5. Kapitel


Als Milly das Bürogebäude betrat, in dem Simon arbeitete, ertönte von der Rezeption ein Aufschrei.

»Sie ist hier!«, rief Pearl, eine der Empfangsdamen mittleren Alters. »Milly ist hier!« Als Milly zu ihr kam, strahlte sie. »Wie geht’s Ihnen, meine Liebe? Schon Herzflattern wegen Samstag?«

»Da gibt’s nichts, weswegen man Herzflattern zu haben braucht«, rief eine andere der Damen aus, eine Frau in einer lichtblauen Strickjacke mit passendem Lidschatten. »Seh’n Sie bloß zu, dass Sie den Tag genießen, Schätzchen. Er ist im Nu vorbei!«

»Es wird alles wie in einem Nebel vorübergehen.« Pearl nickte ernst. »Wissen Sie, halten Sie immer mal wieder inne, sehen Sie sich um, und sagen Sie sich: Das ist mein Hochzeitstag. Sagen Sie sich das einfach. Das ist mein Hochzeitstag. Und dann amüsieren Sie sich!« Sie lächelte Milly zu. »Ich gebe Simon rasch Bescheid, und dann bringe ich Sie hoch.«

»Schon in Ordnung«, meinte Milly. »Ich kenne den Weg.«

»Ist doch kein Problem!«, rief Pearl. Sie tippte etwas auf ihre Tastatur. »Margaret, du versuchst es weiter bei Simon, ja? Und sag ihm, dass ich mit Milly bereits unterwegs bin.«

Unter Gratulationsrufen gingen die beiden durch den Empfangsraum zu den Aufzügen.

»Am Samstag kommen wir zuschauen«, sagte Pearl, als die Lifttüren sich hinter ihnen schlossen. »Vor der Kirche. Das ist Ihnen doch recht?«

»Natürlich«, erwiderte Milly verwirrt. »Sie meinen, Sie wollen einfach nur dastehen und zusehen?«

»Beryl bringt Campingstühle«, erklärte Pearl triumphierend. »Und wir nehmen eine Thermoskanne Kaffee mit. Wir wollen sehen, wie alle ankommen. Die ganzen VIPs. Das wird ja genau wie eine Hochzeit bei den Royals!«

»Na ja«, meinte Milly verlegen. »Ich weiß ja nicht …«

»Oder diese bezaubernde Hochzeit im Fernsehen«, sagte Pearl. »In Eastenders neulich. Haben Sie die gesehen?«

»O ja!«, meinte Milly begeistert. »War das nicht romantisch?«

»Diese zwei kleinen Brautjungfern«, seufzte Pearl. »Waren die nicht bildhübsch?«

»Hinreißend!«, stimmte ihr Milly zu. »Nicht«, fügte sie rasch hinzu, als der Lift sich Simons Tür näherte, »dass ich wirklich wüsste, wer diese Charaktere waren. Normalerweise gucke ich Eastenders nämlich nicht. Ich sehe mir lieber … Dokumentarfilme an.«

»Ach wirklich? Also, ich könnte ohne meine Soaps nicht leben«, meinte Pearl. »Ihr Simon zieht mich immer damit auf. Fragt mich über alle Plots aus.« Sie lächelte Milly an. »Er ist ein bezaubernder Mann, wirklich. Steht mit beiden Füßen fest auf der Erde. Man würde gar nicht glauben, dass er ist, wer er ist. Wenn Sie wissen, was ich meine.« Der Aufzug klingelte. »Da wären wir.« Sie spähte den teppichbelegten Flur hinunter. »Na, wo steckt er denn?«

»Hier bin ich!« Simon bog um die Ecke. Er hielt Pearl eine Flasche Wein und ein paar Plastikbecher entgegen. »Bringen Sie die für alle am Empfang hinunter.«

»Das ist sehr freundlich!«, dankte Pearl. »Und vergessen Sie nicht, runterzukommen und uns Ihr Geschenk zu zeigen.« Sie ergriff Millys Hand und drückte sie fest. »Viel Glück, meine Liebe«, sagte sie. »Sie verdienen nichts anderes.«

»Danke.« Milly war den Tränen nahe. »Sie sind sehr freundlich.«

Die Aufzugtüren schlossen sich, und Simon grinste Milly an. »Komm. Es warten schon alle auf dich.«

»Sag das nicht!«, sagte Milly. »Du machst mich nervös.«

»Nervös?« Simon lachte. »Dazu besteht überhaupt kein Grund!«

»Ich weiß«, sagte Milly. »Ich bin augenblicklich nur ein bisschen … mit den Nerven runter.«

»Das große Zittern vor der Hochzeit«, scherzte Simon.

»Ja.« Sie lächelte ihn an. »Das muss es sein.«

Simons Abteilung hatte sich in dem Büro versammelt, das er sich mit vier weiteren Werbeleuten teilte. Bei ihrem Eintreffen wurden Flaschen mit Sekt und Plastikbecher herumgereicht, und eine Frau in rotem Blazer sammelte auf einer übergroßen Glückwunschkarte letzte Unterschriften ein.

»Was soll ich bloß schreiben?«, jammerte ein Mädchen gerade, als Milly an ihm vorbeiging. »Alle anderen waren wirklich witzig.«

»Unterschreib einfach nur«, schnauzte die Frau in dem roten Blazer. »Und beeil dich!«

Milly hielt ihren Plastikbecher fest umklammert und setzte ein Lächeln auf. Unter den Blicken so vieler Menschen, so vieler Fremder fühlte sie sich verletzlich. Sie nippte an dem Sekt und nahm von den Kartoffelchips, die ihr eine von Simons fröhlichen Kolleginnen anbot.

