dann geschah es plötzlich. Sie riss die Augen auf und schloss sie wieder wie eine Katze. Sie hatte verstanden. Sie hatte verstanden, was er meinte. Ängstlich sah Rupert sie an und versuchte, ihre Reaktion abzuschätzen.

»Ich verstehe nicht«, versetzte sie schließlich. »Rupert, du redest Unsinn! Das ist pure Zeitverschwendung!«

Sie erhob sich vom Sofa, wischte sich eingebildete Krümel vom Schoß und wich dabei seinem Blick aus.

»Schatz, es war nicht recht von mir, an dir zu zweifeln«, sagte sie. »Es tut mir leid. Ich hätte dir nicht misstrauen sollen. Natürlich hast du das Recht, zu treffen, wen du willst. Sollen wir die ganze Sache nicht einfach vergessen?«

Rupert starrte sie ungläubig an. War das ihr Ernst? War sie wirklich bereit, weiterzumachen wie bisher? Bereit, vorzugeben, er hätte nichts gesagt, die enormen Fragen zu ignorieren, die sicher an ihr nagten? Hatte sie wirklich so große Angst vor den Antworten, die sie hören müsste?

»Ich mache uns einen Tee, ja?«, fuhr Francesca mit gekünstelter Munterkeit fort. »Und ich taue ein paar Scones auf. Die sind köstlich!«

»Francesca«, sagte Rupert. »Hör auf damit. Du hast gehört, was ich gesagt habe. Möchtest du nicht mehr wissen?« Er stand auf und ergriff ihr Handgelenk. »Du hast gehört, was ich gesagt habe.«

»Rupert!« Francesca lachte kurz auf. »Lass mich los! – Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Für mein Misstrauen dir gegenüber habe ich mich bereits entschuldigt. Was möchtest du noch?«

»Ich möchte …«, begann Rupert. Sein Griff um ihr Handgelenk wurde fester, eine plötzliche Gewissheit überkam ihn. »Ich möchte dir alles erzählen.«

»Du hast mir alles erzählt«, erwiderte Francesca rasch. »Ich verstehe völlig. Es war ein dummes Missverständnis.«

»Gar nichts habe ich dir erzählt.« Unvermittelt verspürte er das verzweifelte Verlangen zu sprechen, sich alles von der Seele zu reden. »Francesca …«

»Warum können wir es nicht einfach vergessen?«, fragte Francesca. In ihrer Stimme schwang Panik mit.

»Weil es nicht ehrlich wäre!«

»Nun, vielleicht will ich nicht ehrlich sein!« Ihr Gesicht war gerötet, ihre Blicke schnellten umher. Sie sah aus wie ein Kaninchen in der Falle.

Lass sie in Ruhe, sagte Rupert sich. Sag nichts mehr, lass sie einfach in Ruhe. Aber der Drang zu reden war unerträglich, jetzt, wo er angefangen hatte, gab es kein Zurück mehr.

»Du willst nicht ehrlich sein?«, sagte er und verachtete sich selbst dafür. »Du möchtest, dass ich falsches Zeugnis ablege? Ist es das, was du willst, Francesca?«

Er beobachtete die Veränderungen in ihrem Gesicht, während sie verzweifelt versuchte, die eigenen Ängste mit Gottes Geboten in Einklang zu bringen.

»Du hast recht«, sagte sie schließlich. »Es tut mir leid.« Sie blickte ihn ängstlich an, dann senkte sie gehorsam den Kopf. »Was möchtest du mir erzählen?«

Hör jetzt auf, sagte sich Rupert. Hör jetzt auf, ehe du sie restlos unglücklich machst.

»Ich hatte eine Affäre mit einem Mann«, sagte er.

Er verstummte und wartete auf eine Reaktion. Einen Schrei, ein Keuchen. Aber Francesca hielt den Kopf weiterhin gesenkt. Sie rührte sich nicht.

