Eine Weile herrschte Schweigen. Ein Kellner kam, und Martin bestellte diskret, während Rupert mit glasigen Augen nach vorn starrte. Es schien ihm, als würde etwas in ihm zerrissen, als bestünde er nur noch aus Leid und Schmerz. Allan war tot. Allan war fort. Er kam zu spät.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte Martin sich leise.
Unfähig zu sprechen, nickte Rupert nur.
»Ich fürchte, über seinen Tod kann ich Ihnen nicht viel erzählen. Er starb in den Staaten. Seine Eltern sind hergekommen und haben ihn heimgebracht. Soweit ich weiß, ist das Ende recht friedlich gewesen.«
»Seine Eltern«, sagte Rupert mit brüchiger Stimme. »Dabei hat er seine Eltern gehasst.«
»Sie haben sich zusammengerauft. Mit Allans Krankheit hat sich natürlich alles geändert. Als sie herkamen, habe ich sie kennen gelernt. Es waren anständige, mitfühlende Leute.« Er sah Rupert an. »Sind Sie ihnen je begegnet?«
»Nein. Nie.«
Er schloss die Augen und stellte sich die beiden ältlichen Personen vor, die Allan ihm beschrieben hatte, stellte sich vor, wie Allan in eine Stadt, die er immer gehasst hatte, zurückgebracht wurde, um zu sterben. Ein frischer Schmerz überflutete ihn, und plötzlich fühlte er sich einem Zusammenbruch nahe.
»Denken Sie es nicht«, riet Martin.
»Was?« Rupert öffnete die Augen.
»Was Sie gerade denken. Was alle denken. Wenn ich doch nur gewusst hätte, dass er stirbt. Natürlich hätten Sie sich dann anders verhalten. Logisch. Aber Sie haben es nicht gewusst. Wie hätten Sie es denn wissen sollen?«
»Was …« Rupert leckte sich die Lippen. »Was hat er über mich erzählt?«
»Er hat gesagt, dass er Sie liebt. Er hat gesagt, er hätte gedacht, Sie lieben ihn auch. Aber er war nicht mehr wütend.« Martin beugte sich vor und ergriff Ruperts Hand. »Es ist wichtig, dass Ihnen das klar ist, Rupert«, meinte er ernst. »Er hatte keine Wut auf Sie.«
Ein Kellner erschien plötzlich mit zwei Tassen Kaffee am Tisch.
»Danke«, sagte Martin, ohne Ruperts Hand loszulassen. Rupert bemerkte, wie der Blick des Kellners über sie beide glitt, und versteifte sich unwillkürlich.
»Hätten Sie sonst noch einen Wunsch?«, erkundigte er sich.
»Nein, danke«, sagte Rupert. Er sah in die freundlichen Augen des Kellners und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Hätte am liebsten irgendwo Schutz gesucht. Alles geleugnet. Doch stattdessen zwang er sich, seine Hand ruhig in Martins zu lassen. Als wäre es normal.
»Ich weiß, das ist hart für Sie«, sagte Martin, als der Kellner wieder fort war. »In jeder Hinsicht.«
»Ich bin verheiratet«, erwiderte Rupert grob. »So hart ist das.« Martin nickte bedächtig.
»So was Ähnliches hat sich Allan schon gedacht.«
»Ich nehme an, er hat mich verachtet.« Rupert starrte in seine Kaffeetasse. »Und Sie tun das wohl auch.«
»Nein«, sagte Martin. »Sie verstehen mich falsch. Allan hat gehofft, dass Sie verheiratet sind. Er hat gehofft, dass Sie mit einer Frau zusammen sind und nicht …« Rupert blickte auf.
»Und nicht mit einem Mann?« Martin nickte.
»Er hat sich den Kopf zermartert, ob er mit Ihnen in Kontakt treten soll. Er wollte nichts ins Wanken bringen, falls Sie mit einer Frau glücklich waren. Aber er fürchtete sich auch vor der Entdeckung, Sie könnten mit einem anderen Mann zusammen sein. Seine Wunschvorstellung war, dass Sie im Falle eines Sinneswandels zu ihm zurückgekommen wären.«
»Natürlich wäre ich das.« Ruperts Stimme bebte leicht. »Er wusste das. Er hat mich gekannt wie kein anderer.«
Martin zuckte diplomatisch mit den Achseln.