»Aha!« Eine tiefe Stimme unterbrach das allgemeine Geplauder, und sie sah auf. Ein schnurrbärtiger Mann im braunen Anzug und mit fliehendem Haaransatz kam auf sie zu. »Sie müssen Simons Verlobte sein.« Er ergriff ihre Hand. »Mark Taylor, Leiter Veröffentlichungen. Freut mich sehr, Sie kennen zu lernen.«

»Guten Tag«, sagte Milly höflich.

»Na, wo steckt er denn jetzt wieder? Wir müssen die Geschenkübergabe hinter uns bringen. Simon! Hierher!«

»Ah, ihr habt euch schon kennen gelernt?«, sagte Simon, als er zu ihnen stieß. »Tut mir leid, ich hätte euch anständig miteinander bekannt machen müssen.«

Mark Taylor klatschte in die Hände.

»Okay, alle miteinander. Ruhe, bitte, Ruhe! Im Namen aller von uns hier bei Pendulum möchte ich Simon und Mandy alles Gute für die gemeinsame Zukunft wünschen!« Er erhob sein Glas.

»Milly!«, riefen alle.

»Was?« Mark Taylor machte ein verwirrtes Gesicht.

»Sie heißt Milly, nicht Mandy!«

»Das macht doch nichts!« Milly wurde rot.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte Mark Taylor.

»Nichts«, meinte Milly. »Fahren Sie fort.«

»Auf Mandy und Simon! Mögen sie ein langes, glückliches und wohlhabendes Leben miteinander führen!« In einer Ecke des Raumes klingelte ein Telefon. »Geht da bitte jemand ran, ja?«

»Wo ist das Geschenk?«, rief jemand.

»Ja«, sagte Mark Taylor. »Wo ist das Geschenk?«

»Es wird geliefert«, erklärte eine Frau zu Millys Linker. »Es stand auf der Liste. Eine Gemüseterrine. Ich habe ein Foto davon.«

»Sehr hübsch«, meinte Mark Taylor. Er hob seine Stimme. »Das Geschenk ist eine Gemüseterrine von der Liste! Wenn jemand daran interessiert ist, Sally hat ein Foto davon!«

»Aber wir hatten doch eigentlich eine Karte«, sagte Sally. »Wo ist die Karte?«

»Hier ist sie!«, sagte die Frau in dem roten Blazer.

Eine kurze Stille trat ein, als Simon den riesigen Umschlag aufriss und eine große Karte mit zwei Teddybären darauf öffnete. Er überflog die Unterschriften und lachte immer mal wieder; sah auf und nickte den Leuten zu, deren Botschaften er gerade gelesen hatte. Milly blickte ihm über die Schulter. Bei den meisten der Witze ging es um irgendwelche verwirrenden Fachbegriffe, von denen sie keine Ahnung hatte.

»Großartig«, sagte Simon schließlich. »Ich bin wirklich gerührt.«

»Rede!«, brüllte jemand.

»Ich werde keine Rede halten«, erwiderte Simon.

»Dem Herrn sei Dank!«, warf jemand anders ein.

Simon trank einen Schluck.

»Aber ich wollte denjenigen sagen«, meinte er, »die denken, das Wichtigste in meinem Leben sei es, Erics verrückte monatliche Umsatzziele zu überbieten« – einige lachten – »oder Andy beim Dartspiel fertigzumachen …«

Lauteres Gelächter, und Simon lächelte.

»Für all die«, sagte er, »habe ich eine Neuigkeit: Ihr liegt falsch.« Er machte eine Pause. »Das Wichtigste in meinem Leben steht neben mir.« Er nahm Millys Hand, und einige der Mädchen seufzten leise auf. »Für diejenigen unter euch, die sie nicht kennen«, sagte er, »diese Frau ist die schönste, liebste, offenste und großherzigste Frau auf der Welt – und ich fühle mich wahrhaft geehrt, dass sie am Samstag meine Frau werden wird. Was bin ich doch für ein Glückspilz!«

Kurze Zeit herrschte Schweigen, dann sagte jemand in gedämpftem Ton: »Auf Milly und Simon!«

»Auf Milly und Simon!«, sprachen die anderen gehorsam im Chor. Milly sah in Simons glückliches Gesicht und spürte unvermittelt Trauer über sich kommen.

»Wir sehen uns dann alle im Pub!«, setzte Simon hinzu. Die Menge begann, sich zu zerstreuen, und er lächelte Milly zu.

»Habe ich dich in Verlegenheit gebracht?«

»Nur ein bisschen.« Milly versuchte, sein Lächeln zu erwidern. Doch Schuldgefühle ergriffen von ihr Besitz, und ihr war, als würde eine starke, knochige Hand ihr Herz umschließen.

»Ich musste einfach allen sagen, wie ich mich fühle«, gestand Simon. Er streichelte ihr zärtlich das Haar. »Manchmal kann ich gar nicht glauben, wie sehr ich dich liebe.« Unvermittelt sprangen Tränen in Millys Augen.

»Bitte nicht«, sagte sie. »Nicht.«

»Sieh dich an!« Simon fuhr mit dem Daumen ihren Tränen nach. »Oh, Schatz. Brauchst du ein Taschentuch?«

»Danke«, presste Milly hervor. Sie wischte sich die Tränen ab und holte ein paarmal tief Luft.

