Als gedenke er, in ihrer Mitte einen Mörder zu entlarven, hatte Pfarrer Lytton darum gebeten, alle Familienmitglieder sollten sich im Wohnzimmer versammeln.
»Aber wir sind nur zu zweit«, wandte Isobel verächtlich ein. »Möchten Sie, dass wir uns versammeln? Oder möchten Sie später wieder kommen?«
»O nein, wirklich nicht«, hatte Lytton feierlich erwidert. »Begeben wir uns ins Wohnzimmer.«
Nun saß er mit strengdüsterem Gesicht auf dem Sofa, und sein Talar fiel in staubigen Falten um ihn herum. Ich wette, der übt diesen Gesichtsausdruck vor dem Spiegel, dachte Isobel bei sich. Um damit den Kindern in der Sonntagsschule Angst einzujagen.
»Ich habe mich wegen einer Angelegenheit von höchster Bedenklichkeit herbegeben«, begann er. »Um es kurz zu machen, ich möchte mich vergewissern, ob eine Information, die mir zugetragen wurde, der Wahrheit entspricht oder nicht.«
»Von wem haben Sie die denn?«, erkundigte sich Isobel. Lytton ignorierte sie.
»Als Gemeindepfarrer und derjeniger, der die beabsichtigte Eheschließung von Milly und Simon vollzieht«, sagte er und hob leicht die Stimme, »ist es meine Pflicht nachzuprüfen, ob Milly, wie auf dem Formular angegeben, ehelos ist, oder ob sie es – eben – nicht ist. Bei ihrer Rückkehr werde ich sie das persönlich fragen. Unterdessen wäre ich dankbar, wenn Sie, als ihre Mutter, in ihrem Namen antworten könnten.« Er hielt inne und sah Olivia bedeutungsvoll an. Die runzelte die Stirn.
»Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Fragen Sie, ob Milly und Simon zusammenwohnen? Das tun sie nämlich nicht, wissen Sie. Da sind die beiden ziemlich altmodisch.«
»Das war nicht meine Frage«, erwiderte Lytton. »Meine Frage lautet viel einfacher: War Milly schon einmal verheiratet?«
»Schon mal verheiratet?« Olivia lachte schockiert auf. »Wovon reden Sie?«
»Mir wurde zugetragen …«
»Wie meinen Sie das?«, fiel ihm Olivia ins Wort. »Behauptet etwa jemand, Milly sei schon einmal verheiratet gewesen?« Der Pfarrer nickte. »Nun, dann lügt er! Natürlich war sie noch nicht verheiratet! Wie können Sie so etwas bloß glauben!«
»Es ist meine Pflicht, solchen Anschuldigungen nachzugehen.«
»Was?«, erboste sich Isobel. »Auch wenn sie von absoluten Spinnern stammen?«
»Ich handle nach eigenem Gutdünken«, sagte Lytton und sah sie streng an. »Die Person, die mir das erzählt hat, war recht beharrlich – und behauptete sogar, eine Abschrift der Heiratsurkunde zu haben.«
»Wer war das?«, wollte Isobel wissen.
»Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu erteilen«, erklärte Lytton und ordnete seinen Talar sorgfältig neu.
Du genießt das, dachte Isobel, während sie ihn beobachtete. Und wie du das genießt.
»Eifersucht!«, sagte Olivia plötzlich. »Das muss es sein. Jemand ist eifersüchtig auf Milly und versucht, ihr die Hochzeit zu ruinieren. Enttäuschte Frauen gibt es hier sicher haufenweise. Kein Wunder, dass sie Milly zu ihrer Zielscheibe machen! Ehrlich, Pfarrer, Sie überraschen mich. Dass Sie solch einem verleumderischen Unsinn Glauben schenken!«
»Mag sein, dass es sich um verleumderischen Unsinn handelt«, entgegnete Lytton. »Dennoch möchte ich persönlich mit Milly sprechen, wenn sie wiederkommt. Für den Fall, dass an dieser Angelegenheit mehr dran ist, als Sie wissen.«
»Pfarrer Lytton«, sagte Olivia zornig. »Wollen Sie ernsthaft andeuten, meine Tochter könnte geheiratet haben, ohne es mir zu sagen? Meine Tochter erzählt mir alles!«
Isobel rutschte auf dem Sofa herum, und sowohl Olivia als auch Lytton wandten sich zu ihr um.
