7. Kapitel


Am nächsten Morgen warteten Milly und Isobel, bis ein paar Gäste in die Küche hinunterkamen, und stahlen sich dann davon, ehe Olivia ihnen unliebsame Fragen stellen konnte.

»Okay«, sagte Isobel, als sie beim Auto waren. »Ich glaube, um halb neun geht ein Schnellzug nach London. Den solltest du erwischen.«

»Was ist, wenn er etwas sagt?«, meinte Milly und blickte zu Alexanders zugezogenem Fenster hinauf. »Was, wenn er es Simon erzählt, während ich fort bin?«

»Das wird er schon nicht«, erwiderte Isobel bestimmt. »Simon arbeitet doch den ganzen Vormittag, oder? Alexander wird gar nicht an ihn rankommen. Und bis dahin bist du immerhin schon schlauer.« Sie öffnete die Autotür. »Komm, steig ein.«

»Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan«, sagte Milly, während Isobel den Motor anließ. »So nervös war ich.« Sie wand eine Haarsträhne fest um ihren Finger und ließ sie dann wieder los. »Zehn Jahre hab ich gedacht, ich bin verheiratet. Und nun … bin ich’s vielleicht gar nicht!«

»Milly, das weißt du noch nicht«, wandte Isobel ein.

»Schon klar«, sagte Milly. »Aber einleuchtend wär’s doch, oder? Warum sollte Allan das Scheidungsverfahren einleiten und es dann nicht durchziehen? Natürlich würde er alles durchziehen!«

»Vielleicht.«

»Sei nicht so pessimistisch, Isobel! Schließlich warst du es doch, die gesagt hat …«

»Das weiß ich. Und ich hoffe wirklich, du bist geschieden.« Sie warf Milly einen Blick zu. »Aber feiern würde ich erst, wenn ich es mit Bestimmtheit wüsste.«

»Ich feiere nicht«, entgegnete Milly. »Noch nicht. Ich mache mir nur … Hoffnungen.«

An der Ampel hielten sie und beobachteten, wie ein langer Zug von Kindern, allesamt in roten Dufflecoats, die Straße überquerte.

»Wenn sich dein reizender Freund Rupert natürlich die Mühe gemacht hätte zurückzurufen, dann hättest du mit Allan längst in Verbindung treten können«, sagte Isobel. »Dann wüsstest du schon, was Sache ist.«

»Ja, nicht?«, meinte Milly. »Mistkerl! Mich einfach so zu ignorieren! Er muss doch wissen, dass ich in Schwierigkeiten stecken muss! Wieso würde ich ihn sonst anrufen?« Ihre Stimme hob sich ungläubig. »Wie kann man bloß so egoistisch sein?«

»Die meisten Menschen sind egoistisch«, erklärte Isobel. »Verlass dich darauf.«

»Und wie kommt’s, dass er plötzlich eine Frau hat?«

Isobel zuckte die Achseln.

»Na bitte, da hast du die Antwort. Deswegen hat er nicht zurückgerufen.«

Milly malte auf das angelaufene Seitenfenster einen Kreis und blickte hinaus. Pendler eilten die Bürgersteige entlang und zertraten den frischen Morgenschnee zu Matsch, warfen im Vorbeigehen Blicke auf grellfarbene Sonderangebotsschilder in Schaufenstern geschlossener Läden.

»Tja, was wirst du also tun?«, fragte Isobel unvermittelt. »Wenn du herausfindest, dass du geschieden bist?«

»Wie meinst du das?«

»Wirst du es Simon erzählen?«

Schweigen.

»Ich weiß nicht«, sagte Milly schließlich bedächtig. »Vielleicht ist es nicht nötig.«

»Aber, Milly …«

»Ich weiß, dass ich es ihm eigentlich hätte sagen sollen«, fiel Milly ihr ins Wort. »Schon vor Monaten hätte ich es ihm erzählen und dann alles ins Reine bringen sollen.« Sie machte eine Pause. »Aber das habe ich nun mal nicht. Und daran ist nichts mehr zu ändern. Dafür ist es zu spät.«

»Na und? Du könntest es ihm doch jetzt erzählen.«

»Aber jetzt ist alles anders! In drei Tagen findet unsere Hochzeit statt. Alles ist perfekt. Warum das alles … damit kaputtmachen?«

Isobel schwieg, und Milly sah sie trotzig an. »Du meinst wohl, ich sollte es ihm auf jeden Fall sagen? Du denkst wohl, man kann vor jemandem, den man liebt, keine Geheimnisse haben?«

»Nein«, erwiderte Isobel, »tue ich nicht.« Milly schaute sie überrascht an. Isobel hatte den Blick abgewandt, sie hielt das Steuer fest umklammert. »Man kann locker jemanden lieben und etwas vor ihm geheim halten.«