»Simon!« Eine fröhliche Stimme unterbrach sie. »Deine Runde, glaube ich!«

»Okay!«, grinste Simon. »Einen Augenblick noch.«

»Simon«, meinte Milly rasch. »Würde es dir was ausmachen, wenn ich nicht in den Pub mitkäme?«

»Oh.« Simon machte ein langes Gesicht.

»Ich bin einfach ein bisschen müde. Ich fühle mich …« – Milly machte eine ausholende Geste – »all dem hier nicht gewachsen.«

»Simon!«, brüllte jemand. »Kommst du, oder was ist?«

»Einen Moment noch!«, rief Simon. Er strich zart über Millys Gesicht. »Wär’s dir lieber, wir würden anderswo hingehen, nur wir beide?«

Milly sah ihn an und hatte unvermittelt eine Vision von ihnen beiden in einem abgelegenen Restaurant. Sie würden in einem ruhigen Eckchen sitzen, Risotto essen und einen milden Rotwein trinken. Und dann würde sie ihm in aller Ruhe die Wahrheit sagen.

»Nein«, sagte sie. »Du gehst jetzt und amüsierst dich. Und ich geh mal früh ins Bett.«

»Sicher?«

»Ja.« Sie zog ihn zu sich herunter und küsste ihn. »Ab mit dir. Wir sprechen uns morgen.«

Sie kam nach Hause und wollte gleich ins Bett gehen. Als sie ihren Mantel auszog, hörte sie Stimmen in der Küche und fuhr zusammen bei der Vorstellung, dass Tante Jean vorzeitig eingetroffen sein könnte. Aber als sie die Küchentür aufmachte, war es Isobel, die dort in ihrem rosa Brautjungfernkleid und einem Kranz aus Trockenblumen auf einem Küchenstuhl stand.

»Isobel!« Vor Erleichterung fühlte sie sich den Tränen nahe. »Wann bist du zurückgekommen?« Isobel sah auf und grinste.

»Heute Nachmittag. Ich komme heim, und was entdecke ich? Meine Rohre werden ausgetauscht!«

»Rohre?«

»Meine Wasserrohre«, sagte Isobel. »Was hast du gedacht, was ich meine? Blasrohre?«

»Bis zur Hochzeit wohnt Isobel bei uns«, erklärte Olivia, den Mund voller Haarnadeln. »Obwohl’s natürlich ein bisschen eng wird, wenn Tante Jean und die Cousinen eintreffen …«

»Dann schaff dir Alexander vom Hals«, schlug Milly vor. Sie setzte sich an den Tisch und fummelte an einer herausstehenden Rosenknospe herum. »Und schon hätten wir Platz.«

»Sei nicht dumm, Schatz«, erwiderte Olivia. »Er muss hier bleiben.« Sie schob eine weitere Nadel in Isobels Haar und zog den Kranz zurecht. »Na bitte. So ist es besser.«

»Wenn du meinst«, sagte Isobel. Sie grinste Milly an. »Was sagst du dazu?«

Milly sah auf und bemerkte zum ersten Mal, was Isobel trug.

»Was ist mit deinem Kleid passiert?« Sie versuchte, nicht entsetzt zu klingen.

»Ich habe ein paar Seidenrosen hinzugefügt«, erklärte Olivia. »Sind sie nicht hübsch?« Millys und Isobels Blicke trafen sich.

»Schön«, sagte Milly. Isobel grinste.

»Sei ehrlich. Seh’ ich nicht idiotisch aus?«

»Nein«, erwiderte Milly und runzelte die Stirn. »Du siehst … müde aus.«

»Hab ich’s doch gesagt!«, triumphierte Olivia. »Sie sieht mitgenommen und verhärmt aus.«

»Ich sehe nicht mitgenommen und verhärmt aus«, versetzte Isobel ungeduldig. Milly starrte ihre Schwester an. Ihre Haut war fast grau; das blonde, glatte Haar strähnig. Die Blumen in ihrem Haar unterstrichen die fehlende Frische der Wangen.

»Am Samstag wirst du gut aussehen«, meinte sie unsicher. »Wenn du erst mal geschminkt bist.«

»Gewicht hat sie auch verloren«, bemerkte Olivia missbilligend. »Man müsste das Kleid eigentlich fast enger nähen.«

»So viel habe ich auch wieder nicht abgenommen«, verteidigte sich Isobel. »Außerdem ist es doch ohnehin egal, wie ich aussehe. Es ist Millys Tag, nicht meiner.« Sie blickte zu Milly. »Wie geht’s dir so?«

»Mir geht es gut.« Sie begegnete Isobels Blick. »Weißt schon.«

»Jepp«, sagte Isobel. Sie begann, aus dem rosa Kleid zu schlüpfen. »Tja, eigentlich könnte ich jetzt mal auspacken.«

»Ich helfe dir«, sagte Milly sofort.

»So ist’s recht«, lobte Olivia. »Braves Mädchen.«

Isobels Zimmer lag neben Millys unter dem Dach. Nun, da sie nicht mehr zu Hause wohnte, wurde es gelegentlich von Gästen benutzt, doch meistens blieb es leer und wartete sauber und aufgeräumt auf ihre Rückkehr.

»Himmel!«, rief sie aus, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. »Was ist denn das alles?«

»Hochzeitsgeschenke«, erklärte Milly. »Ein Teil davon.«

Beide sahen sie sich schweigend im Raum um. Der Boden war bis auf den letzten Fleck mit Schachteltürmen bedeckt. Ein paar davon waren geöffnet worden – aus ihnen quollen Holzwolle und luftgepolsterte Folie –, man sah Porzellan schimmern.

