11. Kapitel


Bei ihrer Rückkehr fand Isobel das Haus still vor. Die Diele war in trübes Licht getaucht, das Wohnzimmer leer. Sie öffnete die Küchentür und entdeckte Olivia, die im Halbdunkel am Küchentisch saß. Vor ihr eine Flasche Wein, fast leer, aus der Ecke ertönte leise Musik. Als Olivia sie hereinkommen hörte, sah sie auf, das Gesicht blass und verschwollen.

»Tja«, sagte sie matt. »Es ist alles aus.«

»Wie meinst du das?«, fragte Isobel argwöhnisch.

»Damit meine ich, dass die Verlobung von Milly und Simon gelöst ist.«

»Was?« Isobel blinzelte ihre Mutter entgeistert an. »Meinst du damit, für immer? Aber wieso?«

»Sie hatten irgendeinen Streit miteinander – und dann hat Simon die Verlobung gelöst.« Olivia trank einen Schluck Wein.

»Worum ging’s denn? Um ihre erste Ehe?«

»Das nehme ich an. Sie wollte es nicht sagen.«

»Und wo ist sie jetzt?«

»Sie ist über Nacht zu Esme gegangen. Hat gesagt, sie müsse von hier fort. Von uns allen.«

»Das kann ich ihr nicht verübeln.«

Ohne den Mantel auszuziehen, ließ sie sich auf einen Stuhl plumpsen. »Herrje, die arme Milly. Ich fass es nicht! Was genau hat Simon denn gesagt?«

»Das wollte mir Milly nicht verraten. In letzter Zeit erzählt sie mir überhaupt nichts mehr.« Olivia trank einen großen Schluck Wein. »Offensichtlich werde ich nicht länger für vertrauenswürdig gehalten.«

Isobel verdrehte die Augen.

»Mummy, lass es.«

»Zehn Jahre lang war sie mit diesem – diesem illegalen Einwanderer verheiratet! Zehn Jahre, ohne mir was zu sagen!«

»Sie konnte es dir nicht erzählen. Wie in aller Welt hätte sie es dir erzählen können?«

»Und jetzt, wo sie in der Patsche sitzt, geht sie zu Esme.« Mit blutunterlaufenen Augen sah Olivia Isobel an. »Zu Esme Ormerod!«

»Sie geht immer zu Esme.«

»Ich weiß. Sie rennt zu ihr, und wenn sie zurückkommt, hält sie sich für die Königin von Saba!«

»Mummy …«

»An dich hat sie sich auch gewandt.« Olivias Stimme hob sich. »Ist ihr denn niemals in den Sinn gekommen, zu mir zu kommen? Zu ihrer eigenen Mutter?«

»Das konnte sie nicht!«, rief Isobel. »Sie wusste doch, wie du reagieren würdest. Und das hat sie, ehrlich gesagt, nicht gebraucht. Sie brauchte einen ruhigen, vernünftigen Rat.«

»Und den kann ich ihr nicht geben, oder was?«

»Was die Hochzeit anbelangt, nein. Nein, kannst du nicht!«

»Tja, jetzt wird es keine Hochzeit mehr geben«, sagte Olivia mit stockender Stimme. »Es gibt keine Hochzeit mehr. Daher könnt ihr mir jetzt alle wieder euer Vertrauen schenken. Vielleicht behandelt ihr mich jetzt wieder wie einen Menschen!«

»Oh, Mummy, hör auf, in Selbstmitleid zu baden!«, regte Isobel sich auf. »Das war doch nicht deine Hochzeit. Das war Millys Hochzeit!«

»Das weiß ich!«

»Eben nicht. Du denkst doch gar nicht wirklich an Milly und Simon. Du denkst gar nicht daran, wie sie sich fühlen müssen. Dich kümmert es ja nicht mal, ob sie zusammenbleiben oder nicht. Du denkst bloß an die Hochzeit. Die Blumen, die abbestellt werden müssen, und dein schickes Kostüm, das nun niemand sehen wird, und dass du nun nicht mit Harry Pinnacle tanzen wirst!«

»Wie kannst du es wagen!« Auf Olivias Wangen erschienen zwei rote Flecken.

»Aber es ist doch wahr, oder? Kein Wunder, dass Daddy …«

»Kein Wunder, dass Daddy was?«, kreischte Olivia.