»Ihre Frau …«
»Meine Frau?«, rief Rupert. Er sah Martin gequält an. »Meine Frau kennt mich nicht! Wir haben uns kennen gelernt, sind ein paarmal essen gegangen, wir haben zusammen Urlaub gemacht, geheiratet. Ich sehe sie am Tag eine Stunde, wenn überhaupt. Mit Allan war es …«
»Intensiver.«
»Es war der ganze Tag und die ganze Nacht.« Rupert schloss die Augen. »Es war jede Stunde und jede Minute und jeder einzelne Gedanke, jede Befürchtung, jede Hoffnung.«
Stille trat ein. Als Rupert die Augen wieder öffnete, zog Martin gerade einen Brief aus seiner Tasche. »Allan hat Ihnen den hier hinterlassen«, erklärte er. »Falls Sie je nach ihm suchen.«
»Danke.« Rupert nahm den Briefumschlag und sah ihn eine Weile schweigend an. In Allans schöner Handschrift stand dort sein Name. Er konnte beinahe Allans Stimme hören, die mit ihm sprach. Er zwinkerte ein paarmal, dann steckte er den Brief in seine Jackentasche. »Haben Sie ein Handy?«
»Sicher.« Martin griff in seine Tasche.
»Es gibt da noch jemanden, der davon wissen muss.« Er tippte eine Nummer ein, wartete einen Augenblick und schaltete das Handy wieder aus. »Besetzt.«
»Wem wollen Sie es denn erzählen?«, wollte Martin wissen.
»Milly. Das Mädchen, das er geheiratet hat, um in England bleiben zu können.«
Martin runzelte die Stirn.
»Allan hat mir von Milly erzählt. Aber sie müsste eigentlich Bescheid wissen. Er hat ihr geschrieben.«
»Tja, falls dem so war, dann hat der Brief sie nie erreicht«, erklärte Rupert. »Sie ist darüber nämlich völlig im Unklaren.« Wieder tippte er die Nummer ein. »Und dabei müsste sie es dringend wissen.«
Isobel legte auf und fuhr sich durchs Haar. »Das war Tante Jean. Sie wollte wissen, was wir mit dem Geschenk anfangen, das sie geschickt hat.«
Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und überblickte das Durcheinander auf dem Küchentisch. Namenslisten, Adress- und Telefonbücher lagen dort ausgebreitet, jedes mit einem Muster aus braunen Kaffeeringen und Sandwichkrümeln bedeckt. Schuhkartons voller Hochzeitsbroschüren und -kataloge stapelten sich auf einem Küchenstuhl. Aus einer Schachtel hing eine schwarzweiße Glanzschrift heraus, aus einer anderen ein Stück Spitze. Vor ihr lag eine geöffnete Tüte pastellfarbener Zuckermandeln.
»Es dauert so lange, bis man alles für eine Hochzeit zusammen hat«, sagte sie und langte in die Tüte. »So viel Zeit und Mühe. Und dann braucht man gerade mal fünf Sekunden, um alles zunichte zu machen. Als ob man auf eine Sandburg springt.« Sie knabberte eine Zuckermandel und verzog das Gesicht. »Herrje, diese Dinger sind ekelhaft. Damit ruiniere ich mir ja sämtliche Zähne.«
»Es tut mir außerordentlich leid, Andrea«, sagte Olivia gerade in ihr Handy. »Ja, ich verstehe, dass Derek den Cut extra dafür gekauft hat. Richte ihm bitte aus, es tue mir leid … Ja, vielleicht hast du recht. Vielleicht hätte es ein Straßenanzug genauso getan.« Es entstand eine Pause, und sie umklammerte das Handy fester. »Nein, sie haben noch keinen neuen Termin festgelegt. Ja, ich geb dir Bescheid … Nun, ob er den Anzug zurückgeben will, ist allein seine Sache. Ja, meine Liebe, bis bald.«
Mit zitternder Hand schaltete sie das Handy aus, hakte einen Namen ab und langte nach dem roten Buch. »Gut«, sagte sie. »Wer kommt als Nächstes dran?«
»Warum legst du nicht mal eine Pause ein?«, fragte Isobel. »Du siehst kaputt aus.«
»Nein, Schatz«, meinte Olivia. »Ich mache lieber weiter. Es muss ja schließlich erledigt werden, oder?« Sie schenkte Isobel ein allzu strahlendes Lächeln. »Wir können nicht nur herumsitzen und uns selbst bemitleiden, oder?«
»Nein. Wohl nicht.« Isobel streckte die Arme in die Luft. »Gott, von der ganzen Telefoniererei tut mir vielleicht mein Nacken weh!«
Da klingelte das Telefon schon wieder. Sie zog eine Grimasse und hob ab.
