Eine Touristengruppe war stehen geblieben, um Milly anzustarren, in ihrem Brautkleid auf den Treppen des Standesamtes. Sie verstopften den Gehsteig gegenüber, was die Oxforder Einheimischen jedoch – an den jährlichen Ansturm gewöhnt – mit stoischer Ruhe hinnahmen. Ein paar warfen einen Blick die Treppe hinauf, um den Grund des Auflaufs zu erfahren, und gaben stillschweigend zu, dass die beiden dort oben wirklich ein umwerfendes Paar abgaben.
Der eine oder andere Tourist hatte sogar seine Kamera gezückt, und Milly, die die Aufmerksamkeit genoss, strahlte ihnen freudig entgegen und versuchte, sich das Bild vorzustellen, das sie und Allan boten. Ihre weißblonde Igelfrisur glühte in der Nachmittagssonne; der geliehene Schleier kratzte an ihrem Hals, die Nylonspitze ihres Kleides klebte feucht auf ihrer Haut. Und wann immer sie zu Allan – ihrem Ehemann – aufblickte, erfasste sie eine prickelnde Euphorie, die alle anderen Empfindungen auslöschte.
Erst drei Wochen zuvor war sie in Oxford eingetroffen. Die Schule war im Juli vorbei gewesen – und während all ihre Freundinnen sich nach Ibiza, Spanien und Amsterdam aufmachten, steckte man Milly in ein Sekretärinnencollege in Oxford. »Viel sinnvoller als irgend so ein alberner Urlaub«, hatte ihre Mutter energisch verkündet. »Und denk doch nur, was du dann den anderen gegenüber bei der Stellensuche für Vorteile hast.« Aber Milly wollte gar keine Vorteile vor den anderen. Sie wollte braun werden und einen Freund haben, sonst gar nichts.
Und so machte sie sich am zweiten Tag ihres Tippkurses nach dem Lunch aus dem Staub. Sie entdeckte einen billigen Friseur und ließ sich von ihm aus einer Laune heraus das Haar kurz schneiden und bleichen. Dann bummelte sie beschwingt und glücklich durch die sonnigen Straßen Oxfords, schaute hie und da in kühle Klöster und Kapellen, lugte in Innenhöfe und überlegte, wo sie sonnenbaden könnte. Es war purer Zufall, dass sie sich schließlich für eine Rasenfläche des Corpus Christi College entschied, dass Ruperts Räume direkt gegenüberlagen, dass er und Allan beschlossen hatten, sich diesen Nachmittag faul ins Gras zu legen und Pimm’s zu trinken.
Verstohlen hatte sie die beiden beobachtet, wie sie auf den Rasen schlenderten, mit ihren Gläsern anstießen, und starrte genauer hin, als einer von ihnen das Shirt auszog und einen gebräunten Oberkörper enthüllte. Sie hatte den Unterhaltungsfetzen gelauscht, die zu ihr herübergetragen wurden, und sich unvermittelt gewünscht, diese lässigen, gut aussehenden Männer zu kennen. Als der ältere der beiden sie ansprach, tat ihr Herz vor Aufregung einen Sprung.
»Haben Sie Feuer?« Eine gelassene Stimme, belustigt, amerikanisch.
»Ja«, stotterte sie und griff in ihre Hosentasche. »Ja, habe ich.«
»Wir sind leider furchtbar faul.« Der jüngere Mann erwiderte ihren Blick: schüchterner, zurückhaltender. »Ich habe ein Feuerzeug, gleich hinter diesem Fenster da.« Er deutete nach oben. »Aber bei der Hitze ist jeder Schritt zu viel.«
»Als Dank bekommen Sie ein Glas Pimm’s«, meinte der Amerikaner. Er streckte die Hand aus. »Allan.«
»Rupert.«
Den restlichen Nachmittag lümmelte sie mit ihnen auf dem Gras, tankte Sonne und Alkohol, flirtete und kicherte und brachte die beiden mit ihren Beschreibungen der Kolleginnen auf dem Sekretärinnencollege zum Lachen. In ihrer Magengrube spürte sie ein Kribbeln, das im Laufe des Nachmittags stärker wurde: ein sexueller Schauer, den das attraktive Äußere der beiden noch erhöhte. Rupert war geschmeidig und golden wie ein junger Löwe; sein Haar ein glänzend blonder Heiligenschein; die Zähne in dem glatten braunen Gesicht strahlend weiß. Allan hatte schon Fältchen, und das Haar an den Schläfen war ergraut, aber seine graugrünen Augen ließen ihr Herz höher schlagen, und seine Stimme liebkoste ihre Ohren wie Seide.