»Nichts.« Isobel war klar, dass sie zu weit gegangen war. »Es ist bloß … ich kann seinen Standpunkt verstehen. Das ist alles.«

Lange Zeit herrschte Schweigen. Isobel blinzelte ein paarmal in dem trüben Küchenlicht. Mit einem Mal fühlte sie sich ausgelaugt, zu müde, um zu streiten, sogar zu müde, um aufzustehen.

»Gut«, sagte sie mühsam. »Tja, ich glaube, ich geh ins Bett.«

»Warte.« Olivia sah auf. »Du hast doch noch gar nichts gegessen.«

»Schon okay. Ich habe keinen Hunger.«

»Darum geht’s nicht. Du musst was essen.«

Isobel zuckte unverbindlich mit den Achseln.

»Du musst was essen«, wiederholte Olivia. Sie begegnete Isobels Blick. »In deinem Zustand.«

»Mummy, nicht jetzt«, sagte Isobel müde.

»Wir müssen nicht darüber sprechen.« Olivia klang verletzt. »Wenn du nicht willst, musst du mir auch nichts erzählen. Du kannst so viel vor mir geheim halten, wie du möchtest.« Isobel wich ihr aus. »Lass mich dir einfach nur ein paar Rühreier machen.«

Es entstand eine Pause.

»Okay«, sagte Isobel schließlich. »Das wäre nett.«

»Und ich schenke dir ein gutes Glas Wein ein.«

»Das geht nicht.«

»Wieso nicht?«

Isobel schwieg und versuchte, die widersprüchlichen Gedanken, die ihr im Kopf herumgingen, auf die Reihe zu bringen. Sie konnte nichts trinken, falls sie das Baby behalten würde. Was war das bloß für eine Logik?

»Ach, dieser Käse!«, meinte Olivia gerade. »Als ich mit dir schwanger war, da hab ich pro Tag drei Gins getrunken. Und es ist doch alles in Ordnung mit dir, oder? Mehr oder weniger.«

Widerstrebend breitete sich ein Lächeln über Isobels Gesicht aus.

»Okay«, sagte sie. »Ich könnte was vertragen.«

»Ich auch. Komm, wir machen noch eine Flasche auf.« Sie schloss die Augen. »So einen schrecklichen Abend habe ich noch nie erlebt.«

»Erzähl mir alles.« Isobel setzte sich an den Tisch. »Ich hoffe, Milly ist okay.«

»Esme wird sich schon um sie kümmern«, sagte Olivia mit einem plötzlichen Anflug von Bitterkeit in der Stimme.

Milly saß in Esmes Wohnzimmer und hielt mit beiden Händen einen Becher mit heißer, cremiger Schokolade und einem Schuss Cointreau. Esme hatte sie dazu überredet, ein langes heißes Bad zu nehmen, parfümiert mit geheimnisvollen Essenzen aus etikettenlosen Flaschen, und hatte ihr dann einen weißen Bademantel aus Waffelstoff und gemütliche Pantoffeln geliehen. Nun bürstete sie Milly mit einer altmodischen Borstenhaarbürste das Haar. Milly starrte in das knisternde Feuer, spürte den Bürstenstrich auf der Kopfhaut, die Hitze des Feuers auf ihrem Gesicht, die Geschmeidigkeit ihrer sauberen Haut unter dem Bademantel. Vor rund einer Stunde war sie bei Esme angekommen, war in Tränen ausgebrochen, sobald diese die Tür aufgemacht hatte, und dann wieder während ihres Bades. Aber nun verspürte sie eine seltsame Ruhe. Sie nippte an ihrer Schokolade und schloss die Augen.

»Fühlst du dich besser?«, erkundigte sich Esme leise.

»Ja. Viel.«

»Gut.«

Es entstand eine Pause. Einer der Whippets erhob sich von seinem Platz am Kamin, kam auf Milly zu und legte seinen Kopf in Millys Schoß.

»Du hattest recht.« Milly streichelte den Kopf des Hundes. »Du hattest recht. Ich kenne Simon gar nicht. Und er kennt mich nicht.« Ihre Stimme bebte leicht. »Das Ganze ist hoffnungslos.«

Esme bürstete schweigend weiter.