»Er hieß Allan.« Er schluckte. »Ich habe ihn geliebt.«

Er wagte kaum zu atmen. Unvermittelt sah sie auf. »Du denkst dir das aus.«

»Was?«

»Das sehe ich doch«, sagte Francesca rasch. »Du hast Schuldgefühle wegen dieser Milly, du hast diese alberne Geschichte erfunden, um mich auf eine falsche Fährte zu bringen.«

»Das stimmt nicht«, entgegnete Rupert. »Das ist keine Geschichte. Das ist die Wahrheit.«

»Nein.« Francesca schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Doch.«

»Nein!«

»Doch, Francesca!«, rief Rupert. »Doch! Es ist wahr! Ich hatte eine Affäre mit einem Mann. Er hieß Allan. Allan Kepinski.«

Lange herrschte Stille, dann schaute Francesca ihn an. Sie sah krank aus.

»Du hast wirklich …«

»Ja.«

»Hast du tatsächlich …«

»Ja«, sagte Rupert. »Ja.« Während er das sagte, verspürte er eine Mischung aus Schmerz und Erleichterung – als würde eine schwere Last von ihm genommen, die allerdings eine Wunde hinterließ. »Ich habe mit ihm geschlafen.« Er schloss die Augen. »Wir haben uns geliebt.« Plötzlich fluteten die Erinnerungen zurück. Wieder war er mit Allan in der Dunkelheit, spürte seine Haut, sein Haar, seine Zunge.

»Ich will nichts mehr hören«, flüsterte Francesca. »Mir ist nicht gut.« Rupert öffnete die Augen und sah, wie sie aufstand, unsicher zur Tür ging. Sie war blass, und ihre Hände zitterten, als sie nach der Türklinke griff. Schwere Schuldgefühle ergriffen ihn.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Francesca, es tut mir leid.«

»Bitte nicht mich um Verzeihung«, erwiderte Francesca stockend. »Nicht mich. Den Herrn musst du um Verzeihung bitten.«

»Francesca …«

»Du musst um Vergebung beten. Ich werde …« Sie brach ab und holte tief Luft. »Ich werde auch beten.«

»Können wir nicht darüber reden?«, fragte Rupert verzweifelt. »Können wir nicht zumindest darüber reden?« Er stand auf und ging auf sie zu. »Francesca?«

»Nicht!«, kreischte sie, als er nach ihrem Ärmel griff. »Fass mich nicht an!« Sie sah ihn mit funkelnden Augen an. Ihr Gesicht war weiß wie eine Wand.

»Ich wollte doch bloß …«

»Komm mir bloß nicht zu nahe!«

»Aber …«

»Du hast mit mir geschlafen!«, flüsterte sie. »Du hast mich berührt! Du …« Sie brach ab und würgte.

»Francesca …«

»Mir wird schlecht«, sagte sie zittrig und rannte aus dem Zimmer.

Rupert blieb an der Tür stehen, lauschte, wie sie die Treppe hinaufrannte und die Badezimmertür verriegelte. Er zitterte am ganzen Körper, seine Beine gaben nach. Nach der Abscheu, die er in Francescas Gesicht gesehen hatte, wäre er am liebsten weggeschlichen und hätte sich versteckt. Sie war vor ihm zurückgewichen, als wäre seine Sündhaftigkeit ansteckend. Als wäre er ein Unberührbarer.

Plötzlich glaubte er, weinend zusammenzubrechen. Doch stattdessen ging er unsicher zum Barschrank und holte eine Flasche Whisky heraus. Als er den Verschluss aufschraubte, erhaschte er im Spiegel einen Blick von sich. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Wangen gerötet, das Gesicht voll Kummer und Angst. Schlechter hätte er nicht aussehen können.

Bete, hatte Francesca gesagt. Bitte Gott um Vergebung. Rupert umklammerte die Flasche fester. Herr, versuchte er. Gott, Vater, vergib mir. Aber die Worte kamen nicht; der Wille dazu fehlte. Er wollte nicht bereuen. Er wollte nicht erlöst werden. Er war ein elender Sünder, und es war ihm gleich.