»Möchten Sie etwas sagen, Isobel?«, erkundigte sich der Geistliche.
»Nein«, sagte Isobel rasch und hustete. »Nichts.«
»Wen soll sie denn überhaupt geheiratet haben?«, wollte Olivia wissen. »Den Postboten?«
Kurze Zeit herrschte Stille. Isobel blickte möglichst gelassen auf.
»Einen Mann namens Kepinski«, sagte Lytton, der den Namen von einem Blatt Papier ablas. »Allan Kepinski.«
Isobel rutschte das Herz in die Hose. Für Milly bestand keine Hoffnung mehr.
»Allan Kepinski?«, fragte Olivia ungläubig. »Der Name ist doch erfunden, ein Trick ist das. Erdacht von irgendeinem armseligen Menschen, der Milly ihr Glück nicht gönnt! Davon liest man doch ständig. Nicht wahr, Isobel?«
»Ja«, erwiderte Isobel schwach. »Ständig, wirklich.«
»Und nun«, Olivia erhob sich, »wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, Herr Pfarrer. Ich habe noch tausend Sachen zu erledigen. Allerdings nicht, mir Lügengeschichten über meine Tochter anzuhören. Wir haben am Samstag eine Hochzeit, wissen Sie!«
»Das ist mir durchaus bewusst«, erwiderte Lytton. »Nichtsdestotrotz werde ich mit Milly darüber sprechen. Vielleicht ist es am späteren Abend günstiger.«
»Sie können mit ihr sprechen, so viel Sie wollen«, erwiderte Olivia. »Aber Sie verschwenden Ihre Zeit!«
»Ich komme wieder«, sagte Pfarrer Lytton gewichtig. »Wenn Sie erlauben, ich finde den Weg schon hinaus.«
Als die Haustür hinter ihm zufiel, sah Olivia Isobel an.
»Hast du eine Ahnung, wovon er redet?«
»Nein! Natürlich nicht.«
»Isobel«, sagte Olivia scharf, »du hast vielleicht den Pfarrer hinters Licht geführt, aber mich kannst du nicht täuschen. Du weißt etwas darüber, stimmt’s? Was ist los, sag?«
»Hör mal, Mummy.« Isobel bemühte sich um eine ruhige Stimme. »Ich finde, wir sollten warten, bis Milly heimkommt.«
»Warten? Worauf?« Olivia starrte sie bestürzt an. »Isobel, was sagst du da? An der Sache ist doch nicht etwa wirklich etwas dran, oder?«
»Ich sage nichts mehr«, sagte Isobel entschieden, »bis Milly wieder da ist.«
»Ich lass es nicht zu, dass ihr Mädels Geheimnisse vor mir habt«, empörte sich Olivia. Isobel seufzte.
»Um ehrlich zu sein, Mummy«, sagte sie, »ist es dafür ein bisschen zu spät.«
Milly trottete vom Bahnhof heim, als ein Auto neben ihr hielt.
»Hallo, Liebes«, grüßte sie James. »Möchtest du mitfahren?«
»Oh«, sagte Milly. »Danke!«
Ohne ihrem Vater in die Augen zu schauen, stieg sie ins Auto, blickte gerade nach vorn auf die dunkler werdende Straße und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Sie musste entscheiden, was zu tun war. Ein Plan musste her. Die ganze Fahrt von London zurück hatte sie sich den Kopf nach einer vernünftigen Lösung zerbrochen. Aber nun war sie wieder in Bath, nur noch ein paar Minuten von zu Hause entfernt, und sie war sich immer noch unsicher. Konnte sie Alexander wirklich dazu zwingen, den Mund zu halten? Es war bereits Donnerstagabend, die Trauung war am Samstag. Wenn sie doch bloß den Freitag irgendwie herumbekäme …
»War’s schön in London?«, fragte James. Milly fuhr zusammen.