»Ich weiß, dass ich mir die Katastrophe selbst zuzuschreiben habe. Schon klar. Schließlich habe ich geheiratet und alles verpfuscht. Aber er hat so getan, als hätte ich alles mit Absicht gemacht. Er hat nicht mal versucht, es von meiner Warte aus zu sehen.«

»Typisch Mann«, bemerkte Esme. »Frauen verbiegen sich sonstwie, um die Ansichten anderer zu verstehen. Männer wenden sich einmal um, dann schauen sie wieder nach vorn und machen weiter wie bisher.«

»Simon hat nicht mal den Kopf umgewandt«, meinte Milly unglücklich. »Nicht mal zugehört hat er!«

»Typisch. Noch so ein Sturschädel.«

»Ich komme mir so dumm vor«, sagte Milly. »So verdammt dumm!« Ein neuer Tränenstrom setzte ein. »Wie konnte ich ihn nur heiraten wollen? Er hat gesagt, ich hätte das Ehegelöbnis befleckt. Und er könne mir keinen Glauben mehr schenken. Er hat mich angesehen, als wäre ich ein Ungeheuer!«

»Ich weiß«, sagte Esme besänftigend.

»Die ganze Zeit, die wir zusammen waren«, Milly wischte sich die Tränen ab, »sind wir uns gar nicht wirklich näher gekommen, nicht? Simon kennt mich überhaupt nicht! Und wie kann man jemanden heiraten, den man gar nicht kennt? Wie? Eigentlich hätten wir uns nicht mal verloben dürfen. Die ganze Zeit war es bloß …« Als ihr ein neuer Gedanke kam, brach sie unvermittelt ab. »Erinnerst du dich daran, als er mir den Heiratsantrag gemacht hat? Er hatte alles nach seinen Vorstellungen geplant. Er führte mich zu dieser Bank im Garten seines Vaters, und er hatte den Diamantring bereits in der Tasche stecken, und er hatte sogar eine Champagnerflasche in einem Baumstumpf versteckt!«

»Schatz …«

»Aber nichts davon hatte mit mir zu tun, stimmt’s? Nur mit ihm. Er hat gar nicht an mich gedacht, selbst damals.«

»Genau wie sein Vater«, bemerkte Esme mit plötzlicher Schärfe in der Stimme. Milly wandte sich verwundert zu ihr um.

»Du kennst Harry?«

»Von früher.« Esme bürstete schneller. »Jetzt nicht mehr.«

»Ich fand Harry eigentlich immer ganz nett«, schluckte Milly. »Aber, was weiß ich schon? In Simon habe ich mich ja auch total getäuscht, oder?« Ihre Schultern bebten vor Schluchzern, und Esme hörte mit dem Bürsten auf.

»Schatz, warum gehst du nicht ins Bett?«, schlug sie vor. Sie fasste Millys blondes Haar zu einem Strang zusammen und ließ ihn dann fallen. »Du bist überreizt, du bist müde, du brauchst eine große Mütze Schlaf. Denk dran, du bist heute früh aufgestanden, du bist nach London gefahren und wieder zurück. Du hast einen ganz schön anstrengenden Tag hinter dir.«

»Ich werde nicht schlafen können.« Wie ein Kind sah Milly mit verweintem Gesicht zu Esme auf.

»Doch, das wirst du«, erwiderte Esme ruhig. »Ich habe ein bisschen was in dein Getränk gemischt. Es sollte bald wirken.«

»Oh!« Milly starrte einen Augenblick in ihren Becher, dann leerte sie ihn. »Verabreichst du all deinen Gästen Drogen?«

»Nur den ganz besonderen«, erwiderte Esme und schenkte Milly ein heiteres Lächeln.

Als Isobel die Rühreier aufgegessen hatte, lehnte sie sich seufzend zurück.

»Das war köstlich. Dank dir.« Es kam keine Antwort. Sie blickte auf. Olivia saß mit geschlossenen Augen über ihr Weinglas gebeugt. »Mummy?«

Olivia öffnete die Augen. »Du bist fertig«, bemerkte sie benommen. »Möchtest du noch etwas mehr?«

»Nein, danke. Hör mal, Mummy, warum gehst du nicht ins Bett? Morgen Vormittag haben wir eine Menge zu erledigen.«

Einen Augenblick starrte Olivia sie ausdruckslos an; dann, als hätte man sie plötzlich wachgerüttelt, nickte sie.

»Ja. Du hast recht.« Sie seufzte. »Weißt du, einen Augenblick lang hatte ich es vergessen.«

»Geh ins Bett«, wiederholte Isobel. »Ich räum hier auf.«

»Aber du …«

»Mir geht’s gut«, erwiderte Isobel fest. »Außerdem möchte ich mir eh noch eine Tasse Tee machen. Ab mit dir!«

»Na dann, gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Isobel beobachtete, wie ihre Mutter den Raum verließ, dann erhob sie sich und füllte den Wasserkessel. Sie lehnte sich an die Spüle und blickte auf die dunkle, stille Straße hinaus, als sie plötzlich jemanden die Haustür aufsperren hörte.