»Was ist das?«, fragte Isobel und stieß eine davon an.

»Keine Ahnung«, meinte Milly. »Ich glaube, das ist eine Suppenterrine.«

»Aha, eine Suppenterrine«, echote Isobel ungläubig. »Hast du vor, Suppe zu kochen, wenn du verheiratet bist?«

»Das nehm ich doch an.«

»Jetzt, wo du eine spezielle Terrine dafür hast, bleibt dir auch gar nichts anderes übrig.« Isobel fing Millys Blick auf und begann unwillkürlich zu kichern. »Du musst jeden Abend zu Hause sitzen und Suppe aus deiner Suppenterrine schöpfen.«

»Sei still!«, bat Milly.

»Und aus deinen acht Sherrygläsern Sherry trinken«, fuhr Isobel fort, die das Schild auf einem anderen Päckchen las. »Das Eheleben wird eine einzige Völlerei sein!«

»Hör auf!« Milly schüttelte sich vor Gekicher; ihre Augen glänzten.

»Elektrischer Brotbackofen. Also dagegen hätte ich auch nichts einzuwenden.« Isobel sah auf. »Milly, ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, klar«, erwiderte Milly. »Klar!« Aber ihr Gekicher ging unversehens in Schluchzen über, plötzlich kullerten Tränen über ihre Wangen.

»Milly! Ich hab doch gewusst, dass was nicht stimmt!« Isobel kam und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Was ist los? Worüber wolltest du mit mir sprechen, als ich in Paris war?«

»O Gott, Isobel!« Weitere Tränen. »Ich hab totalen Mist gebaut!«

»Was?«

»Ich stecke total in der Klemme!«

»Wie meinst du das?« Isobels Stimme hob sich bestürzt. »Milly, sag’s mir! Was ist passiert?«

Milly sah sie eine lange Zeit an.

»Komm mit«, sagte sie schließlich. Sie ging zurück in ihr eigenes Zimmer, wartete, bis Isobel ihr nach drinnen gefolgt war, und schloss die Tür. Während Isobel sie schweigend beobachtete, langte sie in das Innere des Kamins und zog einen alten Turnbeutel von der Schule heraus, der fest zusammengezogen war.

»Was …«

»Warte«, sagte Milly und griff hinein. Sie förderte eine kleinere Tasche zutage – und holte daraus eine Schachtel hervor, die fest mit einer Kordel verschnürt war. Sie zog an der Schnur und riss den Deckel gleich mit hinunter. Einige Augenblicke starrte sie auf die offene Schachtel. Dann hielt sie sie Isobel hin.

»Okay«, meinte sie. »Das ist passiert.«

»Herrje!«, rief Isobel nach einem Blick in die Schachtel. Dort strahlte ihr auf einem Foto durch eine Konfettiwolke hindurch eine Milly im Hochzeitskleid entgegen. Isobel nahm das Foto heraus und betrachtete es näher. Mit einem Blick zu Milly legte sie es beiseite und nahm das nächste Foto. Darauf sah man zwei Männer, Seite an Seite, einer dunkelhaarig, der andere blond. Darunter befand sich ein Bild, auf dem der Dunkelhaarige Milly die Hand küsste. Milly lächelte albern in die Kamera. Den Schleier hatte sie hinter die Schulter geworfen. Sie sah maßlos glücklich aus.

Schweigend sah Isobel sich den Rest der Fotos an. Darunter befanden sich ein paar verblichene Konfettischnipsel und eine kleine geblümte Karte.

»Darf ich?«, fragte Isobel und griff nach der Karte.

»Nur zu.«

Wortlos öffnete Isobel die Karte und las den Eintrag: »Der besten Braut der Welt. Für immer dein, Allan.« Sie sah auf.

»Wer zum Teufel ist Allan?«

»Tja, was meinst du wohl, Isobel?«, erwiderte Milly mit rauer Stimme. »Allan ist mein Mann.«

Als Milly am Ende ihrer gestammelt hervorgebrachten Geschichte angelangt war, atmete Isobel scharf aus. Sie stand auf, ging zum Kamin und blieb dort eine Weile stumm stehen. Milly, die in einem Sessel saß und sich ein Kissen an die Brust presste, beobachtete sie bang.

»Mir geht das Ganze einfach nicht in den Kopf«, meinte Isobel schließlich.

»Ich weiß«, sagte Milly.

»Du hast diesen Typen wirklich geheiratet, damit er hier bleiben kann?«

»Ja.« Milly warf einen Blick auf die Hochzeitsfotos, die noch ausgebreitet auf dem Boden lagen, sah sich selbst, jung, lebenssprühend und glücklich. Während sie die Geschichte erzählt hatte, hatten ihr die Romantik und das Abenteuer ihres damaligen Tuns wieder vor Augen gestanden, und seit Jahren sehnte sie sich das erste Mal nach jenen unbesonnenen, magischen Tagen in Oxford zurück.

»Diese Schweine!« Isobel schüttelte den Kopf. »Die haben auf so eine dumme Gans wie dich doch nur gewartet!« Milly starrte ihre Schwester an.

»So war’s nicht«, sagte sie. Isobel blickte auf.