Als Rupert sich auf den Rücken rollte und zum Himmel fragte: »Sollen wir heute Abend essen gehen?«, dachte sie, er wolle mit ihr ausgehen. Sofort ergriff eine ungläubige Freude von ihr Besitz, auch wenn es ihr, wie sie sofort feststellte, lieber gewesen wäre, Allan hätte sie gefragt.
Gleich darauf rollte auch er sich auf den Rücken und sagte: »Unbedingt.« Und dann beugte er sich hinüber und küsste Rupert ungeniert auf den Mund.
Das Seltsame war, dass es Milly nach dem ersten Schock eigentlich nichts ausmachte. Es war fast besser so: Auf diese Weise hatte sie die beiden für sich. An jenem Abend ging sie mit ihnen ins San Antonio und weidete sich an den eifersüchtigen Blicken zweier anderer Sekretärinnen. Am nächsten Abend spielten sie auf einem alten Grammofon Jazzmusik und tranken Whisky mit Eis und frischer Minze. Die beiden zeigten ihr, wie man Joints drehte. Binnen einer Woche waren sie ein regelrechtes Dreiergespann.
Und dann hatte Allan sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle.
Ohne nachzudenken, hatte sie unverzüglich ja gesagt. In der Annahme, es sei ein Scherz, hatte er gelacht und zu einer längeren Erklärung über seine missliche Lage ausgeholt. Er sprach über Visa, von Schikanen des Innenministeriums, von überholten Systemen und Diskriminierungen gegen Schwule. Die ganze Zeit sah er sie dabei flehentlich an, als müsse sie für die Idee erst noch gewonnen werden. Aber Milly war schon gewonnen, erschauerte bereits erregt bei dem Gedanken, ein Brautkleid zu tragen, ein Blumenbouquet zu halten, etwas Aufregenderes zu tun als je zuvor in ihrem Leben. Erst als Allan stirnrunzelnd meinte: »Ich kann kaum glauben, dass ich jemanden bitte, für mich das Gesetz zu brechen!«, ging ihr die ganze Bedeutung seiner Bitte auf. Aber die kleinen Bedenken, die sie überkamen, waren nichts gegen die Hochstimmung, die sie erfüllte, als Allan den Arm um sie legte und ihr ins Ohr flüsterte: »Du bist ein Engel.« Milly hatte atemlos zurückgelächelt und gesagt: »Da ist doch nichts dabei«, und sie hatte es wirklich so gemeint.
Und nun waren sie verheiratet. Sie hatten das Ehegelübde heruntergerasselt: Allan in trockenem, überraschend ernstem Ton; Milly mit zittriger Stimme, nahe dran loszukichern. Dann hatten sie sich ins Register eingetragen. Allan zuerst, zügig und geübt; dann Milly, die für diese Gelegenheit eine Erwachsenenunterschrift versuchte. Und dann, überraschend schnell, war alles vorbei, und sie waren Mann und Frau. Allan hatte Milly ein kleines Lächeln geschenkt und sie wieder geküsst. Ihr Mund prickelte noch immer leicht von der Berührung; der vergoldete Ehering an ihrem Finger fühlte sich noch fremd an.
»Es reicht jetzt mit den Fotos«, meinte Allan plötzlich. »Wir wollen nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen.«
»Nur noch ein paar«, wandte Milly rasch ein. Es hatte sie viel Mühe gekostet, Allan und Rupert so weit zu bringen, dass sie sich für den Anlass ein Brautkleid ausleihen durfte; nun, da sie es trug, wollte sie den Augenblick möglichst lange auskosten. Sie rückte etwas näher an Allan heran, klammerte sich an seinen Arm, spürte seinen rauen Anzug an ihrer bloßen Haut. Unvermittelt zog ein sommerlicher Windstoß an ihrem Schleier und kühlte ihren Nacken. Ein altes Theaterprogramm wurde den trockenen, leeren Rinnstein entlanggeblasen; auf der anderen Straßenseite löste sich die Gruppe der Schaulustigen allmählich auf.