»Milly?«, fragte sie. »Bist du es?«

Einen Augenblick später ging die Küchentür auf, und ein fremder junger Mann in Jeansjacke kam herein. Er trug eine große Tasche und wirkte schäbiger als die meisten Gäste. Isobel musterte ihn einen Augenblick lang neugierig. Dann ging ihr ein Licht auf, und siedende Wut stieg in ihr hoch. Das war er also. Alexander. Die Ursache allen Übels.

»Wie können Sie es wagen, hier noch einmal aufzukreuzen?« Isobel bemühte sich, nicht zu laut zu werden. »Ich verstehe nicht, wie Sie sich das trauen können!«

»Ich bin nun mal ein tapferer Kerl!« Alexander kam auf sie zu. »Man hat mir verschwiegen, dass Sie auch schön sind.«

»Kommen Sie mir nicht zu nahe!«, zischte Isobel.

»Sie sind aber nicht gerade freundlich.«

»Freundlich! Sie erwarten von mir, dass ich freundlich zu Ihnen bin? Nach allem, was Sie meiner Schwester angetan haben?« Alexander sah grinsend auf.

»Sie kennen ihr kleines Geheimnis also?«

»Dank Ihnen kennt es die ganze Welt!«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Alexander unschuldig. »Ist was passiert?«

»Lassen Sie mich nachdenken«, versetzte Isobel sarkastisch. »Ist was passiert? O ja. Die Hochzeit wurde abgesagt. Aber ich schätze, das wissen Sie bereits.«

Alexander sah sie mit großen Augen an.

»Sie scherzen.«

»Nein, verdammt noch mal!«, schrie Isobel. »Die Hochzeit wurde abgeblasen. Herzlichen Glückwunsch, Alexander, Sie haben Ihr Ziel erreicht! Sie haben Millys Leben völlig verpfuscht. Von uns anderen ganz zu schweigen.«

»Herr im Himmel!« Mit zitternder Hand fuhr Alexander sich durchs Haar. »Hören Sie, ich hatte nie vor …«

»Nein?«, entgegnete Isobel zornig. »Nein? Nun, daran hätten Sie denken sollen, bevor Sie die Klappe aufgerissen haben. Ich meine, was haben Sie denn gedacht, was passieren würde?«

»Das nicht! Das nicht, um Himmels willen! Himmel, warum hat sie die Hochzeit abgesagt?«

»Hat sie gar nicht. Simon war’s.«

»Was? Wieso denn?«

»Ich denke, das ist ihre Sache, oder?«, meinte Isobel barsch. »Sagen wir mal so, wenn niemand etwas über ihre erste Ehe ausgeplaudert hätte, dann wäre alles noch in Butter. Wenn Sie bloß den Mund gehalten hätten …« Sie brach ab. »Ach, was soll’s? Sie verfluchter Psychopath!«

»Na, hören Sie mal!«, erregte sich Alexander. »Ich wollte doch nicht, dass die Hochzeit platzt! Ich wollte nur …«

»Was? Was wollten Sie?«

»Nichts!«, sagte Alexander. »Ich hab sie doch nur ein bisschen provozieren wollen.«

»Herrgott, was sind Sie für ein armseliger Kerl! Sie sind nichts weiter als ein mieser kleiner Fiesling!« Sie sah auf seine Tasche. »Dass Sie heute hier übernachten, können Sie sich abschminken.«

»Aber ich habe das Zimmer bestellt!«

»Dann ist die Bestellung hiermit aufgehoben!« Isobel stieß die Tasche mit dem Fuß zur Tür. »Wissen Sie, was Sie meiner Familie angetan haben? Meine Mutter steht unter Schock, meine Schwester ist nur noch ein Häufchen Elend …«

»Hören Sie, es tut mir leid, okay?« Alexander nahm seine Tasche. »Es tut mir leid, dass aus der Hochzeit Ihrer Schwester nun nichts wird. Aber Sie können mir doch dafür nicht die Schuld in die Schuhe schieben!«

»O doch, das können wir!« Isobel machte die Haustür auf. »Und jetzt raus mit Ihnen!«

»Aber ich hab doch gar nichts getan!«, rief Alexander aufgebracht und ging hinaus. »Ich hab doch bloß ein paar Scherze gemacht!«

»Verflucht noch mal, das soll ein Scherz sein, dem Pfarrer alles zu erzählen, ja?«, versetzte Isobel und schlug die Tür zu, noch ehe Alexander zu einer Antwort ansetzen konnte.