»Ja«, sagte sie. »Ich war shoppen. Du weißt schon.«
»Und, hast du etwas Nettes gefunden?«
»Ja«, erwiderte Milly. Eine Pause entstand, und ihr wurde klar, dass sie keine Einkaufstüten dabeihatte. »Ich habe für Simon … Manschettenknöpfe gekauft.«
»Sehr nett. Ach übrigens, er hat gesagt, er würde später bei dir vorbeischauen. Nach der Arbeit.«
»Oh, gut.« Milly wurde es flau. Wie konnte sie Simon gegenübertreten? Wie konnte sie ihm auch nur in die Augen sehen?
Als sie aus dem Auto stiegen, verlangte es sie plötzlich danach, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Stattdessen folgte sie ihrem Vater die Treppen hinauf zur Haustür.
»Sie ist wieder da!«, hörte sie ihre Mutter rufen, als sie die Tür aufmachten. Olivia erschien in der Diele. »Milly!«, rief sie zornig. »Was soll der ganze Unsinn?«
»Unsinn?«, fragte Milly bange.
»Der ganze Unsinn von wegen, du seist verheiratet?«
Milly stockte das Herz vor Schreck.
»Was meinst du?«, fragte sie zittrig.
»Was ist denn los?«, erkundigte sich James, der Milly in die Diele folgte. »Olivia, ist alles in Ordnung mit dir?«
»Nein, keineswegs«, entgegnete Olivia mit stockender Stimme. »Pfarrer Lytton ist heute Nachmittag vorbeigekommen.« Sie sah über ihre Schulter. »Nicht wahr, Isobel?«
»Ja.« Isobel kam aus dem Wohnzimmer. »Er hat bei uns reingeschaut.« Sie zog eine Grimasse in Millys Richtung, und Milly starrte zurück, die Kehle wie zugeschnürt.
»Was hat er denn …«
»Er kam mit einer lächerlichen Geschichte über Milly daher!«, erzählte Olivia. »Hat behauptet, sie sei schon verheiratet.«
Milly rührte sich nicht. Ihre Augen schossen zu Isobel und wieder zurück.
»Bloß dass Isobel sie gar nicht für so lächerlich hält!«, sagte Olivia.
»Ach, wirklich?« Milly warf Isobel einen vernichtenden Blick zu.
»Mummy!«, rief Isobel schockiert. »Das ist nicht fair! Milly, ehrlich, ich habe überhaupt nichts gesagt. Ich habe gesagt, wir sollten warten, bis du wieder da bist.«
»Ja«, sagte Olivia. »Und nun ist sie wieder da. Deshalb sollte mir eine von euch jetzt mal lieber erzählen, was nun eigentlich Sache ist.« Milly sah von einem zum anderen.
»Na gut«, sagte sie mit bebender Stimme. »Lasst mich bloß noch meinen Mantel ausziehen.«
Während sie ihren Schal abnahm, den Mantel auszog und dann beides aufhängte, herrschte Schweigen. Sie drehte sich um und blickte in die Runde.
»Vielleicht sollten wir alle etwas trinken«, schlug sie vor.
»Ich will nichts trinken!«, rief Olivia. »Ich will wissen, was los ist. Milly, hat Pfarrer Lytton recht? Warst du schon mal verheiratet?«
»Wartet eine Minute, ich möchte mich hinsetzen«, bat Milly verzweifelt.
»Kommt nicht in Frage!«, schrie Olivia. »Du brauchst keine Minute! Wie lautet die Antwort? Warst du schon mal verheiratet oder nicht? Ja oder nein, Milly? Ja oder nein?«
»Ja!«, schrie Milly. »Ich bin verheiratet! Ich bin seit zehn Jahren verheiratet!«
Ihre Worte hallten in der Diele wider. Olivia wich zurück und klammerte sich an das Treppengeländer.
»Ich habe geheiratet, als ich in Oxford war«, fuhr Milly mit bebender Stimme fort. »Ich war achtzehn. Es … es hat nichts bedeutet. Und ich hab gedacht, das würde nie jemand herausbekommen. Ich hab gedacht …« Sie brach den Satz ab. »Ach, was soll’s?«
Schweigen. Isobel warf Olivia einen ängstlichen Blick zu. Deren Gesicht war dunkelrot angelaufen, sie schien Probleme mit der Atmung zu haben.