»Wie meinst du das, so war’s nicht? Milly, die haben dich benutzt!«

»Haben sie nicht!«, verteidigte sich Milly. »Ich habe ihnen geholfen, weil ich es wollte. Sie waren meine Freunde.«

»Freunde!«, echote Isobel verächtlich. »Dafür hältst du sie? Tja, wenn sie so großartige Freunde waren, wieso habt ihr euch dann nie mehr getroffen? Oder zumindest nicht weiter voneinander gehört?«

»Wir haben uns aus den Augen verloren.«

»Wann habt ihr euch aus den Augen verloren? Sobald du auf der gepunkteten Linie unterschrieben hattest?«

Milly schwieg.

»O Milly.« Isobel seufzte. »Haben sie dir was dafür gezahlt?«

»Nein. Sie haben mir eine Kette geschenkt.« Milly griff nach den kleinen Perlen.

»Na, das ist ja eine tolle Entschädigung«, bemerkte Isobel sarkastisch. »Wenn man bedenkt, dass du für sie das Gesetz gebrochen hast. Wenn man bedenkt, dass man dich strafrechtlich hätte verfolgen können. Die Einwanderungsbehörde untersucht Scheinehen, weißt du! Oder etwa nicht?«

»Jetzt hör auf damit, Isobel«, bat Milly mit bebender Stimme. »Es ist nun mal passiert, okay? Und daran gibt es nichts zu rütteln.«

»Okay«, meinte Isobel. »Du, es tut mir leid. Das muss schrecklich für dich sein.« Sie nahm eines der Fotos und sah es sich eine Weile an. »Ich muss sagen, es überrascht mich, dass du das Risiko eingegangen bist, die hier zu behalten.«

»Weiß schon«, sagte Milly. »Es war dumm. Aber ich hab’s einfach nicht über mich gebracht, sie wegzuwerfen. Sie sind alles, was mir von der ganzen Sache geblieben ist.« Isobel seufzte und legte das Foto beiseite.

»Und du hast Simon nie davon erzählt?«

Mit fest zusammengepressten Lippen schüttelte Milly den Kopf.

»Tja, das musst du aber«, sagte Isobel. »Das ist dir doch wohl klar, oder?«

»Das geht nicht.« Milly schloss die Augen. »Ich kann es ihm nicht erzählen. Ich kann es einfach nicht.«

»Das wirst du aber müssen!«, ermahnte sie Isobel. »Ehe dieser Alexander beschließt, ihm alles zu stecken.«

»Vielleicht hält er ja den Mund«, meinte Milly kleinlaut.

»Vielleicht aber auch nicht!«, entgegnete Isobel. »Und dieses Risiko ist es nicht wert.« Isobel seufzte. »Hör mal, sag’s ihm einfach. Es wird ihm nichts ausmachen! Wer ist heutzutage nicht alles schon geschieden!«

»Mag ja sein«, sagte Milly.

»Deshalb braucht man sich nicht zu schämen! Dann bist du eben geschieden!« Sie zuckte die Achseln. »Es könnte schlimmer sein.«

»Aber ich bin’s nicht«, sagte Milly mit gepresster Stimme.

»Was?« Isobel sah sie mit großen Augen an.

»Ich bin nicht geschieden«, sagte Milly. »Ich bin immer noch verheiratet!«

Stille.

»Du bist immer noch verheiratet?«, flüsterte Isobel. »Du bist immer noch verheiratet? Aber Milly, am Samstag ist deine Hochzeit!«

»Ich weiß!«, weinte Milly. »Ja, meinst du etwa, das weiß ich nicht?« Und während Isobel sie entsetzt anstarrte, vergrub sie ihren Kopf in dem Kissen und brach in herzzerreißendes Schluchzen aus.

Der Brandy war in der Küche. Isobel hoffte, dort niemanden anzutreffen, aber als sie die Tür öffnete, hob Olivia ihren Kopf vom Telefon.

»Isobel!«, sagte sie mit Bühnenflüstern. »Es ist etwas Schreckliches passiert!«

»Was denn?«, fragte Isobel, und ihr Herz schlug schneller.

»Wir haben nicht genügend Gottesdienstprogramme. Die Leute werden sich welche teilen müssen!«

»Oh!« Unvermittelt verspürte Isobel ein schreckliches Verlangen loszugackern. »Na, was soll’s!«

»Was soll’s?«, zischte Olivia. »Das ganze Ereignis wird schäbig wirken!« Als sie beobachtete, wie Isobel einen Brandy einschenkte, verengten sich ihre Augen. »Warum trinkst du Brandy?«

»Der ist für Milly«, erklärte Isobel. »Sie ist ein bisschen hippelig.«

»Ist denn alles in Ordnung?«

»Ja.« Isobel trat den Rückzug an. »Alles bestens.«

Sie begab sich zurück in Millys Zimmer, schloss die Tür hinter sich und klopfte Milly auf die Schulter.

»Trink das«, sagte sie. »Und beruhige dich. Alles wird gut.«

»Wie kann alles gut werden?«, schluchzte Milly. »Es wird alles ans Licht kommen! Alles wird ruiniert sein.«

»Ach, komm.« Isobel legte einen Arm um Millys Schulter. »Komm. Wir bringen das in Ordnung. Keine Bange.«

»Ich wüsste nicht, wie.« Milly sah mit verweintem Gesicht auf. Sie nippte an dem Brandy. »Gott, ich brauche eine Zigarette. Möchtest du auch eine?«

»Nein, danke.«

»Jetzt sei nicht so«, sagte Milly und schob mit zitternden Händen das Schiebefenster auf. »Von der einen Zigarette kriegst du schon keinen Lungenkrebs.«

»Nein«, erwiderte Isobel nach einer Pause. »Nein, ich schätze, eine Zigarette schadet nicht.« Sie setzte sich auf das Fensterbrett. Milly reichte ihr eine Zigarette, und beide inhalierten tief. Als der Rauch in ihre Lungen strömte, spürte Milly, wie ihr ganzer Körper sich langsam entspannte.