Während Olivia die Treppe hinaufstieg, wurde sie von einer dumpfen Traurigkeit erfasst. Der Adrenalinstoß vom frühen Abend hatte sich gelegt. Sie fühlte sich müde, enttäuscht und den Tränen nahe. Alles war aus. Das Ziel, auf das sie die ganze Zeit hingearbeitet hatte, war ihr plötzlich genommen worden, und stattdessen hatte sich ein schwarzes Loch aufgetan.

Keiner sonst würde so richtig verstehen, wie viel von sich sie in Millys Hochzeit eingebracht hatte. Vielleicht war das ihr Fehler gewesen. Vielleicht hätte sie sich zurückhalten sollen, hätte Harrys Leute die Angelegenheit mit sachlicher Effizienz erledigen lassen und lediglich an dem Tag auftauchen sollen, gepflegt und höflich interessiert. Olivia seufzte. Das hätte sie nicht über sich gebracht. Nie und nimmer hätte sie zuschauen können, wie jemand anders die Hochzeit ihrer Tochter ausrichtete. Also hatte sie sich zu voller Größe gereckt, die Sache angepackt und viele Stunden mit Überlegungen bezüglich der Organisation verbracht. Und nun würde sie die Früchte all ihrer Bemühungen nicht ernten können.

Isobels anklagende Stimme hallte in ihren Ohren wider, und sie zuckte zusammen. Irgendwann hatten sich zwischen ihr und der restlichen Familie Missverständnisse eingeschlichen. Irgendwie hatte man ihr verübelt, dass alles bis aufs i-Tüpfelchen stimmen sollte. Vielleicht hatte James recht, vielleicht hatte sie sich zu sehr hineingesteigert. Aber sie hatte einfach nur das Beste gewollt. Für sie alle. Und nun würde das keiner je begreifen. Sie würden die Ergebnisse nicht sehen. Sie würden den freudigen, überschwänglichen Tag nicht erleben, den sie geplant hatte. Nur der ganze Stress und Trubel blieben in Erinnerung.

Sie verharrte an Millys Zimmertür, die einen Spalt offen stand, und ging unvermittelt hinein. Millys Hochzeitskleid hing noch immer in seinem Kleidersack am Schrank. Als sie die Augen schloss, hatte Olivia Millys Gesicht vor sich, bei der ersten Anprobe. Beide wussten sie augenblicklich, dies und kein anderes. Sie hatten stumm in den Spiegel geschaut, und dann, als ihre Blicke sich trafen, hatte Olivia bedächtig gesagt: »Ich denke, das müssen wir haben. Findest du nicht auch?«

Millys Maße waren genommen, und irgendwo in Nottingham war das Kleid speziell für sie nachgeschneidert worden. In den letzten Wochen hatte Milly immer wieder zur Anprobe erscheinen müssen. Und nun würde sie es nie tragen. Olivia konnte nicht anders, sie musste den Reißverschluss der Hülle öffnen, den schweren Satin herausziehen und ihn betrachten. Aus dem Inneren des Kleidersacks glitzerte ihr eine kleine schillernde Perle entgegen. Das Kleid war einfach wunderschön. Olivia seufzte und begann, den Reißverschluss wieder zu schließen, ehe sie der große Katzenjammer überkam.

James, der an der Tür vorbeiging, sah Olivia traurig mit Millys Hochzeitskleid, und ihm lief die Galle über. Ohne innezuhalten marschierte er ins Zimmer.

»Herrgott noch mal, Olivia«, schnauzte er. »Die Hochzeit ist abgesagt! Sie ist abgesagt! Geht dir das nicht in den Kopf?«

Olivia riss bestürzt den Kopf hoch. Mit zitternden Händen stopfte sie das Kleid wieder zurück in die Hülle.

»Doch, natürlich. Ich habe bloß …«

»In Selbstmitleid geschwelgt«, beendete James den Satz sarkastisch. »Hast bloß an deine perfekt organisierte Hochzeit gedacht, die nun nie mehr stattfinden wird.«

Olivia zog den Reißverschluss ganz hoch und wandte sich um.

»James, warum tust du so, als sei das alles meine Schuld?«, fragte sie mit bebender Stimme. »Warum bin ich plötzlich der Sündenbock? Ich habe Milly nicht zu dieser Ehe gedrängt! Ich habe sie nicht zu einer Hochzeitsfeier gezwungen! Sie wollte eine! Ich habe bloß versucht, sie so gut für sie auszurichten, wie ich konnte.«

»Für dich zu organisieren versucht, meinst du!«

»Mag sein«, sagte Olivia. »Zum Teil. Aber was ist daran verkehrt?«

»Oh, ich geb’s auf!« James’ Gesicht war weiß vor Wut. »Ich dringe einfach nicht zu dir durch!« Olivia starrte ihn an.