»Hallo? Oh, hallo! Ja, das stimmt leider. Ja. Ich richte ihr die Grüße aus. Okay dann. Bye.« Sie knallte den Hörer auf die Gabel und hängte ihn dann aus.
»Alle müssen sie zurückrufen und ihre hämischen Bemerkungen machen«, zeterte sie. »Die wissen doch alle, dass Milly nicht krank ist.«
»Vielleicht hätten wir uns eine bessere Ausrede einfallen lassen sollen.« Olivia rieb sich die Stirn.
»Ist doch egal, was wir sagen«, meinte Isobel. »Die denken es sich eh alle. Entsetzliche Leute.« Sie zog eine Grimasse. »Die verflixte Tante Jean möchte, dass wir ihr das Geschenk auf der Stelle zurückschicken. In zwei Wochen ist sie auf eine andere Hochzeit eingeladen, und dafür will sie es haben. Ich werde ihr erzählen, dass wir es weggeworfen haben, weil wir es so hässlich fanden.«
»Nein.« Olivia schloss die Augen. »Wir müssen versuchen, die Sache mit Anstand und Würde durchzustehen.«
»Müssen wir das?« Isobel betrachtete Olivia. »Mummy, ist dir wohl? Du benimmst dich äußerst seltsam.«
»Mir geht’s gut«, flüsterte Olivia.
»Na dann«, meinte Isobel zweifelnd. Sie sah auf ihre Liste. »Die Floristin hat mich auch schon angerufen. Da Millys Strauß bereits gebunden ist, hat sie den Vorschlag gemacht, ihn zum Trockenstrauß umzufunktionieren. Als Andenken.«
»Als Andenken?«
»Ich weiß.« Unwillkürlich brach Isobel in Kichern aus. »Was sind das bloß für Leute?«
»Als Andenken! Als ob wir das je vergessen könnten! Als ob wir den heutigen Tag je vergessen könnten!«
Isobel sah jäh auf. In Olivias Augen glitzerten Tränen.
»Mummy!«
»Es tut mir leid, Schatz.« Eine Träne landete auf Olivias Nase, und sie lächelte. »So was Albernes aber auch.«
»Ich weiß, wie sehr du dir diese Hochzeit gewünscht hast.« Isobel ergriff Olivias Hand. »Aber es wird wieder eine geben. Ganz bestimmt.«
»Es ist nicht wegen der Hochzeit«, flüsterte Olivia. »Wenn es bloß darum ginge …« Es klingelte an der Tür, und sie verstummte.
»Verflixt, wer kann das sein?«, fragte Isobel ungeduldig. »Ist den Leuten denn nicht klar, dass wir momentan keine Lust auf Besuch haben?« Sie legte ihre Liste fort. »Keine Bange, ich gehe.«
»Nein, ich mach das schon.«
»Dann gehen wir eben beide.«
Vor der Haustür stand ein fremdes Paar, gekleidet in glänzend grüne Barbourmäntel mit den dazu passenden Mulberry-Reisetaschen.
»Guten Tag!«, grüßte die Frau fröhlich. »Wir hätten gern ein Zimmer, bitte!«
»Ein was?«, fragte Olivia verwirrt.
»Ein Zimmer«, wiederholte die Frau. »Ein Bed-and-Breakfast-Zimmer.« Sie schwenkte eine Ausgabe des Heritage City Guidebook vor Olivias Nase herum.