»Ist das dein Ernst, Milly?«, fragte sie schließlich.
»Ja.«
»Du hast wirklich mit achtzehn geheiratet? Und hast gedacht, das käme nicht raus?«
Eine Pause – dann nickte Milly kläglich.
»Dann bist du sehr, sehr dämlich!«, kreischte Olivia. Ihre Stimme peitschte durch den Raum, und Milly erbleichte. »Du bist ein dummes, egoistisches Ding! Wie konntest du dir einbilden, dass das niemand herausfinden würde? Wie hast du so dumm sein können? Du hast uns alles kaputtgemacht!«
»Hör auf!«, befahl James wütend. »Hör auf, Olivia!«
»Es tut mir leid«, flüsterte Milly. »Wirklich.«
»Was bringt es denn, dass es dir leidtut!«, kreischte Olivia. »Dafür ist es zu spät! Wie konntest du mir das antun?«
»Olivia!«
»Ich nehme an, du hast dich für clever gehalten, was? Zu heiraten und es geheim zu halten. Ich schätze, du hast dich für schrecklich erwachsen gehalten!«
»Nein«, erwiderte Milly kläglich.
»Wer war’s? Ein Student?«
»Ein Gastdozent.«
»Hat dein Herz im Sturm erobert? Hat dir alles Mögliche versprochen?«
»Nein!«, brüllte Milly, der es mit einem Mal zu viel wurde. »Ich habe ihn geheiratet, um ihm zu helfen! Damit er in England bleiben konnte!«
Olivia starrte Milly an, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich allmählich, als sie die ganze Bedeutung von Millys Worten erfasste.
»Du hast einen illegalen Einwanderer geheiratet?«, flüsterte sie. »Einen illegalen Einwanderer?«
»Sag das nicht so!«
»Was für ein illegaler Einwanderer war das denn?« Olivias Stimme nahm hysterische Töne an. »Hat er dir gedroht?«
»Herrgott noch mal, Mummy!«, sagte Isobel.
»Olivia«, sagte James. »Beruhige dich. Das hilft doch auch nicht weiter.«
»Helfen?« Olivia drehte sich zu James um. »Warum sollte ich helfen wollen? Begreifst du, was das alles bedeutet? Wir müssen die Hochzeit abblasen!«
»Verschieben, vielleicht«, wandte Isobel ein. »Bis die Scheidung durch ist.« Sie warf Milly einen mitfühlenden Blick zu.
»Das können wir nicht!«, schrie Olivia verzweifelt. »Es ist alles arrangiert! Es ist alles organisiert!« Sie dachte einen Augenblick nach, dann fuhr sie zu Milly herum. »Weiß Simon davon?«
Milly schüttelte den Kopf. In Olivias Augen erschien ein Glitzern.
»Nun, dann können wir die Hochzeit immer noch durchziehen«, sagte sie rasch. Ihre Blicke schnellten von einem zum anderen. »Wir wimmeln Lytton ab! Wenn keiner von uns ein Wort sagt, wenn wir den Kopf hochhalten …«
»Mummy!«, rief Isobel. »Du sprichst von Bigamie!«
»Na und?«
»Olivia, du bist verrückt«, protestierte James entrüstet. »Die Trauung muss abgesagt werden, ganz klar. Und wenn du mich fragst, dann hat das auch sein Gutes.«
»Wie meinst du das?«, fragte Olivia hysterisch. »Wie meinst du das, das hat auch sein Gutes? Das ist das Schrecklichste, was unserer Familie je zugestoßen ist, und du behauptest, das hat auch sein Gutes?«
»Ehrlich gesagt, halte ich es für gut, wenn bei uns mal wieder der Alltag einkehrt!«, rief James zornig. »Diese ganze Hochzeit ist außer Kontrolle geraten. Es geht doch nur noch um Hochzeit, Hochzeit, Hochzeit! Du redest von nichts anderem mehr!«
»Nun, irgendjemand muss sie ja organisieren!«, kreischte Olivia. »Hast du eine Ahnung, wie viel ich klären muss?«
»Ja, das habe ich!«, brüllte James ungehalten. »Tausende! Jeden Tag hast du tausend verdammte Dinge zu erledigen! Ist dir klar, dass das pro Woche siebentausend Dinge sind? Was ist das, Olivia? Eine Expedition zum Mond?«
»Du willst es einfach nicht verstehen«, meinte Olivia bitter.