»Ich versteh dich nicht, James. Ich versteh dich einfach nicht. Hast du dich denn nicht darüber gefreut, dass Milly heiratet?«

»Ich weiß nicht.« Er schritt steifbeinig zum Fenster. »Ehe. Was zum Teufel kann die Ehe einem jungen Mädchen wie Milly denn schon bieten?«

»Glück«, erwiderte Olivia nach einer Pause. »Ein glückliches Leben mit Simon.« James wandte sich um und sah sie merkwürdig an.

»Du glaubst, eine Ehe macht glücklich, ja?«

»Natürlich!«

»Tja, dann bist du ein größerer Optimist als ich.« Er lehnte sich an die Heizung, zog die Schultern hoch und musterte sie mit undurchdringlichem Blick.

»Wie meinst du das?«, fragte Olivia mit bebender Stimme. »James, wovon redest du?«

»Was glaubst du denn, wovon ich rede?«

Bedeutungsvolle Stille.

»Schau uns doch nur an, Olivia«, sagte James schließlich. »Ein altes Ehepaar. Schenken wir einander Glück? Unterstützen wir uns gegenseitig? Wir sind mit den Jahren nicht zusammengewachsen. Wir haben uns auseinandergelebt.«

»Das stimmt nicht!«, protestierte Olivia erschrocken. »Wir waren sehr glücklich miteinander!«

James schüttelte den Kopf.

»Jeder für sich vielleicht. Du hast dein Leben und ich meines. Du hast deine Freunde und ich meine. Aber das ist nicht das, worum es in einer Ehe geht.«

»Wir müssen keine getrennten Leben führen!« Ein Anflug von Panik schlich sich in Olivias Stimme.

»Ach, komm, Olivia!«, rief James. »Gib’s doch zu. Du bist mehr an deinen Gästen interessiert als an mir!«

»Nein, das bin ich nicht!« Olivia errötete.

»Doch. Sie stehen an erster Stelle, ich an zweiter. Zusammen mit der restlichen Familie.«

»Das ist nicht fair!«, schrie Olivia. »Ich betreibe diese Pension für die Familie! Damit wir in Urlaub fahren können. Uns den einen oder anderen Luxus leisten können. Und das weißt du auch!«

»Nun, vielleicht sind andere Dinge wichtiger«, meinte James. Olivia sah ihn unsicher an.

»Willst du damit sagen, du möchtest, dass ich das Bed and Breakfast aufgebe?«

»Nein«, erwiderte James ungeduldig. »Ich sage lediglich …«

»Was?«

Es entstand eine lange Pause. Schließlich seufzte James. »Ich schätze«, sagte er bedächtig, »ich möchte einfach nur, dass du mich brauchst.«

»Aber ich brauche dich«, erwiderte Olivia kleinlaut.

»So?« James lächelte halbherzig. »Olivia, wann hast du dich mir zum letzten Mal anvertraut? Wann hast du mich zum letzten Mal um Rat gefragt?«

»Aber du interessierst dich ja nie für das, was ich zu sagen habe!«, verteidigte sich Olivia. »Wann immer ich dir etwas erzähle, wird’s dir langweilig. Du fängst an, aus dem Fenster zu schauen. Oder du liest Zeitung. Meine Äußerungen tust du als Lappalien ab. Und überhaupt, was ist mit dir? Du vertraust mir ja auch nie etwas an!«

»Ich versuche es!«, sagte James wütend. »Aber du hörst ja nie zu, verdammt! Du quasselst nur in einem fort von der Hochzeit. Die Hochzeit hier, die Hochzeit da. Und davor gab es auch schon immer irgendwas. Quassel, quassel, quassel! Das treibt mich zum Wahnsinn!«

Schweigen.

»Ich weiß, dass ich ein bisschen viel rede«, sagte Olivia schließlich. »Das höre ich von meinen Freundinnen auch immer. Sie sagen ›Jetzt halt mal die Luft an, Olivia, und lass auch mal andere zu Wort kommen‹. Und das tue ich dann auch.« Sie schluckte. »Aber du hast nie etwas gesagt. Dir scheint es so oder so egal zu sein.«

James rieb sich müde das Gesicht. »Vielleicht nicht. Vielleicht bin ich einfach nur schon darüber hinaus. Ich weiß nur …« Er hielt inne. »Dass ich so nicht weitermachen kann.«

Die Worte hallten unheilvoll in dem kleinen Raum wider. Olivia wurde leichenblass, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.