»Rupert!«, rief Allan. »Jetzt reicht’s mit der Knipserei!«
»Warte!«, bat Milly verzweifelt. »Was ist mit dem Konfetti?«
»Na, okay«, erwiderte Allan nachsichtig. »Ich schätze, um Millys Konfetti kommen wir nicht herum.«
Er langte in seine Tasche und warf eine bunte Handvoll in die Luft. Gleichzeitig wurde Millys Schleier wieder vom Wind erfasst, von der kleinen Plastiktiara in ihrem Haar gerissen und wie eine Rauchfahne in die Luft gewirbelt. Der Schleier landete auf dem Bürgersteig, zu Füßen eines dunkelhaarigen Jungen von ungefähr sechzehn Jahren, der sich bückte und ihn aufhob. Als hielte er irgendein seltsames Artefakt in den Händen, beäugte er den Schleier eingehend.
»He!«, rief Milly sofort. »Das ist meiner!« Und sie lief die Treppe hinunter auf ihn zu, eine Konfettispur im Schlepptau. »Der gehört mir«, wiederholte sie noch einmal deutlich, als sie sich dem Jungen näherte, weil sie dachte, er sei vielleicht ein ausländischer Student mit schlechten Englischkenntnissen.
»Ja«, erwiderte der Junge trocken. »Das dachte ich mir schon.«
Er reichte ihr den Schleier, und Milly lächelte ihn unsicher an, bereit, ein bisschen zu schäkern. Aber die Miene des Jungen veränderte sich nicht; in seinem Blick hinter der Nickelbrille erkannte sie so etwas wie Verachtung. Mit einem Mal kam sie sich in ihrem schlecht sitzenden Brautkleid aus Nylon und mit bloßem Kopf ein bisschen albern vor.
»Danke«, sagte sie und nahm den Schleier. Der Junge zuckte mit den Achseln.
»Nichts zu danken.«
Er beobachtete, wie sie, verunsichert von seinem Starren, den Schleier wieder befestigte.
»Gratulation«, setzte er hinzu.
»Wozu?«, fragte Milly, ohne nachzudenken.
»Eine glückliche Ehe!«, sagte der Junge mit unbewegter Stimme. Er nickte ihr zu und ging davon, bevor Milly noch etwas erwidern konnte.
»Wer war das?«, erkundigte sich Allan, der plötzlich neben ihr auftauchte.
»Keine Ahnung«, sagte Milly. »Er hat uns eine glückliche Ehe gewünscht.«
»Eine glückliche Scheidung wohl eher«, meinte Rupert, der Allans Hand umklammerte. Milly sah ihn an. Sein Gesicht leuchtete; er wirkte schöner denn je.
»Milly. Ich bin dir sehr dankbar«, sagte Allan. »Wir beide sind es.«
»Keine Ursache«, sagte Milly. »Es hat Spaß gemacht, ehrlich!«
»Na, trotzdem. Wir haben hier eine Kleinigkeit für dich.« Nach einem Blick zu Rupert griff Allan in seine Tasche und reichte Milly eine kleine Schachtel. »Süßwasserperlen«, erklärte er, während sie die Schachtel öffnete. »Wir hoffen, sie gefallen dir.«
»Oh, und wie!« Milly blickte strahlend von einem zum anderen. »Das wäre aber doch nicht nötig gewesen!«
»Wir wollten es aber«, erwiderte Allan ernst. »Als Dank dafür, dass du eine tolle Freundin bist – und eine perfekte Braut.« Er befestigte die Kette um Millys Hals, und sie errötete vor Freude. »Du siehst schön aus«, sagte er leise. »Die schönste Ehefrau, die sich ein Mann erhoffen kann.«
»Tja«, sagte Rupert, »und wie wär’s jetzt mit etwas Champagner?«
Den Rest des Tages verbrachten sie damit, auf dem Cherwell Stechkahn zu fahren, erlesenen Champagner zu trinken und extravagante Trinksprüche aufeinander auszubringen. In den folgenden Tagen verbrachte Milly jede freie Minute mit Rupert und Allan. An den Wochenenden fuhren sie aufs Land und veranstalteten verschwenderische Picknicks auf karierten Decken. Sie besuchten den Blenheim Palace, und Milly bestand darauf, im Gästebuch mit Mr. und Mrs. Allan Kepinski zu unterschreiben. Drei Wochen später, als ihre Zeit im Sekretärinnencollege um war, reservierten Allan und Rupert im Randolph einen Tisch und ließen Milly drei Gänge bestellen, ohne dass sie sich die Preise anschauen durfte.
Am nächsten Tag brachte Allan sie zum Bahnhof, half ihr beim Verstauen des Gepäcks und trocknete ihre Tränen mit einem seidenen Taschentuch. Er küsste sie zum Abschied, versprach zu schreiben und sagte, sie würden sich bald in London treffen.
Milly sah ihn niemals wieder.