»Leider haben wir augenblicklich kein Zimmer frei«, meinte Isobel. »Wenn Sie es vielleicht beim Tourist Board versuchen …«
»Uns wurde gesagt, wir könnten hier was bekommen«, erklärte die Frau.
»Das kann aber nicht sein«, erwiderte Isobel geduldig, »weil nämlich alle Zimmer belegt sind.«
»Ich habe mit jemandem telefoniert!« Die Stimme der Frau hob sich verärgert. »Ich habe mir eigens versichern lassen, dass wir hier unterkommen können! Und, das könnte ich vielleicht hinzufügen, Sie wurden uns von unseren Freunden, den Rendles, empfohlen.« Sie sah Isobel vielsagend an.
»Oh, welche Ehre!«
»Sprechen Sie nicht in diesem Ton mit mir, junge Frau!«, empörte sich die Frau. »Führen Sie so Ihre Geschäfte? Der Kunde ist König, wissen Sie! Tja, also, uns wurde gesagt, wir bekämen hier ein Zimmer. Sie können einen doch nicht einfach ohne Erklärung abweisen!«
»Doch, Herrgott noch mal«, sagte Isobel.
»Sie wollen eine Erklärung?«, fragte Olivia mit bebender Stimme.
»Mummy, lass es …«
»Sie wollen eine Erklärung?« Olivia holte tief Luft. »Nun, wo soll ich anfangen? Mit der Hochzeit meiner Tochter? Die Hochzeit, die eigentlich morgen stattfinden sollte?«
»Oh, eine Hochzeitsfeier!«, meinte die Frau entgeistert. »Nun, das ist was anderes.«
»Oder soll ich mit ihrer ersten Hochzeit vor zehn Jahren anfangen?« Olivia ignorierte die Frau. »Der Hochzeit, von der wir keine Ahnung hatten?« Ihre Stimme schwoll gefährlich an. »Oder damit, dass wir das Ganze abblasen müssen und dass unsere gesamte Familie und all unsere Freunde sich hinter unserem Rücken über uns lustig machen?«
»Wirklich, ich wollte nicht …«, begann die Frau.
»Aber kommen Sie trotzdem rein!« Olivia riss die Tür weit auf. »Wir finden schon ein Zimmer für Sie! Irgendwo zwischen all den Hochzeitsgeschenken, die wir zurückschicken müssen, und den Hochzeitskuchen, die wir essen müssen, und den Kleidern, die nie getragen werden, und dem wunderschönen Brautkleid …«
»Komm, Rosemary«, sagte der Mann verlegen und zog seine Frau am Ärmel. »Verzeihen Sie bitte die Störung«, wandte er sich an Isobel. »Ich habe ja immer gesagt, dass wir nach Cheltenham fahren sollten.«
Während die beiden den Rückzug antraten, sah Isobel Olivia an. Mit tränenüberströmtem Gesicht umklammerte sie noch immer die Tür.
»Mummy, ich finde, du solltest wirklich mal eine Pause machen. Häng das Telefon aus. Schau fern. Oder leg dich ein bisschen ins Bett.«
»Ich kann nicht. Wir müssen weiter telefonieren.«
»Unsinn«, entgegnete Isobel. »Alle, mit denen ich gesprochen habe, wussten sowieso schon davon. Klatsch macht schnell die Runde, weißt du. Die wichtigsten Leute haben wir angerufen. Die anderen können warten.«
»Nun«, meinte Olivia nach einer Pause. »Ein bisschen erschöpft bin ich wirklich. Vielleicht lege ich mich doch etwas hin.« Sie schloss die Haustür und blickte Isobel an. »Ruhst du dich auch aus?«
»Nein.« Isobel griff nach ihrem Mantel. »Ich sehe mal kurz bei Milly vorbei.«
»Eine gute Idee«, meinte Olivia bedächtig. »Sie wird sich freuen, dich zu sehen.« Sie hielt inne. »Denk bitte dran …«
»Ja?«
»Denk bitte dran, sie von mir zu grüßen.« Olivia senkte den Blick. »Das ist alles. Grüß sie von mir.«
In Esmes Wohnzimmer war es warm und ruhig, ein Zufluchtsort der Ruhe und Kultiviertheit. Während Isobel auf einem hellen, eleganten Sofa Platz nahm, sah sie sich neugierig um und bewunderte die Sammlung Silberdosen, die auf einem Beistelltisch zwanglos angeordnet waren, die mit glatten, grauen Kieselsteinen gefüllte Holzschale.