»James«, sagte sie, ehe er fortfahren konnte. »Bitte. Nicht heute Abend.«

James blickte auf und bekam einen Schock, als er Olivia sah. Sie war kreidebleich, ihre Lippen bebten, und ihre Augen spiegelten eine tiefe Furcht wider.

»Olivia …«, begann er.

»Wenn es da etwas gibt, das du mir sagen möchtest …«, Olivia schluckte, »dann sag es mir bitte nicht heute Abend.«

Sie ging unsicher zur Tür und tastete hinter sich nach dem Türgriff. »Ich … ich ertrage heute Abend nichts mehr.«

Rupert saß am Schreibtisch in seiner Kanzlei und starrte aus dem Fenster in die dunkle, stille Nacht hinaus. Vor ihm lag eine Liste mit Telefonnummern, manche davon durchgestrichen oder geändert, andere neu notiert. Er hatte die letzten zwei Stunden am Telefon verbracht und mit Leuten geredet, von denen er gedacht hatte, er würde sie nie mehr sprechen. Mit einem alten Freund Allans aus dem Keble College, der nun am Christ Church lehrte. Mit einem alten Tutorenfreund, der nun in Birmingham arbeitete. Schon halb vergessene Bekanntschaften, Freunde von Freunden, Namen, denen er nicht einmal mehr ein Gesicht zuordnen konnte. Niemand wusste, wo Allan sich aufhielt.

Doch dieser letzte Telefonanruf hatte ihm Hoffnung gemacht. Er hatte mit einem Englischprofessor aus Leeds gesprochen, der Allan von Manchester her kannte.

»Er hat Manchester plötzlich verlassen«, hatte er gesagt.

»So viel habe ich auch herausgefunden«, sagte Rupert, der diese Information schon drei- oder viermal notiert hatte. »Haben Sie eine Ahnung, wohin er von dort aus gezogen ist?« Eine Pause entstand.

»Nach Exeter«, sagte der Professor schließlich. »Ich weiß das, weil er mir ungefähr ein Jahr darauf schrieb und mich bat, ihm ein Buch zu schicken. Es war eine Adresse in Exeter. Vielleicht habe ich sie in meinem Organizer.«

»Könnten Sie …« Rupert hatte kaum zu hoffen gewagt. »Glauben Sie …«

»So, da haben wir sie«, hatte der Professor gesagt. »St. David’s House.«

»Was ist das?« Rupert starrte auf die Adresse. »Ein College?«

»Noch nie davon gehört«, hatte der Professor erwidert. »Vielleicht ist es ein neues Studentenheim.«

Rupert hatte aufgelegt und sofort die Auskunft angerufen. Nun blickte er auf die Telefonnummer vor ihm. Bedächtig hob er den Hörer ab und wählte die Nummer. Vielleicht wohnte Allan noch dort. Vielleicht würde er ja selber abheben. Rupert hatte Herzklopfen, und seine Finger, plötzlich schweißnass, klebten am Hörer. Ihm war fast schlecht vor Aufregung.

»St. David’s House«, meldete sich eine junge männliche Stimme.

»Hallo.« Rupert umklammerte den Telefonhörer fest. »Ich hätte gern Allan Kepinski gesprochen.«

»Einen Augenblick, bitte.«

Lange Zeit herrschte Stille, dann meldete sich eine weitere männliche Stimme.

»Sie wollten mit Allan sprechen?«

»Ja.«

»Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«

»Ich heiße Rupert.«

»Rupert Carr?«

»Ja.« Rupert umklammerte den Hörer noch fester. »Ist Allan da?«

»Allan hat das St. David’s House vor fünf Jahren verlassen«, erklärte der junge Mann. »Er ist in die Staaten zurückgegangen.«

»Oh.« Rupert starrte verdutzt auf das Telefon. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass Allan zurück in den Staaten sein könnte.

»Rupert, sind Sie in London?«, fragte der junge Mann. »Könnten wir uns möglicherweise morgen treffen? Allan hat Ihnen einen Brief hinterlegt.«

»Wirklich? Für mich?« Sein Herz machte einen Sprung. Es war noch nicht zu spät. Allan wollte ihn noch immer. Er würde ihn anrufen, notfalls würde er in die Staaten fliegen. Und dann …

Ein Geräusch an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Tom stand im Türrahmen und beobachtete ihn. Rupert errötete.