»Aber …«

»Wenn es etwas ist, was ihn unnötig belasten würde. Wenn es etwas ist, das er nicht zu wissen braucht.« Isobels Stimme wurde etwas barscher. »Manches behält man am besten für sich.«

»Wie zum Beispiel?« Milly sah Isobel erstaunt an. »Wovon sprichst du?«

»Von nichts.«

»Hast du etwa ein Geheimnis?«

Isobel schwieg. Eine Weile starrte Milly ihre Schwester prüfend an, versuchte, ihren Ausdruck zu deuten. Dann kam es ihr plötzlich. Wie ein Blitz traf sie die entsetzliche Erkenntnis.

»Du bist krank, stimmt’s?«, fragte sie mit zittriger Stimme. »Herrgott, jetzt wird mir alles klar! Deshalb bist du so blass. Du leidest an irgendetwas Schrecklichem – und willst es uns bloß nicht sagen!« Millys Stimme hob sich. »Du glaubst, es ist das Beste, es uns zu verschweigen! Was, bis du stirbst

»Milly!«, rief Isobel mit schneidender Stimme. »Ich sterbe nicht. Und ich bin nicht krank!«

»Aber was hast du dann für ein Geheimnis?«

»Ich habe nie behauptet, eines zu haben. Das war reine Theorie.« Isobel bog auf den Bahnhofsparkplatz ein. »So, da wären wir.« Sie machte die Wagentür auf und stieg ohne einen Blick zu ihrer Schwester aus.

Widerwillig folgte ihr Milly. Als sie in die Bahnhofshalle gelangten, fuhr ein Zug von einem der Bahnsteige ab, und ein Schwarm angekommener Reisender tauchte auf. Unbekümmerte, glückliche Menschen mit Taschen, die ihren Freunden zuwinkten. Menschen, die das Wort »Hochzeit« mit Glück und Feiern verbanden.

»O Gott«, sagte sie, als sie Isobel eingeholt hatte. »Ich möchte nicht fahren. Ich möchte es nicht herausfinden. Ich möchte es vergessen.«

»Du musst fahren. Du hast gar keine andere Wahl.« Plötzlich verfärbte sich Isobels Gesicht. »Kauf dir schon mal deine Fahrkarte«, sagte sie keuchend. »Bin gleich zurück.« Und zu Millys Erstaunen rannte sie in Richtung Damentoilette. Milly starrte ihr eine Weile nach, dann wandte sie sich um.

»Einmal nach London und zurück, bitte«, bat sie die Frau am Schalter. Was in aller Welt war mit Isobel los? Sie war nicht krank, aber es war auch nicht alles normal. Schwanger sein konnte sie nicht – sie hatte keinen Freund.

»Gut«, meinte Isobel, als sie wieder an Millys Seite erschien. »Hast du alles?«

»Du bist schwanger!«, zischte Milly. »Stimmt’s?« Isobel wich zurück. Sie sah aus, als hätte Milly ihr eine Ohrfeige versetzt.

»Nein«, sagte sie.

»Ach, komm, bist du doch. Das ist doch offensichtlich!«

»Der Zug fährt in einer Minute ab«, sagte Isobel mit dem Blick auf ihre Uhr. »Du verpasst ihn noch.«

»Du bist schwanger, und du hast mir nichts davon erzählt! Verdammt, Isobel, du hättest es mir erzählen müssen. Ich werde Tante!«

»Nein«, versetzte Isobel knapp. »Wirst du nicht.«

Milly schaute sie verständnislos an. Dann begriff sie schlagartig, was Isobel damit meinte.

»Nein! Das kannst du nicht tun! Das kannst du nicht! Isobel, das ist doch nicht dein Ernst?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht, okay?« Isobels Stimme hob sich gefährlich. Sie machte ein paar Schritte auf Milly zu, rang die Hände und ging dann wieder ein paar Schritte zurück, wie ein Tier im Käfig.

»Isobel …«

»Du musst zu deinem Zug«, sagte Isobel. »Ab mit dir.« Sie sah Milly mit glänzenden Augen an. »Na, los!«

»Ich nehme einen späteren«, erwiderte Milly.

»Nein. Die Zeit hast du nicht. Jetzt geh schon!«

Ein paar Sekunden blickte Milly ihre Schwester wortlos an. Noch nie hatte sie Isobel verletzlich wirken sehen; es bereitete ihr Unbehagen.

»Okay«, sagte sie. »Ich gehe.«

»Viel Glück!«, wünschte ihr Isobel.

»Und wir sprechen da… darüber – wenn ich zurückkomme.«

»Vielleicht«, sagte Isobel. Als Milly sich nach ein paar Schritten noch einmal umsah, war sie bereits verschwunden.