»Na«, sagte Milly und setzte sich ihr gegenüber. »Ist Mummy immer noch sauer?«
»Eigentlich nicht.« Isobel verzog das Gesicht. »Sie benimmt sich eigenartig.«
»Vermutlich bedeutet das, dass sie wütend ist.«
»Das ist sie nicht, ehrlich. Sie hat gesagt, ich solle dich von ihr grüßen.«
»Wirklich?« Milly zog die Füße unter sich ein und nippte an ihrem Kaffee. Das Haar hatte sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, und unter ihren Jeans trug sie ein Paar uralter Skisocken.
»So, bitte schön!« Esme reichte Isobel einen Becher mit Kaffee. »Allerdings muss ich Milly leider bald entführen. Wir wollen essen gehen.«
»Gute Idee. Wohin geht ihr?«
»In ein kleines Lokal, das ich kenne.« Esme lächelte beide an. »In ungefähr zehn Minuten, Milly?«
»Gut«, sagte Milly. Beide warteten sie, bis Esme die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Also«, sagte Isobel dann. »Wie geht’s dir wirklich?«
»Weiß nicht«, sagte Milly langsam. »Manchmal geht’s mir gut – und manchmal würde ich am liebsten losheulen.« Zittrig holte sie Luft. »Immer wieder denke ich, was würdest du jetzt gerade tun … und was würdest du jetzt gerade tun?« Sie schloss die Augen. »Keine Ahnung, wie ich den morgigen Tag durchstehen soll.«
»Trink dir einen Rausch an.«
»Das mach ich heute Abend.« Ein kleines Lächeln huschte über Millys Gesicht. »Na, bist du mit von der Partie?«
»Vielleicht.« Isobel trank einen Schluck Kaffee. »Und Simon hat sich noch nicht gemeldet?«
»Nein.« Millys Gesicht verschloss sich.
»Ist es wirklich ganz aus zwischen euch?«
»Ja.«
»Das glaube ich einfach nicht.« Isobel schüttelte den Kopf. »Bloß weil …«
»Weil ich ihn in einer Sache getäuscht habe«, sagte Milly in scharfem, sarkastischem Ton, »bin ich offensichtlich eine krankhafte Lügnerin. Ganz offensichtlich kann man mir nie mehr Glauben schenken.«
»Schwein. Ohne ihn bist du besser dran.«
»Ich weiß.« Milly blickte auf und lächelte kummervoll. »Es ist das Beste so, wirklich.« Isobel sah sie an und hätte plötzlich am liebsten losgeheult.
»Oh, Milly. Es ist solch ein Jammer.«
»Was soll’s«, meinte Milly leichthin. »Komm. Es ist ja nicht so, als ob ich schwanger wäre. Also, das wäre wirklich eine Katastrophe!« Sie trank einen Schluck Kaffee und grinste Isobel halbherzig an.
Isobel erwiderte ihren Blick und lächelte unwillkürlich. Eine Weile herrschte Schweigen.
»Weißt du schon, was du machen wirst?«, fragte Milly schließlich.
»Nein.«
»Was ist mit dem Vater?«
»Er will das Baby nicht. Das hat er mir klipp und klar zu verstehen gegeben.«
»Hast du ihn nicht überreden können?«
»Nein. Und das will ich auch gar nicht! Ich will niemanden zur Vaterschaft drängen. Was für eine Chance hätte unsere Beziehung dann noch?«
»Vielleicht würde das Kind euch zusammenbringen.«
»Babys sind kein Kitt.« Isobel fuhr sich durchs Haar. »Wenn ich das Baby bekäme, dann müsste ich das allein durchziehen.«
»Ich würde dir helfen!«, sagte Milly. »Und Mummy auch.«
»Ich weiß.« Isobel zuckte mit den Achseln. Milly starrte sie an.