Gott hasst mich, dachte Rupert, während er sein Spiegelbild betrachtete. Gott existiert nicht. Beides schien gleichermaßen wahrscheinlich.

Etwas später kam Francesca wieder herunter. Sie hatte sich das Haar gebürstet, das Gesicht gewaschen und eine Jeans und einen Pullover angezogen. Rupert sah vom Sofa auf, auf dem er mit seiner Whiskyflasche immer noch saß. Sie war halb leer, und alles in seinem Kopf drehte sich, aber besser fühlte er sich trotzdem nicht.

»Ich habe mit Tom gesprochen«, sagte Francesca. »Er kommt nachher vorbei.« Rupert riss den Kopf herum.

»Tom?«

»Ich habe ihm alles erzählt.« Francescas Stimme zitterte. »Er sagt, wir sollen uns keine Sorgen machen. So was hört er nicht zum ersten Mal.« In Ruperts Kopf begann es zu hämmern.

»Ich will ihn nicht sehen.«

»Er möchte helfen!«

»Ich will gar nicht, dass er davon weiß! Das geht ihn doch gar nichts an!« Ein Anflug von Panik schlich sich in Ruperts Stimme. Nur zu gut konnte er sich Toms Gesicht vorstellen, wie er ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel ansah. Tom würde mit Ekel reagieren. Alle würden das.

»Er möchte helfen«, wiederholte Francesca. »Und, Schatz …« Ihr Tonfall veränderte sich, und Rupert sah überrascht auf. »Ich möchte mich entschuldigen. Es war falsch, so heftig zu reagieren. Ich bin einfach in Panik geraten. Tom hat gesagt, das sei völlig normal. Er hat gesagt …« Francesca hielt inne und biss sich auf die Lippe. »Na, egal. Wir können damit fertig werden. Mit viel Unterstützung und Gebeten …«

»Francesca …«, begann Rupert. Sie hob die Hand.

»Nein, warte.« Langsam ging sie auf ihn zu. Rupert starrte sie an. »Tom hat gesagt, ich müsse zusehen, dass meine Gefühle …«, sie hielt inne, »unserer körperlichen Liebe nicht im Wege stehen. Ich hätte dich nicht abweisen dürfen. Ich habe meinen eigenen selbstsüchtigen Empfindungen nachgegeben, und das war falsch von mir.« Sie schluckte. »Es tut mir leid. Bitte verzeih mir.«

Sie kam weiter auf ihn zu, bis sie nur wenige Zentimeter vor ihm stand.

»Es ist nicht an mir, mich dir zu verweigern«, flüsterte sie. »Du hast jedes Recht, mich zu berühren. Du bist mein Mann. Ich habe vor Gott versprochen, dich zu lieben, dir zu gehorchen und mich dir hinzugeben.«

Rupert starrte sie an. Er brachte vor Schock kein Wort heraus. Langsam hob er die Hand und legte sie sanft auf ihren Ärmel. Ein Hauch von Abscheu huschte über ihr Gesicht, aber sie sah ihn weiter unverwandt an, als sei sie entschlossen, es durchzustehen; als hätte sie keine andere Wahl.

»Nein!«, sagte Rupert unvermittelt und zog seine Hand zurück. »So geht es nicht. Das ist falsch! Francesca, du bist kein Opferlamm! Du bist ein Mensch!«

»Ich möchte unsere Ehe retten«, entgegnete sie mit bebender Stimme. »Tom hat gesagt …«

»Tom hat gesagt, wenn wir zusammen ins Bett gingen, würde alles wieder gut werden, nicht?« Ruperts Stimme triefte vor Sarkasmus. »Tom hat dir geraten, mach einfach die Augen zu und denk an Jesus.«

»Rupert!«

»Ich lasse es nicht zu, dass du dich so unterwirfst. Francesca, ich liebe dich! Ich respektiere dich!«

»Nun, wenn du mich liebst und respektierst«, sagte Francesca in plötzlich grimmigem Tonfall, »warum hast du mich dann angelogen?« Ihre Stimme brach. »Mit dem Wissen um deinen Zustand, wieso hast du mich geheiratet?«

»Francesca, ich bin immer noch ich! Ich bin immer noch Rupert!«

»Bist du nicht! Nicht für mich!« Tränen traten ihr in die Augen. »Ich kann dich nicht mehr sehen. Alles, was ich noch sehen kann, ist …« Sie erschauerte leicht vor Ekel. »Wenn ich daran denke, wird mir schlecht …«

Rupert sah sie unglücklich an.