»Das hab ich gebraucht«, seufzte sie. Sie blies eine Wolke aus und wedelte den Rauch aus dem Fenster. »O Gott. Was für ein Schlamassel!«

»Was mir nicht eingeht«, bemerkte Isobel vorsichtig, »ist, warum du dich nicht hast scheiden lassen.«

»Wir hatten es ja immer vor«, sagte Milly und biss sich auf die Lippen. »Allan wollte das alles klären. Ich habe von seinem Anwalt sogar ein paar Unterlagen bekommen. Aber dann verlief alles im Sande, und ich habe nichts mehr von ihm gehört. Ich war nie vor Gericht, nichts.«

»Und du hast nie mal Dampf gemacht?«

Milly schwieg.

»Nicht mal, als Simon dir einen Heiratsantrag gemacht hat?« Isobels Stimme wurde schärfer. »Nicht mal, als ihr angefangen habt, die Hochzeit zu planen?«

»Ich hab nicht gewusst, wie! Allan hatte Oxford verlassen, ich wusste nicht, wo er steckte, ich hatte alle Unterlagen verloren …«

»Du hättest zu einem Anwalt gehen können, oder? Oder zu einer Beratungsstelle?«

»Schon klar.«

»Na also, warum …«

»Weil ich mich nicht getraut habe, okay? Ich wollte nicht unnötig Staub aufwirbeln.« Milly paffte an ihrer Zigarette. »Ich wusste doch, dass das, was ich getan habe, nicht ganz sauber war. Die Leute hätten anfangen können, nachzubohren und Fragen zu stellen. Das konnte ich nicht riskieren!«

»Aber, Milly …«

»Ich habe einfach nicht gewollt, dass es sonst noch jemand weiß. Kein Einziger sollte das. Solange habe ich mich … sicher gefühlt.«

»Sicher!«

»Ja, sicher!«, verteidigte sich Milly. »Keine einzige Menschenseele auf der Welt hat davon gewusst. Niemand hat irgendwelche Fragen gestellt; niemand hat irgendetwas geahnt.« Sie blickte Isobel in die Augen. »Ich meine, du doch auch nicht, oder?«

»Wohl nicht«, meinte Isobel widerstrebend.

»Natürlich nicht. Das hat keiner.« Zittrig zog Milly erneut an ihrer Zigarette. »Und je mehr Zeit verging, umso mehr kam es mir vor, als wäre das Ganze nie passiert. Ein paar Jahre vergingen, und immer wusste noch niemand davon, und allmählich … war es schon gar nicht mehr wahr.«

»Wie meinst du das, es war gar nicht mehr wahr?«, erkundigte sich Isobel ungeduldig. »Milly, du hast diesen Mann geheiratet! Das ist nun mal eine Tatsache!«

»Das waren drei Minuten im Standesamt«, erklärte Milly. »Eine kleine Unterschrift, vor zehn Jahren. Auf irgendeinem Dokument, das niemand je wieder zu sehen kriegt. Das ist doch keine Ehe, Isobel. Das ist ein Staubkörnchen, ein Nichts!«

»Und wie war das, als Simon dich gefragt hat, ob du seine Frau werden willst?«

Betretenes Schweigen.

»Ich habe überlegt, es ihm zu sagen«, sagte Milly schließlich. »Wirklich. Aber letztendlich habe ich einfach nicht eingesehen, warum. Mit uns hatte das nichts zu tun. Es hätte die Dinge einfach nur komplizierter gemacht. Er brauchte es nicht zu wissen.«

»Was hattest du also vor?«, fragte Isobel ungläubig. »Wolltest du Bigamie begehen?«

»Die erste Ehe war gar keine richtige Ehe.« Milly sah fort. »Sie hätte nicht gezählt.«

»Wie meinst du das?«, rief Isobel aus. »Natürlich hätte sie gezählt! Jesses, Milly, wie kann man nur so dumm sein! Manchmal fass ich es einfach nicht!«

»Oh, sei still, Isobel!«, rief Milly zornig.

»Gut. Ich halte den Mund.«

»Gut.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Milly rauchte ihre Zigarette zu Ende und drückte sie dann auf dem Fenstersims aus.

»Rauchst du deine denn gar nicht?«, fragte sie.

»Ich glaube, ich will den Rest nicht. Kannst sie haben.«

»Okay.« Milly nahm die halb heruntergebrannte Zigarette und warf dann, für einen Augenblick abgelenkt, der Schwester einen Blick zu. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie. »Mummy hat recht, du siehst schrecklich aus.«

»Mir geht’s gut«, erwiderte Isobel kurz.