Bei Isobels Rückkehr wartete Olivia schon in der Küche auf sie.

»Wo ist Milly?«

»Sie ist für einen Tag nach London gefahren.«

»Nach London? Warum das denn?«

»Um ein Geschenk für Simon zu besorgen.« Isobel griff nach der Keksdose. Olivia starrte sie an.

»Wie bitte? Und fährt deshalb bis nach London? Als ob sie in Bath nicht auch was Schönes für ihn bekäme!«

»Ihr war halt danach, nach London zu fahren«, entgegnete Isobel und riss eine Kekspackung auf. »Ist das denn wichtig?«

»Ja«, meinte Olivia verärgert. »Natürlich ist das wichtig! Weißt du, was für einen Tag wir heute haben?«

»Ja.« Isobel biss mit Genuss in einen Keks. »Donnerstag.«

»Genau. Nur noch zwei Tage! Ich habe tausend Dinge zu erledigen, und Milly sollte mir eigentlich dabei helfen. So was Gedankenloses!«

»Gönn ihr die Entspannung doch!«, meinte Isobel. »Ihr geht jetzt bestimmt viel im Kopf herum.«

»Mir auch, Schatz! Ich muss noch zusätzliche Gottesdienstprogramme organisieren, noch mal alle Stationen der Feier überprüfen – und zu allem Überfluss ist gerade das Zelt eingetroffen. Wer sieht es sich mit mir an?«

Schweigen.

»Oh, Gott«, sagte Isobel schließlich und stopfte sich noch einen Keks in den Mund. »Ich komm ja schon.«

Simon und Harry gingen die Parham Place entlang – eine breite Straße, elegant und teuer, und zu dieser Tageszeit belebt, da ihre Bewohner, allesamt in gehobenen Positionen, sich zur Arbeit aufmachten. Eine hübsche Brünette, die gerade in ihr Auto einstieg, lächelte Simon zu; drei Türen weiter saß ein Trupp Bauarbeiter auf der Eingangstreppe und trank dampfenden Tee.

»Da wären wir.« Harry blieb bei einer Steintreppe stehen, die zu einer glänzend blauen Tür hinaufführte. »Hast du die Schlüssel?«

Wortlos erklomm Simon die Treppe und steckte den Schlüssel ins Schloss. Er betrat eine geräumige Halle und öffnete zu seiner Linken eine weitere Tür.

»Na, komm«, sagte Harry. »Rein mit dir.«

Beim Eintreten erinnerte sich Simon sofort daran, warum Milly und er sich in die Wohnung verliebt hatten. Er war umgeben von viel freiem Raum, von weißen Wänden, hohen Decken und riesigen Parkettflächen. Nichts, was sie sonst noch angeschaut hatten, war auch nur annähernd daran herangekommen. Und nichts war so sündhaft teuer gewesen.

»Gefällt sie dir?«, wollte Harry wissen.

»Sie ist toll.« Simon schlenderte zu einem Kamin und fuhr mit der Hand darüber. »Sie ist toll«, wiederholte er. Mehr traute er sich nicht zu sagen. Die Wohnung war mehr als toll. Sie war schön, vollkommen. Milly wäre völlig hingerissen. Doch als er so dastand und sich umsah, verspürte er lediglich einen Stich in der Brust.

»Nette hohe Wände«, meinte Harry. Er öffnete einen leeren, vertäfelten Schrank, blickte hinein und schloss ihn wieder. Als er zum Fenster schlenderte, echoten seine Schritte auf dem bloßen Boden. »Nette Holzläden.« Er klopfte prüfend auf einen.

»Die Läden sind toll«, sagte Simon. Alles war toll. Er konnte keinen einzigen Makel entdecken.

»Du wirst dir anständiges Mobiliar anschaffen müssen.« Harry sah Simon an. »Brauchst du dabei Hilfe?«

»Nein«, erwiderte Simon. »Danke.«

»Na, ich hoffe jedenfalls, dass sie dir gefällt.« Harry zuckte leicht mit den Achseln.

»Die Wohnung ist wunderschön«, sagte Simon steif. »Milly wird begeistert sein.«

»Gut«, meinte Harry. »Wo steckt sie denn heute?«

»In London. Auf irgendeiner geheimnisvollen Mission. Ich glaube, sie kauft ein Geschenk für mich.«

»All diese Geschenke«, frotzelte Harry. »Ihr werdet ja richtig verzogen.«

»Wenn’s dir recht ist, komme ich heute Abend noch mal mit Milly her und zeige ihr die Wohnung.«

»Es ist deine Wohnung. Tu, was immer du magst.«

Sie schlenderten aus dem Wohnzimmer in einen lichten, breiten Korridor. Das größte Schlafzimmer überblickte den Garten: Türhohe Fenster öffneten sich zu einem kleinen schmiedeeisernen Balkon.