»Die ganze Familie ist besessen! Ich finde, Milly, es wäre sehr gut für dich, wenn du eine Weile mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren würdest.«
»Wie meinst du das?«, fragte Milly zittrig.
»Milly, du schwebst doch sonstwo! Du hast dich in diese Ehe gestürzt, ohne darüber nachzudenken, was sie bedeutet, ohne alle anderen Möglichkeiten zu erwägen. Ich weiß, Simon ist ein äußerst attraktiver junger Mann, ich weiß, sein Vater ist sehr reich …«
»Das hat überhaupt nichts damit zu tun!« Millys Gesicht war aschfahl geworden. »Ich liebe Simon! Ich möchte ihn heiraten, weil ich ihn liebe.«
»Du glaubst, du liebst ihn«, wandte James ein. »Aber vielleicht ist das eine gute Chance für dich, noch eine Weile zu warten. Schau, ob du nicht zur Abwechslung mal auf eigenen Füßen stehen kannst. Wie Isobel.«
»Wie Isobel«, echote Milly mit ungläubiger Stimme. »Immer willst du, dass ich wie Isobel bin. Die ja so verdammt perfekt ist!«
»Natürlich möchte ich das nicht«, versetzte James ungeduldig. »So habe ich das nicht gemeint.«
»Du möchtest, dass ich das mache, was Isobel macht.«
»Vielleicht«, räumte James ein. »Manches davon.«
»Daddy …«, begann Isobel.
»Na gut!«, schrie Milly und spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. »Wenn du unbedingt willst. Dann heirate ich eben nicht! Und werde stattdessen schwanger, so wie Isobel!«
Atemlose Stille trat ein.
»Schwanger?«, fragte Olivia fassungslos.
»Vielen Dank, Milly«, sagte Isobel kurz und schritt zur Tür.
»Isobel …«, begann Milly. Doch Isobel war bereits aus dem Zimmer gestürzt und hatte die Tür ohne einen Blick zurück hinter sich zugeschlagen.
»Schwanger«, wiederholte Olivia. Sie tastete nach einem Stuhl und setzte sich.
»Ich wollte das eigentlich gar nicht sagen«, murmelte Milly, entsetzt über sich selbst. »Könnt ihr nicht einfach vergessen, was ich gesagt habe?«
»Du bist verheiratet«, sagte Olivia erschüttert. »Und Isobel ist schwanger.« Sie sah auf. »Stimmt das wirklich?«
»Das ist ihre Sache«, erwiderte Milly und sah zu Boden. »Das geht mich nichts an. Ich hätte den Mund halten sollen.«
Ein Klingeln an der Tür ließ alle aufschrecken.
»Das wird Isobel sein.« James erhob sich. Er öffnete die Tür und machte einen Schritt zurück.
»Ah«, sagte er. »Simon, du bist es.«
Isobel ging den Bürgersteig entlang, ohne stehen zu bleiben, ohne zurückzusehen, ohne zu wissen, wohin. Ihr Herz hämmerte, die Lippen hatte sie fest zusammengepresst. Der Schnee war inzwischen matschig; ein kalter Sprühregen benetzte ihr Haar und tropfte ihren Hals hinunter. Aber mit jedem Schritt fühlte sie sich ein bisschen besser. Jeder Schritt brachte sie der Anonymität näher und fort von den schockierten Gesichtern ihrer Familie.
Noch immer bebte sie vor Zorn. Sie fühlte sich verraten, falsch dargestellt, war unendlich wütend auf Milly … und doch tat ihr ihre Schwester zu leid, als dass sie ihr Vorwürfe gemacht hätte. Noch nie hatte sie eine derart hässliche Familienszene erlebt, mit der schutzlosen Milly in der Mitte. Kein Wunder, dass die sich der erstbesten Ablenkungstaktik bedient hatte, die sich ihr anbot. Das war verständlich. Aber leichter machte es das auch nicht.