»Du bist doch nicht etwa magersüchtig, oder?«

»Nein«, lachte Isobel. »Natürlich nicht.«

»Tja, du hast aber doch abgenommen …«

»Du auch.«

»Ehrlich?« Milly zupfte an ihren Kleidungsstücken. »Das kommt wahrscheinlich von dem ganzen Stress.«

»Na, dann stress nicht herum«, sagte Isobel bestimmt. »Okay? Stress bringt nichts.« Sie zog die Knie hoch und umschlang sie. »Wenn wir doch bloß wüssten, wie weit deine Scheidung schon gediehen ist.«

»Überhaupt nicht«, meinte Milly niedergeschlagen. »Ich hab’s dir doch gesagt, ich war nie vor einem Scheidungsgericht.«

»Na und? Du musst doch nicht vor Gericht gehen, um dich scheiden zu lassen.«

»Doch.«

»Nein.«

»O doch!«, versetzte Milly. »In Kramer gegen Kramer war das auch so.«

»Herrgott noch mal, Milly!«, schrie Isobel. »Weißt du denn auch rein überhaupt nichts? Da ging es ums Sorgerecht!«

Es entstand eine kleine Pause, dann sagte Milly: »Oh.«

»Wenn es sich bloß um eine Scheidung handelt, erledigt das dein Rechtsanwalt für dich.«

»Welcher Rechtsanwalt? Ich hatte keinen Rechtsanwalt.«

Milly nahm einen letzten Zug aus Isobels Zigarette und drückte sie dann aus. Isobel schwieg, die Stirn verblüfft gerunzelt. Dann sah sie unvermittelt auf.

»Na ja, vielleicht hast du keinen gebraucht. Vielleicht hat Allan den ganzen Scheidungskram für dich mit erledigt.«

Milly sah sie mit großen Augen an.

»Meinst du das im Ernst?«

»Weiß nicht. Möglich wär’s.« Milly schluckte.

»Also könnte ich vielleicht doch geschieden sein?«

»Ich wüsste nicht, warum nicht. Zumindest theoretisch.«

»Tja, wie kann ich das herausbekommen?«, fragte Milly aufgeregt. »Warum habe ich davon nichts erfahren? Gibt es irgendwo eine offizielle Scheidungsliste? Mein Gott, wenn sich herausstellen würde, dass ich geschieden bin …«

»So was gibt es bestimmt«, entgegnete Isobel. »Aber es geht auch schneller.«

»Was?«

»Mach, was du schon vor Jahren hättest machen sollen. Ruf deinen Mann an.«

»Das geht nicht«, meinte Milly sofort. »Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält.«

»Na, dann find’s heraus!«

»Kann ich nicht.«

»Natürlich kannst du!«

»Ich wüsste nicht mal, wo ich anfangen sollte! Und überhaupt …« Milly ließ den Satz unvollendet und sah fort.

»Was?« Stille trat ein, und Milly zündete sich mit bebenden Händen eine weitere Zigarette an. »Was?«, wiederholte Isobel ungeduldig.

»Ich möchte nicht mit ihm sprechen, okay?«

»Warum denn nicht?« Isobel musterte Millys niedergeschlagenes Gesicht. »Warum nicht, Milly?«

»Weil du recht hast«, sagte Milly plötzlich, und ihr sprangen Tränen in die Augen. »Du hast recht, Isobel! Meine Freunde sind die beiden nie gewesen, oder? Sie haben mich nur benutzt. Sie haben bloß rausgeholt, was sie konnten. All diese Jahre habe ich sie für meine Freunde gehalten. Sie haben einander so sehr geliebt, und ich wollte ihnen helfen …«

»Milly …«

»Weißt du, als ich wieder daheim war, habe ich ihnen geschrieben.« Milly starrte in die Dunkelheit. »Allan hat mir zurückgeschrieben. Ich hatte immer vor, noch mal hinzufahren und sie zu überraschen. Dann haben wir allmählich den Kontakt verloren. Aber ich habe sie immer noch als meine Freunde betrachtet.« Sie sah zu Isobel auf. »Du hast ja keine Ahnung, wie es in Oxford war. Es war wie eine stürmische Romanze zwischen uns dreien. Wir sind Stechkahn gefahren, wir haben Picknicks veranstaltet und uns bis in die Nacht hinein miteinander unterhalten …« Sie verstummte. »Und insgeheim haben sie sich wohl die ganze Zeit über mich lustig gemacht, nicht?«

»Nein«, entgegnete Isobel. »Das haben sie bestimmt nicht.«

»Ich war das ideale Opfer«, sagte Milly bitter. »Eine naive, leichtgläubige dumme Kuh, die alles getan hat, worum man sie bat.«

»Hör mal, lass das Grübeln.« Isobel legte den Arm um Milly. »Das ist zehn Jahre her. Es ist vorbei. Aus. Du musst nach vorn schauen. Du musst etwas über die Scheidung in Erfahrung bringen.«

»Ich kann nicht«, meinte Milly kopfschüttelnd. »Ich kann nicht mit ihm sprechen. Er wird mich bloß … auslachen.« Isobel seufzte.

»Tja, es wird dir gar nichts anderes übrig bleiben.«

»Aber er könnte überall sein!«, sagte Milly hilflos. »Er hat sich einfach in Luft aufgelöst!«

»Milly, wir leben im Informationszeitalter«, versetzte Isobel. »Da kann man sich nicht mehr in Luft auflösen.« Sie holte einen Stift aus ihrer Tasche hervor und riss von einer der Hochzeitsschachteln ein Stück Pappe ab. »So, jetzt komm«, sagte sie forsch. »Jetzt erzähl mir, wo er früher gewohnt hat. Und seine Eltern. Und Rupert. Und dessen Eltern. Und alle anderen, die die beiden gekannt haben.«

Eine Stunde später blickte Milly triumphierend vom Telefon auf.