»Isobel, du würdest es doch nie im Leben über dich bringen, das Kind abzutreiben!«
»Ich weiß es nicht!« Isobels Stimme hob sich verzweifelt. »Ich bin erst dreißig, Milly! Schon morgen könnte ich dem Traummann schlechthin begegnen. Vielleicht würde er mein Herz im Sturm erobern. Aber mit Kind …«
»Das würde keinen Unterschied machen«, entgegnete Milly mit Nachdruck.
»Doch! Und weißt du, das Mutterdasein ist wahrlich nicht so einfach. Ich hab das bei Freundinnen erlebt. Die haben sich in Zombies verwandelt. Dabei sind sie nicht mal alleinerziehend.«
»Tja, ich weiß nicht«, sagte Milly nach einer Pause. »Die Entscheidung liegt bei dir.«
»Genau. Das ist es ja eben.«
Die Tür ging auf, und Esme lächelte sie unter einem riesigen Pelzhut an.
»Bereit zum Aufbruch, Milly? Isobel, Schatz, möchtest du nicht auch mitkommen?«
»Nein, danke.« Isobel erhob sich. »Ich mach mich besser auf den Heimweg.«
Sie beobachtete, wie Milly in Esmes roten Daimler stieg, und wünschte sich plötzlich, ihre eigene Patentante würde überraschend erscheinen und sie auch so unter ihre Fittiche nehmen. Doch Mavis Hindhead war eine farblose Frau aus dem Norden Schottlands, die Isobel seit ihrer Konfirmation nicht mehr zur Kenntnis genommen hatte, zu der sie ihr einen kratzigen, unförmigen Pulli und eine krakelig geschriebene Karte geschickt hatte, aus der Isobel nie schlau geworden war. Es gab nicht viele Patentanten, dachte Isobel, wie Esme Ormerod.
Als die beiden um die Ecke brausten, machte sich Isobel vor, direkt nach Hause gehen zu wollen. Aber der Gedanke, in die klaustrophobische, traurige Atmosphäre der Küche zurückzukehren, bereitete ihr Unbehagen; sie wollte auch keine weiteren peinlichen Telefonate mit neugierigen Fremden führen. Sie wollte an der frischen Luft bleiben, sich die Beine vertreten und das Gefühl genießen, kein Telefon am Ohr klemmen zu haben.
Es kam ihr vor, als täte sie etwas ähnlich Unverantwortliches wie die Schule zu schwänzen, als sie flott Richtung Stadt marschierte. Zunächst ohne Ziel, genoss sie einfach nur das Gefühl des Laufens, die Leichtigkeit ihrer Arme, die hin und her schwangen. Dann, als ihr unvermittelt ein Gedanke kam, blieb sie stehen und bog, getrieben von einer – zugegebenermaßen – makabren Neugierde, von der Hauptstraße ab, in Richtung St. Edward’s Church.
Beim Betreten der blumengeschmückten Kirche rechnete sie fast damit, auf der Orgel Hochzeitsklänge zu hören. Die Kirchenbänke waren leer, der Altar glänzte hell. Langsam schritt sie den Mittelgang entlang und stellte sich die Kirche dabei voller glücklicher, erwartungsvoller Gesichter vor, malte sich aus, wie es gewesen wäre, in einem Brautjungfernkleid hinter Milly einherzuschreiten und zu beobachten, wie ihre Schwester das alte Gelöbnis ablegte, das jeder kannte und liebte.
Kurz vor dem Altar blieb sie stehen und bemerkte einen Stapel weißer, übrig gebliebener Gottesdienstprogramme am Ende einer Bankreihe. Traurig nahm sie sich eines – dann, als sie die beiden Namen auf dem Titelblatt las, zwinkerte sie überrascht. Eleanor und Giles. Wer zum Teufel waren Eleanor und Giles? Hatten die sich etwa einfach rücksichtslos hineingedrängt?
»Verdammte Parasiten!«, sagte sie laut.
»Wie bitte?«, ertönte eine männliche Stimme hinter ihr, und sie fuhr herum. Ein junger Mann in einem Talar kam den Gang entlang auf sie zu.
»Arbeiten Sie hier?«, erkundigte sich Isobel.
»Ja«, erwiderte der junge Mann.