»Sag mir, was ich tun soll«, sagte er schließlich. »Möchtest du, dass ich ausziehe?«

»Nein«, erwiderte Francesca sofort. »Nein.« Sie zögerte. »Tom hat vorgeschlagen …«

»Was?«

»Er hat«, sie schluckte leicht, »eine öffentliche Beichte vorgeschlagen. Beim Abendgottesdienst. Wenn du der Gemeinde und Gott deine Sünden laut beichtest, dann kannst du vielleicht neu anfangen. Ohne weitere Lügen. Ohne Sünde.«

Rupert starrte sie an. Alles in ihm wehrte sich gegen ihren Vorschlag.

»Tom hat gesagt, dass dir vielleicht noch nicht völlig klar ist, was für ein Unrecht du begangen hast«, fuhr Francesca fort. »Aber wenn das erst mal der Fall ist, und wenn du das Ganze erst mal richtig bereut hast, dann werden wir neu anfangen können. Wir beide.« Sie sah auf und wischte die Tränen weg. »Was meinst du? Was meinst du dazu, Rupert?«

»Ich werde nichts bereuen«, erwiderte Rupert unwillkürlich.

»Was?« Francesca machte ein schockiertes Gesicht.

»Ich werde nichts bereuen«, wiederholte Rupert zittrig. Er grub die Fingernägel in die Handflächen. »Ich werde mich nicht öffentlich hinstellen und sagen, dass das, was ich getan habe, unrecht war.«

»Aber …«

»Ich habe Allan geliebt. Und er mich. Und was wir getan haben, war weder unrecht noch schlecht. Es war …« Mit einem Mal brannten Tränen in Ruperts Augen. »Es war eine schöne, liebevolle Beziehung. Was auch immer die Bibel dazu sagt.«

»Meinst du das im Ernst?«

»Ja.« Rupert atmete erschauernd aus. »Ich wünschte, um unser beider willen, es wäre nicht so. Aber ich meine es ernst.« Er sah ihr direkt in die Augen. »Was ich getan habe, bedaure ich nicht.«

»Dann bist du krank!«, schrie Francesca. Panik schlich sich in ihre Stimme. »Du bist krank! Du warst mit einem Mann zusammen! Wie kann das schön sein? Ekelhaft ist das!«

»Francesca …«

»Und was ist mit mir?« Ihre Stimme wurde schriller. »Wie war das, als wir zusammen im Bett waren? Hast du dir da die ganze Zeit gewünscht, er wäre es?«

»Nein!«, schrie Rupert. »Natürlich nicht.«

»Aber du sagst, du hättest ihn geliebt!«

»Das habe ich auch. Aber damals war mir das nicht klar.« Er hielt inne. »Francesca, es tut mir so leid.«

Einen schmerzlichen Augenblick lang sah sie ihn schweigend an, dann wich sie zurück, langte blind nach einem Stuhl.

»Ich verstehe das nicht«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Bist du wirklich homosexuell? Tom meinte, du seist es nicht. Er sagte, viele junge Männer schlügen erst den falschen Weg ein.«

»Woher will Tom das denn wissen?«, rief Rupert. Er fühlte sich in die Enge getrieben.

»Also – bist du es?«, hakte Francesca nach. »Bist du homosexuell?«

Eine lange Pause trat ein.