Isobel schloss die Augen. Sie kam sich so verletzlich vor, nicht bereit für das alles. Bei ihrer Rückkehr würden ihre Eltern sicher mit ihr sprechen wollen. Sie würden erwarten, dass sie ihnen Rede und Antwort stand, dass sie sie beruhigte und ihnen half, die Neuigkeit zu verdauen. Dabei hatte sie das doch selbst kaum geschafft. Ihre Gedanken dazu konnte sie noch nicht artikulieren, konnte nicht länger zwischen Emotionen und körperlichen Empfindungen unterscheiden. Sprühender Optimismus wechselte mit Weinerlichkeit, und die Übelkeit machte alles nur noch schlimmer. Was ist es für ein Gefühl?, würde Milly zweifelsohne fragen. Was ist es für ein Gefühl, ein Kind in sich zu tragen? Aber Isobel wollte das nicht beantworten. Sie wollte sich nicht als jemanden sehen, der demnächst Mutter wurde.
An einer Straßenecke blieb sie stehen und legte die Hand auf den Bauch. Wenn sie an das Wesen in sich dachte, dann wie an ein kleines Schalentier oder eine Schnecke. Etwas Zusammengerolltes und kaum Menschliches. Etwas Unbestimmtes, dessen Leben noch nicht begonnen hatte. Dessen Leben, wenn sie es so wollte, nicht weiter fortschreiten würde. Eine Woge aus Kummer und Übelkeit überkam sie, und sie fing zu zittern an. Die ganze Familie, dachte sie, sorgt sich darum, ob Millys Hochzeit stattfinden soll oder nicht. Während ich, mutterseelenallein, zu entscheiden versuche, ob ein kleiner Mensch entstehen darf oder nicht.
Der Gedanke lähmte sie. Sie fühlte sich fast überwältigt von der Last, überwältigt von der Entscheidung, die sie würde fällen müssen, und einen Augenblick fühlte sie sich einem Zusammenbruch nahe. Doch stattdessen schob sie die Hände tiefer in die Taschen, biss die Zähne zusammen und marschierte weiter.
Als träten sie bei einer Talkshow auf, saßen Simon und Milly einander zugewandt im Wohnzimmer.
»So«, meinte Simon schließlich. »Worum geht’s jetzt eigentlich?«
Milly starrte ihn schweigend an. Ihre Finger zitterten, als sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich; sie öffnete die Lippen, um zu sprechen, und schloss sie dann wieder.
»Du machst mich nervös«, sagte Simon. »Komm, Schatz. So schlimm kann’s doch nicht sein, oder?«
»Nein.«
»Na also.« Er grinste sie an, und Milly lächelte, plötzlich erleichtert, zurück.
»Es wird dir nicht gefallen.«
»Ich werde tapfer sein«, erwiderte Simon. »Na, komm schon, sag’s mir ins Gesicht.«
»Okay«, sagte Milly. Sie holte tief Luft. »Die Sache ist die, dass wir am Samstag nicht heiraten können. Wir werden die Trauung verschieben müssen.«
»Verschieben?«, sagte Simon bedächtig. »Na, okay. Aber warum?«
»Es gibt da was, das ich dir nicht erzählt habe.« Milly knetete nervös ihre Hände. »Mit achtzehn habe ich etwas sehr Dummes getan. Ich habe jemanden geheiratet. Es war eine Scheinehe, die nichts bedeutet hat. Aber die Scheidung ist nie vollzogen worden. Deshalb bin ich … bin ich immer noch verheiratet.«
Sie warf Simon einen Blick zu. Er wirkte verwirrt, aber nicht zornig, und ihr fiel ein Stein vom Herzen. Nach den hysterischen Anfällen ihrer Mutter war es eine Wohltat, zu sehen, wie ruhig Simon die Nachricht aufnahm. Er flippte nicht aus; er brüllte nicht los. Und warum auch? Schließlich hatte das alles ja nichts mit ihrer Beziehung zu tun, oder? Es war nichts weiter als ein technischer Haken.
»Das bedeutet nur, dass ich auf das rechtskräftige Urteil warten muss, ehe wir heiraten können.« Sie biss sich auf die Lippe. »Simon, es tut mir wirklich leid.«
Langes Schweigen.