»Mehr als zwei Schlafzimmer braucht ihr nicht.« In seiner Stimme schwang ein kleines Fragezeichen mit. »Ihr denkt doch sicher nicht gleich an Kinder?«

»O nein. Dafür ist noch eine Menge Zeit. Milly ist erst achtundzwanzig.«

»Trotzdem …« Harry drückte auf einen Lichtschalter an der Tür, und an der Decke erstrahlte eine nackte Glühbirne. »Ihr werdet Lampenschirme brauchen. Oder was immer.«

»Ja«, sagte Simon. Er sah seinen Vater an. »Wieso? Meinst du, wir sollten gleich Kinder bekommen?«

»Nein«, erwiderte Harry mit Nachdruck. »Bloß nicht.«

»Wirklich nicht? Aber bei dir war’s doch so.«

»Eben. Das war ja unser Fehler.«

Simon versteifte sich.

»Ich war ein Fehler, ja?«, sagte er. »Ein Versehen?«

»So habe ich das nicht gemeint, und das weißt du auch«, versetzte Harry gereizt. »Sei doch nicht immer eine solch verdammte Mimose!«

»Was erwartest du, wenn du mir gerade erzählst, dass ich unerwünscht war?«

»Natürlich warst du erwünscht!« Harry machte eine Pause. »Der Zeitpunkt hätte halt günstiger liegen können.«

»Tja, tut mir leid, wenn ich ungelegen gekommen bin«, erwiderte Simon zornig. »Aber eine Wahl über den Zeitpunkt meines Kommens hatte ich ja nicht. Die Entscheidung lag nicht direkt bei mir, oder?« Harry zuckte zusammen.

»Hör mal, Simon. Ich meinte doch bloß …«

»Ich weiß, was du gemeint hast!«, versetzte Simon und ging zum Fenster. Er starrte in den verschneiten Garten hinaus und versuchte, seine Stimme zu mäßigen. »Ich war eine Last, stimmt’s? Und das bin ich noch immer.«

»Simon …«

»So, jetzt hör zu, Dad. Ich werde dir nicht länger zur Last fallen, okay?« Simon wirbelte mit bebendem Gesicht herum. »Aber deine Wohnung kannst du behalten, herzlichen Dank. Milly und ich werden uns selbst was suchen.« Er warf die Schlüssel auf den Boden und eilte zur Tür.

»Simon!«, rief Harry wütend. »Sei doch nicht so dumm!«

»Tut mir leid, dass ich dir all die Jahre im Weg war«, sagte Simon an der Tür. »Aber nach Samstag bin ich fort. Du brauchst mich nie wieder zu sehen. Das könnte für beide Teile eine Erleichterung sein.«

Er schlug die Tür zu und ließ Harry allein zurück, der auf die im winterlichen Sonnenlicht blinkenden Schlüssel starrte.

Die Family Registry war groß, hell und mit einem weichen, grünen Teppich ausgelegt. In modernen Buchenholzregalen waren Unmengen von Registerbänden untergebracht, unterteilt in Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle. Bei den Eheschließungen, zu denen Milly sich beklommen begab, war bei weitem am meisten los. Leute wuselten herum, holten sich Bände aus den Regalen heraus oder steckten sie wieder hinein, machten sich Notizen und sprachen leise miteinander. An der Wand hing ein Anschlag mit der Überschrift WIR HELFEN IHNEN, IHREN STAMMBAUM ZURÜCKZUVERFOLGEN. Zwei Damen mittleren Alters waren in einen Band aus dem 19. Jahrhundert vertieft. »Charles Forsyth!«, rief eine davon aus. »Aber ob das auch unser Charles Forsyth ist?« Niemand hier machte einen besorgten oder schuldbewussten Eindruck. Alle anderen, dachte Milly, verbrachten hier einen angenehmen Vormittag.

Mit gesenktem Blick steuerte sie auf die Registerbände jüngeren Datums zu und zog den betreffenden heraus. Einen Augenblick konnte sie ihren Namen nicht finden, und sie wurde von einer lächerlichen Hoffnung erfüllt. Aber dann sprang er ihr unvermittelt entgegen. HAVILL, MELISSA G – KEPINSKI. OXFORD.