»Ich weiß es nicht«, meinte Rupert schließlich. Er ließ sich aufs Sofa fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich weiß nicht, was ich bin.«

Als er nach ein paar Minuten wieder aufsah, war Francesca verschwunden. Noch immer zwitscherten draußen die Vögel; in der Ferne brausten Autos. Alles war wie vorher. Nichts war wie vorher.

Rupert blickte auf seine zitternden Hände. Auf den Siegelring, den Francesca ihm zur Hochzeit geschenkt hatte. Mit einem Mal erinnerte er sich wieder an das Glück, das er an jenem Tag empfunden hatte, seine Erleichterung, als er mit ein paar schlichten Worten Teil der legitim verheirateten Massen geworden war. Als er Francesca aus der Kirche führte, war es ihm, als gehöre er endlich dazu, als sei er endlich normal. Und genau das wollte er. Er wollte nicht schwul sei. Er wollte keiner Minderheit angehören. Er wollte einfach so sein wie alle anderen auch.

Alles war so verlaufen, wie Allan es vorausgesagt hatte. Allan hatte verstanden, er wusste genau, wie Rupert sich fühlte. Er hatte beobachtet, wie sich Ruperts Empfindungen während jener Wochen im Spätsommer allmählich von Leidenschaft in Verlegenheit wandelten. Er hatte geduldig abgewartet, während Rupert versuchte, sich von ihm zu lösen, ihn Tage hintereinander ignorierte, nur um ihm schließlich mit mehr Leidenschaft denn je wieder zu erliegen. Er war mitfühlend und verständnisvoll gewesen. Und im Gegenzug war Rupert vor ihm geflohen.

Der Beginn seines Sinneswandels kam Anfang September. Rupert und Allan waren zusammen die Broad Street entlanggegangen, zwar nicht Händchen haltend, aber ihre Arme hatten sich berührt, sie hatten miteinander getuschelt, sich wie Liebende angelächelt. Und dann rief jemand Ruperts Namen.

»Rupert! Hi!«

Er riss den Kopf hoch. Ben Fisher stand auf der anderen Straßenseite und grinste ihn an, ein Junge, der in seiner alten Schule eine Klasse unter ihm gewesen war. Plötzlich erinnerte Rupert sich an einen Brief seines Vaters, den er ihm ein paar Wochen vorher geschrieben hatte. An dessen wehmütige Hoffnung, dass Rupert einen Teil der Ferien nach Hause kommen möge, die triumphierende Neuigkeit, ein weiterer Junge aus der kleinen Schule in Cornwall würde sich bald zu ihm nach Oxford gesellen.

»Ben!«, rief Rupert aus und eilte über die Straße. »Herzlich willkommen! Hab schon gehört, dass du kommst.«

»Ich hoffe, du führst mich hier ein bisschen herum«, erwiderte Ben und blinzelte mit seinen dunklen Augen. »Und stellst mich ein paar Mädchen vor. Hinter dir muss doch die ganze Stadt her sein, du Frauenheld!« Dann wanderte sein Blick neugierig zu Allan, der noch immer auf der anderen Straßenseite stand. »Wer ist das?«, fragte er. »Ein Freund?«

Ruperts Herzschlag setzte kurz aus. In plötzlicher Panik sah er sich mit den Augen seiner Freunde aus Cornwall. Seiner Lehrer. Seines Vaters.

»Oh, der?«, erwiderte er nach einer Pause. »Niemand Besonderes. Bloß einer der Tutoren.«

Am nächsten Abend ging er mit Ben in eine Bar, trank Tequila und flirtete wild mit ein paar hübschen Italienerinnen. Bei seiner Rückkehr wartete Allan in seinem Zimmer auf ihn.

»Einen schönen Abend gehabt?«, erkundigte er sich freundlich.

»Ja«, antwortete Rupert, unfähig, seinem Blick zu begegnen. »Ja, ich war mit … Freunden unterwegs.« Er zog sich rasch aus, legte sich ins Bett und schloss die Augen, als Allan sich ihm näherte. Als sie miteinander schliefen, verdrängte er alle Schuldgefühle, alles Grübeln.