»Ich verstehe nicht ganz?«, sagte Simon schließlich. »Ist das ein Witz?«
Sie sah ihn unglücklich an. Seine dunklen Augen musterten sie, langsam trat ein ungläubiger Ausdruck auf sein Gesicht.
»Das ist dein Ernst!«
»Ja.«
»Du bist wirklich verheiratet!«
»Ja. Aber es war keine richtige Ehe«, sagte Milly rasch. Sie starrte zu Boden, bemüht, die Stimme ruhig zu halten. »Er war schwul. Die ganze Sache war ein Schwindel. Damit er das Land nicht verlassen musste. Ehrlich, es hat nichts bedeutet. Weniger als nichts! Das verstehst du doch, oder? Du verstehst es doch?«
Sie sah zu ihm auf. Aber als sie sein Gesicht sah, wurde ihr schlagartig klar, dass er es nicht verstand.
»Es war ein Fehler«, sagte sie und verhaspelte sich in der Eile fast. »Ein großer Fehler. Jetzt sehe ich das ein. Ich hätte mich nie dazu hergeben sollen. Aber ich war jung und sehr dumm, und er war ein Freund. Oder zumindest dachte ich das. Und er brauchte meine Hilfe. Mehr war da nicht dran!«
»Mehr war da nicht dran«, echote Simon in seltsamem Tonfall. »Tja, und was hat dir dieser Typ dafür gezahlt?«
»Nichts!«, erwiderte Milly. »Ich habe ihm damit doch nur einen Gefallen getan!«
»Du hast geheiratet … um jemandem einen Gefallen zu tun?«, fragte er ungläubig. Milly starrte ihn beunruhigt an. Irgendwie lief alles völlig verkehrt.
»Es hat nichts bedeutet«, sagte sie, »und es ist zehn Jahre her! Ich war ein Kind. Ich weiß, ich hätte es dir früher erzählen sollen. Aber ich …« Sie verstummte und sah ihn verzweifelt an. »Simon, sag etwas!«
»Was soll ich denn sagen?«, versetzte Simon. »Herzlichen Glückwunsch?« Milly zuckte zusammen.
»Nein! Bloß … ich weiß nicht. Sag mir, was du denkst.«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll. Ich kann das nicht glauben. Du erzählst mir, du bist mit einem anderen verheiratet! Was soll ich darüber denken?« Sein Blick fiel auf ihre linke Hand, auf den Finger, der seinen Verlobungsring trug, und sie errötete.
»Es hat nichts bedeutet«, sagte sie. »Das musst du mir glauben.«
»Es ist doch gleich, ob es was bedeutet hat! Du bist immer noch verheiratet, oder?« Simon sprang unvermittelt auf und ging zum Fenster. »Herrgott, Milly!« Seine Stimme bebte leicht. »Warum hast du es mir denn nicht gesagt?«
»Ich weiß nicht. Ich wollte …« Sie schluckte. »Ich wollte nicht alles zerstören.«
»Du wolltest nicht alles zerstören«, wiederholte Simon. »Also hast du bis zwei Tage vor unserer Hochzeit gewartet, um mir zu erzählen, dass du verheiratet bist.«
»Ich dachte, es wäre egal! Ich dachte …«
»Du dachtest, wieso soll ich ihm das erzählen! Habe ich recht?«
»Ich habe nicht …«
»Du wolltest es vor mir geheim halten!« Seine Stimme schwoll an. »Vor deinem eigenen Mann!«
»Nein! Ich hatte vor, es dir zu sagen!«
»Wann? In unserer Hochzeitsnacht? Bei der Geburt unseres ersten Kindes? Zu unserer goldenen Hochzeit?«
Milly öffnete den Mund, um zu sprechen, schloss ihn dann aber wieder. Heiße Angst stieg in ihr hoch. Noch nie hatte sie Simon so wütend erlebt. Sie wusste nicht, wie sie ihn besänftigen konnte, wie sie sich weiter verhalten sollte.