»Das könnte sie sein!«, rief sie aus. »Sie geben mir eine Nummer!«

»Halleluja!«, erwiderte Isobel. »Hoffentlich ist er es.« Sie studierte den Straßenatlas auf ihrem Schoß, der beim Index aufgeschlagen war. Es hatte eine Weile gedauert, bis Milly sich daran erinnert hatte, dass Ruperts Vater Schulleiter in Cornwall gewesen war, und noch etwas länger, bis sie den Namen des Dorfes auf einen, der mit T begann, eingrenzen konnte. Seitdem hatten sie sich den Index hinuntergearbeitet und bei der Fernsprechauskunft jedesmal nach einem Dr. Carr gefragt.

»Nun, hier ist sie.« Milly legte den Hörer auf und starrte auf eine Nummer.

»Super!«, sagte Isobel. »Na, komm, ruf an!«

»Okay.« Milly holte tief Luft. »Mal sehen, ob es die richtige ist.«

Das hätte ich auch schon früher machen können, dachte sie schuldbewusst, als sie den Hörer abnahm. Ich hätte das jederzeit tun können. Trotzdem wählte sie nur widerstrebend. Sie wollte nicht mit Rupert sprechen. Sie wollte nicht mit Allan sprechen. Sie wollte vergessen, dass die beiden Schufte überhaupt je existiert hatten, wollte sie aus dem Gedächtnis streichen.

»Hallo?« Plötzlich sprach ihr eine männliche Stimme ins Ohr, und Milly fuhr erschrocken zusammen.

»Hallo?«, sagte sie vorsichtig. »Spreche ich mit Dr. Carr?«

»Ja, am Apparat.« Dass sie seinen Namen kannte, schien ihn angenehm zu überraschen.

»Oh, gut«, sagte Milly und räusperte sich. »Dürfte ich … dürfte ich bitte Rupert sprechen?«

»Der ist leider nicht hier«, erwiderte der Mann. »Haben Sie es schon unter seiner Londoner Nummer versucht?«

»Nein, die habe ich gar nicht.« Milly wunderte sich, wie normal ihre Stimme klang. Sie warf einen Blick hinüber zu Isobel, die beifällig nickte. »Ich bin eine alte Freundin aus Oxford und versuche gerade wieder, auf den aktuellen Stand zu kommen.«

»Ja, inzwischen wohnt er in London. Arbeitet als Rechtsanwalt bei einem Obergericht. Ich gebe Ihnen mal seine Privatnummer.«

Während Milly sich die Nummer aufschrieb, spürte sie Verwunderung in sich aufsteigen. So einfach war das also. Jahrelang hatte sie gedacht, Rupert und Allan seien für immer aus ihrem Leben verschwunden, seien nebulöse Gestalten, die sich inzwischen sonstwo auf der Welt aufhalten konnten, die sie nie wieder sehen würde. Und doch war sie hier, sprach mit Ruperts Vater, nur einen Telefonanruf von Rupert persönlich entfernt. In ein paar Minuten würde sie seine Stimme hören. O Gott.

»Kennen wir uns eigentlich?«, erkundigte sich Ruperts Vater. »Waren Sie am Corpus?«

»Nein«, sagte Milly eilig. »Tut mir leid, ich muss Schluss machen. Ich danke Ihnen vielmals.«

Sie legte den Hörer auf und starrte ihn eine Weile an. Dann holte sie tief Luft, hob ihn erneut ab und wählte Ruperts Nummer, ehe sie es sich anders überlegen konnte.

»Hallo?«, hörte sie eine angenehme Frauenstimme.

»Hallo«, erwiderte Milly, bevor sie feige auflegen konnte. »Ich hätte gern Rupert gesprochen, bitte. Es ist ziemlich wichtig.«

»Natürlich. Dürfte ich bitte den Namen erfahren?«

»Milly. Milly aus Oxford.«

Während die Frau ihn holen ging, wand Milly die Telefonschnur um die Finger und versuchte, gleichmäßig weiterzuatmen. Aus Angst vor einer Panikreaktion traute sie sich nicht, Isobel in die Augen zu sehen. Zehn Jahre waren eine lange Zeit. Wie Rupert jetzt wohl aussah? Was er wohl zu ihr sagen würde? Leise hörte sie im Hintergrund Musik und stellte sich ihn vor, wie er auf dem Boden lag, einen Joint rauchte und sich Jazzmusik anhörte. Oder vielleicht saß er auf einem alten Samtstuhl, spielte Karten und trank Whisky. Vielleicht spielte er Karten mit Allan. Millys Herz klopfte schneller. Jeden Moment konnte Allan am anderen Ende der Leitung sein.

Plötzlich war die Frau wieder dran.

»Es tut mir leid«, sagte sie, »aber Rupert ist augenblicklich sehr beschäftigt. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

»Eigentlich nicht«, erwiderte Milly. »Aber vielleicht könnte er mich zurückrufen?«

»Natürlich.«

»Die Nummer lautet 8 94 06 in Bath.«

»Okay, ich habe sie notiert.«

»Super«, sagte Milly. Sie blickte auf das Gekritzel auf ihrem Notizblock und verspürte eine Woge der Erleichterung. Sie hätte das vor Jahren tun sollen; es war einfacher als gedacht. »Sind Sie Ruperts Mitbewohnerin?«, setzte sie im Plauderton hinzu. »Oder nur eine Freundin?«

»Weder noch.« Die weibliche Stimme klang überrascht. »Ich bin Ruperts Frau.«

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