»Im Mangetout in der Drury Lane. Um zwölf«, sagte der junge Mann gerade. »Ich werde eine schwarze Jeans tragen. Ach, und übrigens, ich heiße Martin.«

»Okay«, sagte Rupert eilig. »Bye, Martin.«

Er legte auf und blickte verlegen zu Tom.

»Wer ist Martin?«, erkundigte Tom sich freundlich. »Ein Freund von dir?«

»Geh«, bat Rupert. »Lass mich in Ruhe.«

»Ich war bei Francesca. Sie ist völlig aufgelöst. Wie du dir vorstellen kannst.« Tom setzte sich ungeniert auf Ruperts Schreibtisch und ergriff einen Briefbeschwerer aus Messing. »Dein kleiner Ausbruch hat sie ziemlich aus der Fassung gebracht.«

»Im Gegensatz zu dir«, versetzte Rupert aggressiv.

»Stimmt«, sagte Tom, »mir ist diese Art der Verwirrung schon früher untergekommen.« Er lächelte Rupert an. »Du bist nicht allein. Ich bin bei dir. Francesca ist bereit, dir beizustehen. Wir alle werden dir helfen.«

»Helfen, wobei? Zu bereuen? Öffentlich zu beichten?«

»Ich verstehe deinen Zorn«, sagte Tom. »Es ist eine Form der Scham.«

»Von wegen! Ich schäme mich nicht!«

»Was immer du in der Vergangenheit getan hast, du kannst reingewaschen werden.«

Rupert starrte Tom an. Sein Haus kam ihm in den Sinn, sein Leben mit Francesca, sein bequemes, glückliches Dasein. Alles, was er zurückhaben konnte, wenn er in einem Punkt log.

»Ich kann nicht«, sagte er. »Ich kann einfach nicht. Ich bin nicht der, für den ihr mich alle haltet. Ich war in einen Mann verliebt. Weder war ich fehlgeleitet, noch wurde ich verleitet. Ich war verliebt.«

»Platonische Liebe …«

»Keine platonische Liebe!«, rief Rupert. »Sexuelle Liebe! Kannst du das nicht verstehen, Tom? Ich habe einen Mann sexuell geliebt.«

»Du hast den Akt mit ihm vollzogen.«

»Ja.«

»Akte, die, wie du weißt, dem Herrn zuwider sind.«

»Wir haben niemandem geschadet!«, schrie Rupert verzweifelt. »Wir haben nichts Unrechtes getan!«

»Rupert!«, rief Tom aus und erhob sich. »Was redest du da? Natürlich hast du dir geschadet. Du hast dir selbst den größten Schaden zugefügt. Du hast die vielleicht abscheulichste Sünde begangen, die der Menschheit bekannt ist! Du kannst dich reinwaschen – aber nur, wenn du bereust. Nur wenn du zugibst, welche Sünde du begangen hast.«

»Das war keine Sünde«, protestierte Rupert mit bebender Stimme. »Das war schön.«

»In den Augen des Herrn«, sagte Tom kalt, »war es widerlich. Widerlich!«

»Es war Liebe!«, schrie Rupert. Er stand auf, sodass er sich mit Tom in derselben Augenhöhe befand. »Kannst du das nicht verstehen?«

»Nein«, schnauzte Tom. »Ich fürchte, das kann ich nicht.«

»Du kannst nicht verstehen, dass zwei Männer sich möglicherweise lieben können?«

»Nein.«

Langsam beugte Rupert sich vor. Einige seiner Haarsträhnen berührten Toms Stirn.

»Stößt dich der Gedanke wirklich ab?«, flüsterte er. »Oder hast du nur Angst davor?«

Wie von der Tarantel gestochen, machte Tom einen Satz zurück.

»Komm mir nicht zu nahe!«, brüllte er, das Gesicht vor Abscheu verzogen.

»Keine Bange. Ich gehe.«

»Wohin?«

»Interessiert dich das, Tom? Interessiert dich das wirklich?«

Stille. Zitternd nahm Rupert seine Unterlagen und stopfte sie in seine Aktentasche. Tom beobachtete ihn, ohne sich zu rühren.

»Du weißt, dass du verdammt bist«, sagte er, während Rupert sich seinen Mantel nahm. »Die Verdammnis ist dir sicher.«

»Ich weiß.« Und ohne sich noch einmal umzusehen, öffnete Rupert die Tür und ging hinaus.

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