»Tja, guten Tag. Ich bin Milly Havills Schwester.«
»Ah ja«, sagte der Priester verlegen. »Wie schade. Die Geschichte hat uns allen sehr leidgetan.«
»So? Und dann? Haben Sie gedacht, Sie könnten Millys teuren Blumenschmuck genausogut für andere Zwecke nutzen?«
»Wie meinen Sie das?« Isobel deutete auf die Programme.
»Wer sind Eleanor und Giles, verflixt noch mal? Wie kommt es, dass sie Millys Hochzeitstag bekommen haben?«
»Aber das ist doch gar nicht der Fall«, erwiderte der Vikar nervös. »Die beiden heiraten am Nachmittag. Den Termin haben sie schon vor einem Jahr ausgemacht.«
»Oh.« Isobel blickte auf das Programm und legte es dann weg. »Nun, dann. Hoffentlich wird es für sie ein glücklicher Tag.«
»Das Ganze tut mir wirklich sehr leid«, meinte der Vikar unbeholfen. »Vielleicht wird Ihre Schwester ja zu einem späteren Zeitpunkt heiraten können. Wenn sie alles geklärt hat.«
»Das wäre schön. Aber ich bezweifle es.« Sie blickte sich noch einmal in der Kirche um und wandte sich dann zum Gehen.
»Ich wollte gerade absperren.« Der Vikar eilte hinter ihr her. »Eine Vorsichtsmaßnahme, die wir oft ergreifen, wenn wir Blumenschmuck in der Kirche haben. Sie wären überrascht, was die Leute heutzutage so alles stehlen.«
»Das glaube ich.« Isobel blieb bei einer Säule stehen, pflückte sich eine einzelne weiße Lilie aus einem rankenden Blumenarrangement und atmete den süßen Duft ein. »Es wäre wirklich eine schöne Hochzeit gewesen«, sagte sie traurig. »Und nun ist alles kaputt. Ihr wisst ja gar nicht, was ihr da getan habt.« Der junge Vikar machte ein etwas beleidigtes Gesicht.
»Wenn ich es richtig verstanden habe«, begann er, »war dies ein Fall von versuchter Bigamie.«
»Ja«, sagte Isobel. »Aber keiner hätte etwas davon gewusst. Wenn Ihr Pfarrer Lytton nur ein Auge zugedrückt und geschwiegen hätte …«
»Das Paar hätte es gewusst!«, versetzte der Vikar. »Gott hätte es gewusst!«
»Tja«, erwiderte Isobel knapp. »Vielleicht hätte es ihm nichts ausgemacht.«
Mit gesenktem Kopf marschierte sie aus der Kirche und lief dabei direkt in jemanden hinein.
»Verzeihung!« Sie sah hoch und versteifte sich. Harry Pinnacle stand vor ihr, in einem marineblauen Kaschmirmantel und einem hellroten Schal.
»Guten Tag, Isobel«, grüßte er sie. Er schaute über die Schulter zum Vikar, der ihr nach draußen gefolgt war. »Furchtbar, das Ganze.«
»Ja. Schrecklich.«
»Ich bin unterwegs zu einem Lunch mit deinem Vater.«
»Ja«, erwiderte Isobel. »Er hat’s erwähnt.«
Sie hörten Gerassel, als der Vikar die Tür zusperrte. Mit einem Mal waren sie allein.
»Nun, ich muss los. Nett, dich getroffen zu haben.«
»Warte einen Augenblick«, bat Harry.
»Ich bin etwas in Eile.« Isobel wandte sich zum Gehen.
»Das ist mir egal.« Harry packte sie am Arm und drehte sie zu sich herum. »Isobel, warum hast du auf keine meiner Nachrichten reagiert?«
»Lass mich in Ruhe.« Isobel versuchte, sich aus seinem Griff freizumachen.
»Isobel! Ich möchte mit dir reden!«
»Ich kann nicht.« Isobels Gesicht verschloss sich. »Harry, ich … kann einfach nicht.«
Lange Stille. Dann ließ Harry ihren Arm fallen.
»Schön. Wie du willst.«
»Wunderbar«, erwiderte Isobel mit ausdrucksloser Stimme. Und ohne ihn anzusehen, steckte sie die Hände in die Taschen und marschierte davon.