Milly rutschte das Herz in die Hose. Unwillkürlich hatte sie sich der Hoffnung hingegeben, ihre Eheschließung mit Allan sei vielleicht durch die rechtlichen Maschen geschlüpft. Aber da war sie, schwarz auf weiß, für jeden nachlesbar. Ein paar gedankenlose Minuten in einem Standesamt in Oxford hatten zu diesem bleibenden Beweisstück geführt: ein unauslöschbarer Eintrag, der nie, niemals mehr verschwinden würde. Sie starrte auf die Seite nieder, konnte den Blick nicht davon losreißen, bis die Worte vor ihren Augen zu tanzen anfingen.

»Wissen Sie, Sie können eine Bescheinigung erhalten.« Eine fröhliche Stimme erschreckte sie, und sie fuhr vor Angst auf und bedeckte ihren Namen mit der Hand. Ein freundlicher junger Mann mit einem Namensschild an der Brust stand vor ihr. »Wir stellen Hochzeitsurkunden zur Verfügung. Sie können sie auch rahmen lassen. Ein äußerst schönes Geschenk.«

»Nein danke«, sagte Milly. Bei der Vorstellung hätte sie am liebsten hysterisch losgelacht. »Nein danke.« Sie schlug das Buch zu, als könne sie dem Eintrag damit den Garaus machen. »Eigentlich wollte ich ins Scheidungsregister schauen.«

»Dann sind Sie hier aber an der falschen Adresse!« Der junge Mann grinste sie an, belustigt über ihre Unkenntnis. »Da müssen Sie ins Somerset House.«

Noch nie hatte Isobel ein so großes Zelt gesehen. Es blähte sich prachtvoll im Wind, ein riesiger weißer Pilz, der die parkenden Autos und Transporter daneben winzig erscheinen ließ.

»Ach, herrje!«, sagte sie. »Das kostet doch sicher ein Vermögen!« Olivia zuckte zusammen.

»Still, Schatz!«, mahnte sie. »Es könnte dich jemand hören.«

»Die wissen doch aber bestimmt alle, wie viel es kostet.« Isobel starrte auf den Strom junger Männer und Frauen, die ins Zelt hinein und wieder hinaus gingen, viele davon trugen Kisten, Kabel oder Holzplanken.

»Dort drüben kommt ein überdachter Gang hin, der das Zelt mit dem rückwärtigen Teil von Pinnacle Hall verbindet«, erklärte Olivia gestikulierend. »Und Garderoben.«

»Herrje«, sagte Isobel erneut. »Das sieht ja wie ein Zirkus aus.«

»Na ja, weißt du, wir hatten wirklich an einen Elefanten gedacht«, gestand Olivia. Isobel glotzte sie an.

»An einen Elefanten?«

»Um das glückliche Paar davonzutragen.«

»Auf einem Elefanten kämen sie nicht weit«, wandte Isobel ein und fing zu lachen an.

»Stattdessen übernimmt das jetzt ein Helikopter«, sagte Olivia. »Aber verrat’s Milly nicht. Soll eine Überraschung werden.«

»Wow! Ein Helikopter!«

»Bist du schon mal in einem geflogen?«

»Ja«, erwiderte Isobel. »Ein paarmal schon. Eigentlich ist es ziemlich nervenaufreibend.«

»Ich noch nie«, sagte Olivia. »Nicht ein einziges Mal.« Sie seufzte leise, und Isobel kicherte.

»Möchtest du nicht an Millys statt fliegen? Bestimmt hätte Simon nichts dagegen.«

»Sei nicht albern«, wies Olivia sie zurecht. »Komm, lass uns reinschauen.«

Sie bahnten sich ihren Weg über den verschneiten Boden zum Zelt und lüpften eine Bahn.

»Oh, Mann!«, sagte Isobel bedächtig. »Von innen wirkt’s ja noch gigantischer.« Beide sahen sich in dem riesigen Raum um. Überall waren Leute, trugen Stühle, installierten Heizgeräte, brachten Lampen an.

»So groß ist es gar nicht«, meinte Olivia unsicher. »Wenn die Stühle und Tische erst mal alle drin sind, wird’s recht gemütlich sein.« Sie hielt inne. »Na ja, vielleicht nicht direkt gemütlich …«

»Tja, Hut ab vor Harry!«, sagte Isobel. »So was hat’s noch nicht gegeben!«

»Wir haben auch dazu beigetragen!«, rief Olivia ärgerlich. »Mehr, als dir vielleicht klar ist. Und überhaupt, Harry kann es sich leisten.«

»Keine Frage.«

»Er mag Milly sehr gern, weißt du.«

»Ich weiß«, sagte Isobel. »Mann o Mann …« Sie sah sich um und biss sich auf die Lippen.

»Was?«, fragte Olivia argwöhnisch.

»Oh, ich weiß nicht. Die ganzen Vorbereitungen, das viele Geld. Alles für einen Tag.«

»Was stört dich daran?«

»Nichts. Ich bin mir sicher, es wird sehr schön.«

Olivia starrte sie an. »Isobel, was ist los mit dir? Du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf Milly, oder?«

»Wahrscheinlich«, entgegnete Isobel leichthin.