Aber am nächsten Abend ging er wieder mit Ben aus, und dieses Mal zwang er sich, eines der hübschen Mädchen zu küssen, die ihn umschwirrten wie Motten das Licht. Sie ging sofort auf ihn ein, ermutigte ihn, seine Hände über ihren weichen, unvertrauten Körper wandern zu lassen. Am Ende des Abends lud sie ihn ein, mit in das Haus in der Cowley Road zu kommen, das sie mit anderen zusammen bewohnte.

Er hatte sie langsam und unbeholfen entkleidet, hatte sich an Filmszenen orientiert, in der Hoffnung, ihre offensichtliche Erfahrung würde auch ihn mit durchbringen. Irgendwie schaffte er es, die Sache erfolgreich hinter sich zu bringen; er hatte keine Ahnung, ob ihre lustvollen Schreie echt oder vorgetäuscht waren, und es war ihm auch egal. Am nächsten Morgen erwachte er in ihrem Bett, an ihren glatten Frauenkörper geschmiegt, und atmete ihren femininen Duft ein. Er küsste ihre Schulter, wie er immer Allans Schulter küsste, langte versuchsweise um sie herum und berührte ihre Brust – und stellte zu seiner Überraschung fest, dass er erregt war. Er wollte den Körper dieses Mädchens berühren. Er wollte sie küssen. Der Gedanke, wieder mit ihr zu schlafen, erregte ihn. Er war normal. Er konnte normal sein.

»Läufst du vor mir davon?«, fragte Allan ein paar Tage später, als sie zusammen Nudeln aßen. »Brauchst du etwas Freiraum?«

»Nein!«, erwiderte Rupert allzu nachdrücklich. »Alles in Ordnung.« Einen Augenblick sah Allan ihn schweigend an, dann legte er seine Gabel ab.

»Bitte keine Panik.« Er langte nach Ruperts Hand und zuckte zusammen, als Rupert sie fortzog. »Gib nichts auf, was wunderschön sein könnte, nur weil du Angst hast.«

»Ich habe keine Angst!«

»Natürlich hast du Angst. Jeder hat Angst. Ich auch.«

»Du?« Rupert versuchte, nicht trotzig zu klingen. »Wieso in aller Welt hast du Angst?«

»Ich habe Angst«, erwiderte Allan langsam, »weil ich verstehe, was du tust, und ich weiß, was das für mich bedeutet. Du versuchst zu fliehen. Du versuchst, von mir loszukommen. In ein paar Wochen gehst du auf der Straße an mir vorbei und siehst weg. Habe ich recht?«

Er schaute Rupert mit dunklen Augen an und wartete darauf, dass er ihm widersprach. Aber Rupert schwieg.

Danach war es schnell bergab gegangen. Eine Woche vor Beginn des neuen Semesters führten sie eine letzte Unterhaltung in einer kaum besuchten Bar des Keble College.

»Ich kann einfach nicht …«, murmelte Rupert, steif vor Befangenheit, ein Auge auf den gleichgültigen Barkeeper gerichtet. »Ich bin nicht …« Er beendete den Satz nicht, trank stattdessen einen großen Schluck Whisky. »Du verstehst nicht.« Er sah flehend zu Allan auf, dann rasch wieder fort.

»Nein«, sagte Allan leise, »ich verstehe nicht. Wir waren glücklich miteinander.«

»Es war ein Fehler. Ich bin nicht schwul.«

»Du fühlst dich von mir also nicht angezogen?«, fragte Allan und heftete die Augen auf Ruperts. »Ist es das? Du fühlst dich von mir nicht angezogen?«

Rupert erwiderte seinen Blick und hatte dabei das Gefühl, etwas würde in ihm entzweireißen. In einem Pub warteten Ben und zwei Mädchen auf ihn. Diese Nacht würde er fast sicher mit einer von ihnen schlafen. Aber er wollte Allan mehr als jedes Mädchen.