»Na, was hältst du denn noch alles vor mir geheim? Irgendwelche Kinder? Geheime Liebhaber?«
»Nein.«
»Und wie soll ich dir das glauben?« Seine Stimme war wie ein Peitschenhieb, und Milly fuhr zusammen. »Wie soll ich dir überhaupt je wieder etwas glauben?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Milly verzagt. »Ich weiß nicht. Du musst mir einfach vertrauen.«
»Dir vertrauen!«
»Ich weiß doch, dass ich es dir hätte sagen sollen«, räumte sie verzweifelt ein. »Das weiß ich! Aber nur, weil ich es nicht getan habe, heißt das noch lange nicht, dass ich noch andere Dinge vor dir verberge. Simon …«
»Es geht nicht nur darum«, widersprach ihr Simon. »Es ist nicht nur das.« Millys Herz begann nervös zu pochen.
»Was denn noch?«
Simon ließ sich auf den Sessel fallen und rieb sich das Gesicht.
»Milly – du hast das Ehegelöbnis schon vor jemand anderem abgegeben. Du hast schon jemand anderem versprochen, ihn zu lieben. Ihn zu ehren. Weißt du, wie das für mich ist?«
»Aber ich habe kein Wort davon tatsächlich so gemeint! Kein einziges!«
»Eben.« Sein Tonfall ließ sie erschauern. »Ich dachte, du würdest dieses Gelöbnis so ernst nehmen wie ich.«
»Das habe ich«, erwiderte Milly entsetzt. »Das tue ich.«
»Wie kannst du? Du hast damit gespielt!«
»Simon, sieh mich nicht so an«, flüsterte Milly. »Ich bin doch kein Unmensch! Ich habe einen Fehler gemacht, okay, aber ich bin immer noch ich. Nichts hat sich verändert!«
»Alles hat sich verändert«, versetzte Simon kategorisch. Es entstand lastende Stille. »Ehrlich gesagt kommt es mir vor, als ob ich dich überhaupt nicht mehr kenne.«
»Tja, und mir kommt es so vor, als ob ich dich nicht mehr kenne!«, entfuhr es Milly voller Schmerz. »Ich kenne dich nicht mehr! Simon, ich weiß, ich habe die Hochzeit kaputtgemacht. Ich weiß, ich hab alles total vermasselt. Aber du musst deshalb nicht so fromm tun. Du brauchst mich deshalb nicht anzuschauen, als sei ich unter aller Kritik. Ich bin doch keine Verbrecherin!« Sie schluckte. »Na ja, vielleicht bin ich es, technisch gesehen. Aber bloß, weil ich einen Fehler gemacht habe. Ich habe einen Fehler gemacht! Und wenn du mich liebst, dann verzeihst du mir!« Sie brach in heftiges Schluchzen aus. »Wenn du mich wirklich liebst, dann verzeihst du mir!«
»Und wenn du mich wirklich lieben würdest«, brüllte Simon, der plötzlich verzweifelt wirkte, »dann hättest du mir erzählt, dass du verheiratet bist! Sag, was du willst, Milly, aber wenn du mich wirklich liebst, dann hättest du es mir erzählt!«
Milly starrte ihn an, sich plötzlich ihrer selbst nicht mehr sicher.
»Nicht unbedingt.«
»Nun, wir müssen unterschiedliche Auffassungen von der Liebe haben. Vielleicht war das Ganze von Anfang an ein großes Missverständnis.« Er erhob sich und griff nach seinem Mantel. Milly starrte ihn an und spürte, wie ungläubiges Entsetzen von ihr Besitz ergriff.
»Willst du damit sagen« – sie kämpfte mit dem Verlangen zu würgen –, »willst du damit sagen, du möchtest mich nicht mehr heiraten?«
»Wenn ich mich recht entsinne«, erwiderte Simon steif, »dann hast du bereits einen Ehemann. Die Frage erübrigt sich also, oder?«
An der Tür blieb er stehen. »Ich hoffe, dass ihr beide sehr glücklich miteinander werdet.«
»Du Mistkerl!«, schrie Milly. Tränen verschleierten ihr den Blick, während sie fieberhaft an ihrem Verlobungsring zerrte. Als sie ihn endlich nach ihm werfen konnte, war die Tür schon wieder zu und Simon fort.