»Du könntest doch auch heiraten, weißt du! Aber du hast dich ja anders entschieden.«

»Ich bin noch nie gefragt worden«, sagte Isobel.

»Das ist nicht der Punkt!«

»Doch«, entgegnete Isobel, »ich glaube, genau das ist er.« Und zu ihrem Entsetzen spürte sie, wie ihr die Tränen kamen. Warum, zum Teufel, weinte sie? Bevor ihre Mutter noch etwas sagen konnte, wandte sie sich ab und marschierte aufs andere Zeltende zu. Olivia eilte nichts ahnend hinter ihr her.

»Hier kommt das Essen hin«, erklärte sie aufgeregt. »Und dort die Schwäne.«

»Die Schwäne?« Isobel drehte sich zu ihr um.

»Ja, Schwäne aus Eis«, erklärte Olivia. »Und jeder davon wird mit Austern gefüllt sein.«

»Nein!« Isobel brach in Gelächter aus. »Wer hatte denn die Idee?«

»Harry«, verteidigte sich Olivia. »Was gibt’s daran auszusetzen?«

»Nichts. Bloß dass es das Geschmackloseste ist, was ich je gehört habe!«

»Genau das habe ich auch gesagt«, sagte Olivia eifrig. »Aber Harry hielt dagegen, Hochzeiten seien ohnehin geschmacklos, es brächte also gar nichts, Geschmack beweisen zu wollen. Also beschlossen wir, alles auf eine Karte zu setzen!«

»Und wenn er all seine Gäste mit Austern bewirtet hat, ist er pleite.«

»Von wegen! Red nicht so daher, Isobel.«

»Schon gut«, besänftigte sie Isobel. »Ehrlich, die Hochzeit wird bestimmt wunderschön.« Sie sah sich um und fragte sich zum hundertsten Mal an diesem Tag, wie Milly wohl vorankam. »Für Milly wird es der schönste Tag ihres Lebens.«

»Dabei verdient sie das gar nicht«, meinte Olivia verärgert. »Fährt einfach so nach London. Und das zwei Tage vor der Trauung! Zwei Tage!«

»Ich weiß.« Isobel biss sich auf die Lippen. »Und glaub mir, Milly weiß das auch.«

Als Milly The Strand erreichte, schien bereits die Wintersonne, und es keimte vorsichtiger Optimismus in ihr auf. In wenigen Minuten wüsste sie Bescheid, so oder so. Und mit einem Mal hatte sie das sichere Gefühl, die Antwort zu kennen. Die Last, die sie die letzten Jahre gedrückt hatte, würde von ihr genommen. Endlich wäre sie frei.

Sie bummelte die Straße entlang, spürte eine Brise durch ihr Haar fahren, genoss die Sonne im Gesicht.

»Entschuldigen Sie.« Eine junge Frau tippte ihr auf die Schulter. Milly drehte sich um. »Ich arbeite für einen Salon in Covent Garden. Wir suchen Haarmodelle.« Sie lächelte Milly an. »Hätten Sie Lust?«

Liebend gern hätte Milly sich zur Verfügung gestellt.

»Tut mir leid«, sagte sie bedauernd, »aber ich stehe etwas unter Zeitdruck.« Sie hielt inne, und ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich heirate nämlich am Samstag.«

»Ach!«, rief das Mädchen. »Wirklich? Herzlichen Glückwunsch! Sie werden eine bezaubernde Braut abgeben.«

»Danke.« Milly errötete. »Schade, dass es nicht geht. Aber ich muss noch etwas erledigen.«

»Schon gut.« Das Mädchen verdrehte mitfühlend die Augen. »Ich weiß, wie das ist! All die Kleinigkeiten, die man immer bis zuletzt aufschiebt!«

»Genau«, gab Milly ihr recht und ging weiter. »Nur ein paar Kleinigkeiten.«

Als sie das Somerset House betreten und die gesuchte Abteilung schließlich gefunden hatte, hoben sich ihre Lebensgeister noch mehr. Der für die Scheidungsurteile zuständige Mann war rund und fröhlich, mit glitzernden Augen und einem schnellen Computer.