»Nein«, sagte er schließlich. »Tu ich nicht.«

»Gut«, sagte Allan wütend. »Lüg mich an. Lüg dich an. Heirate. Bekomm ein Kind. Tu so, als seist du hetero. Aber du wirst fühlen, dass du es nicht bist, und ich fühle es auch.«

»Bin ich aber«, entgegnete Rupert schwach und sah Allans Augen verächtlich aufblitzen.

»Was auch immer.« Sein Glas war leer, und er stand auf.

»Wirst du klarkommen?«, fragte Rupert, der Allan beobachtete.

»Tu nicht so gönnerhaft«, rief Allan hitzig zurück. »Nein, ich komme nicht klar. Aber ich komme darüber hinweg.«

»Es tut mir leid.«

Allan hatte nichts mehr erwidert. Rupert hatte wortlos beobachtet, wie er die Bar verließ, eine oder zwei Minuten lang empfand er nichts als rohen Schmerz. Doch nach zwei weiteren Whiskys fühlte er sich ein wenig besser. Wie ausgemacht traf er Ben in dem Pub, trank ein paar Pints und noch eine ganze Menge Whisky. Später an diesem Abend, nachdem er mit dem hübscheren der beiden Mädchen, die Ben aufgerissen hatte, geschlafen hatte, lag er wach und sagte sich immer wieder, er sei normal, er sei wieder auf Kurs, er sei glücklich. Und noch eine ganze Weile war es ihm gelungen, das zu glauben.

»In ein paar Minuten wird Tom da sein.« Francescas Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. Rupert blickte auf. Sie stand an der Tür, in den Händen ein Tablett. Darauf die cremefarbene Teekanne, die sie für ihre Hochzeitsliste ausgewählt hatten, dazu Tassen, Untertassen und ein Teller mit Schokoladenkeksen.

»Verdammt, Francesca«, sagte Rupert matt. »Wir veranstalten doch keine Teeparty.« Sie machte ein verletztes, schockiertes Gesicht, dann fing sie sich wieder und nickte.

»Vielleicht hast du recht«, sagte sie und stellte das Tablett auf einem Stuhl ab. »Vielleicht ist das ein bisschen unpassend.«

»Die ganze Sache ist unpassend.« Rupert stand auf und ging langsam zur Tür. »Ich spreche doch mit Tom nicht über meine sexuellen Neigungen!«

»Aber er möchte helfen!«

»Ach was!«, widersprach Rupert Francesca. »Er möchte dirigieren. Nicht helfen.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Francesca und runzelte die Stirn.

Rupert zuckte die Achseln. Eine Weile schwiegen beide. Dann biss Francesca sich auf die Lippe.

»Ich habe mich gefragt«, meinte sie zögernd, »ob du nicht vielleicht auch zu einem Arzt gehen solltest. Wir könnten Dr. Askew fragen, ob er nicht jemanden empfehlen kann. Was hältst du davon?«

Rupert starrte sie fassungslos an. Es war, als hätte sie ihm mit einem Hammer ins Gesicht geschlagen.

»Zu einem Arzt?«, echote er schließlich, bemüht, ruhig zu klingen. »Zu einem Arzt

»Ich dachte …«

»Du meinst, bei mir stimmt medizinisch etwas nicht?«

»Nein! Ich dachte bloß …« Francesca errötete. »Vielleicht gibt’s etwas, das du nehmen kannst.«

»Eine Antischwulenpille?« Er hatte seine Stimme nicht mehr unter Kontrolle. Wer war diese Frau, die er geheiratet hatte? Wer war sie? »Meinst du das im Ernst?«

»Ist ja bloß eine Idee!«

Ein paar wortlose Minuten starrte Rupert Francesca an. Dann ging er schweigend an ihr vorbei in die Diele und nahm seine Jacke von der Garderobe herunter.

»Rupert!«, rief sie. »Wo gehst du hin?«

»Ich muss raus hier.«

»Aber wohin?«, schrie Francesca. »Wohin gehst du?«

Rupert betrachtete sich im Dielenspiegel.

»Ich gehe«, antwortete er bedächtig, »und suche Allan.«

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