»Sie haben Glück«, sagte er, während er ihre Daten eintippte. »Seit einigen Jahren sind alle Daten im Computer erfasst. Frühere Einträge hätten wir per Hand suchen müssen.« Er blinzelte ihr zu. »Aber in diesen Jahren wären Sie ja gerade mal ein Baby gewesen. Nun, haben Sie noch einen Moment Geduld, meine Liebe …«

Milly strahlte zurück. Sie plante bereits, was sie tun würde, wenn sie die Scheidungsbestätigung erhalten hätte. Sie würde ein Taxi zu Harvey Nichols nehmen, sich schnurstracks in den fünften Stock begeben und sich einen Sekt genehmigen. Und dann würde sie Isobel anrufen. Und dann würde sie …

Der Piepston des Computers unterbrach sie in ihren Gedanken. Der Mann spähte auf den Bildschirm, dann sah er auf.

»Nein«, sagte er überrascht. »Nichts gefunden.«

Milly wurde flau im Magen.

»Was?«, sagte sie. Ihre Lippen fühlten sich plötzlich trocken an. »Wie meinen Sie das?«

»Kein rechtskräftiges Urteil aufgelistet«, sagte der Mann und tippte erneut etwas ein. Wieder piepte der Computer, und der Mann runzelte die Stirn. »Nicht in dieser Zeitspanne und für diese Namen.«

»Aber es muss«, sagte Milly. »Es muss

»Ich habe es zweimal versucht«, sagte der Mann. Er sah auf. »Haben Sie die Namen auch sicher richtig buchstabiert?«

Milly schluckte.

»Ziemlich sicher.«

»Und Sie sind sich sicher, der Antragsteller hat sich um ein rechtskräftiges Scheidungsurteil bemüht?« Milly blickte ihn benommen an. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

»Nein«, antwortete sie. »Das bin ich mir nicht.« Der Mann nickte fröhlich.

»Sechs Wochen, nachdem ein vorläufiges Scheidungsurteil vorliegt, muss der Scheidungskläger ein rechtskräftiges beantragen.«

»Ja«, sagte Milly. »Ich verstehe.«

»Ein vorläufiges Scheidungsurteil liegt aber schon vor, oder, meine Liebe?«

Milly sah verständnislos auf und erwiderte den Blick des Mannes, der sie mit unvermittelter Neugierde betrachtete. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun.

»Ja«, erwiderte sie rasch, ehe er weitere Fragen stellen konnte. »Natürlich. Es war alles in Ordnung. Ich … ich gehe zurück und prüfe, was da passiert ist.«

»Wenn Sie eine Rechtsberatung benötigen sollten …«

»Nein danke«, sagte Milly und entfernte sich. »Sie waren sehr freundlich. Herzlichen Dank.«

Als sie sich umwandte und nach der Türklinke griff, rief er sie noch mal zurück. »Mrs. Kepinski?«

Mit bleichem Gesicht wirbelte sie herum.

»Oder ist es jetzt Ms. Havill?«, erkundigte sich der Mann lächelnd. Er kam um den Tresen herum. »Hier ist eine Broschüre, die das ganze Verfahren erklärt.«

»Danke«, sagte Milly verzweifelt. »Sehr liebenswürdig.«

Sie schenkte ihm ein weiteres allzu strahlendes Lächeln, steckte die Broschüre ein und verließ mit einem dicken Kloß im Hals den Raum. Sie hatte die ganze Zeit über recht gehabt. Allan war ein egoistisches, skrupelloses Schwein, das sie einfach im Stich gelassen hatte.

Sie trat auf die Straße, voller Panik, die sich immer mehr in ihr breitmachte. Sie war wieder da, wo sie angefangen hatte – aber ihr erschien ihre Lage nun unendlich viel schlimmer, unendlich viel auswegsloser. Plötzlich sah sie Alexander mit boshaft funkelndem Lächeln vor sich, dem Grinsen eines Geiers gleich. Und Simon, der nichts ahnend in Bath wartete. Allein der Gedanke an die beiden in der gleichen Stadt verursachte ihr Übelkeit. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?

Das Schild eines Pubs erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie ging automatisch hinein, steuerte direkt auf die Bar zu und bestellte einen Gin Tonic. Als der ausgetrunken war, bestellte sie einen neuen und dann noch einen. Allmählich zeigte der Alkohol seine Wirkung, sie wurde ruhiger, und ihre Beine hörten zu zittern auf. Hier, in dieser warmen Bieratmosphäre, war sie anonym, weit entfernt von der Realität. Sie konnte alles aus dem Gedächtnis streichen, bis auf den Geschmack des Gins und der Nüsse, die an der Bar in kleinen Metallschüsseln angeboten wurden.

Eine halbe Stunde stand sie einfach nur da, ohne sich um die Menschen um sie herum zu kümmern, Frauen, die ihr neugierige Blicke zuwarfen, Männer, die versuchten, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: Sie ignorierte sie allesamt. Als sich ein leises Hunger- und Übelkeitsgefühl einstellte, schob sie ihr Glas weg, nahm ihre Tasche und verließ den Pub. Leicht schwankend stand sie auf der Straße und fragte sich, wohin nun. Es war Mittagszeit, und auf dem Bürgersteig wimmelte es von Leuten, die vorbeieilten, Taxis herbeiwinkten, in Geschäfte, Pubs und Sandwich-Bars einfielen. In der Ferne erklang Glockengeläut, und ihr schossen Tränen in die Augen. Was sollte sie bloß tun? Lieber gar nicht dran denken.

Sie starrte auf die Menschenmassen und wünschte sich von ganzem Herzen, sie wäre eine von ihnen. Gern wäre sie das fröhlich wirkende Mädchen gewesen, das ein Croissant aß, oder jene gelassene Dame, die in den Bus stieg, oder …

Plötzlich erstarrte Milly. Sie blinzelte ein paarmal, wischte sich die Tränen fort und schaute erneut. Aber das Gesicht, das sie entdeckt hatte, war bereits verschwunden, verschluckt von der wogenden Menschenmenge. Voller Panik eilte sie vorwärts und spähte um sich herum. Einige Augenblicke sah sie nichts als Fremde, Mädchen in bunten Mänteln, Männer in dunklen Anzügen, Anwälte, die noch immer ihre Perücken trugen. Sie drängten sich an ihr vorbei, und sie bahnte sich ungeduldig ihren Weg hindurch. Fieberhaft sagte sie sich, sie müsse sich geirrt haben. Sie müsse jemand anderen gesehen haben. Aber dann setzte ihr Herz einen Schlag aus. Dort war er wieder, ging auf der anderen Straßenseite und unterhielt sich mit einem Mann. Er wirkte älter, als sie ihn in Erinnerung hatte, und dicker. Aber er war es eindeutig: Rupert.

Bei seinem Anblick erfasste Milly eine Woge glühenden Hasses. Wie konnte er es wagen, so glücklich und gelöst durch die Straßen Londons zu schlendern? Wie konnte er es wagen, nicht zu wissen, was sie alles durchmachte? Seinetwegen war ihr Leben in Auflösung begriffen. Seinet- und Allans wegen. Und er hatte keine Ahnung davon.

Mit hämmerndem Herzen begann sie, auf ihn zuzulaufen, überquerte die Straße, ohne sich um das Hupen ärgerlicher Taxifahrer und die neugierigen Blicke der Passanten zu kümmern. Binnen kurzem hatte sie die beiden Männer eingeholt. Sie schritt hinter ihnen einher, starrte einen Augenblick voller Abscheu auf Ruperts goldenen Kopf und stieß ihn dann fest in den Rücken.

»Rupert«, sagte sie. »Rupert!« Er drehte sich um und sah sie mit freundlichen Augen an, ohne sie zu erkennen.

»Verzeihung«, sagte er. »Kenne ich …«

»Ich bin’s«, sagte Milly so kalt und bitter wie möglich. »Ich bin’s. Milly. Aus Oxford.«

»Was?« Aus Ruperts Gesicht wich jegliche Farbe. Er machte einen Schritt zurück.

»Ja, richtig«, sagte Milly. »Ich bin’s. Ich schätze, du hast nicht gedacht, dass du mich je wiedersehen würdest, was, Rupert? Du hast gedacht, ich wäre für immer aus deinem Leben verschwunden.«

»Sei nicht albern!«, sagte Rupert in scherzhaftem Ton. Er warf einen unbehaglichen Blick zu seinem Freund. »Wie geht’s dir überhaupt?«

»Es könnte nicht schlechter gehen, danke der Nachfrage«, entgegnete Milly. »Oh, und danke, dass du gestern Abend zurückgerufen hast. Das weiß ich wirklich zu schätzen!«

»Ich hatte keine Zeit«, erwiderte Rupert. Er warf ihr einen hasserfüllten Blick aus seinen blauen Augen zu, und Milly funkelte zurück. »Und nun habe ich leider zu tun.« Er wandte sich an seinen Freund. »Gehen wir, Tom?«

»Wag es bloß nicht!«, zischte Milly zornig. »Du gehst nirgendwo hin! Du wirst mir zuhören!«

»Ich habe keine Zeit …«

»Dann schaff dir die Zeit!«, brüllte Milly. »Mein Leben ist zerstört, und das ist alles deine Schuld! Du und dieser verfluchte Allan Kepinski! Herrgott! Ist dir klar, was ihr beide mir angetan habt! Ist dir klar, in welchen Schwierigkeiten ich euretwegen stecke?«

»Rupert«, sagte Tom. »Vielleicht solltet ihr beide euch doch mal ein wenig unterhalten?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon sie eigentlich redet«, erwiderte Rupert wütend. »Sie ist verrückt!«

»Ein Grund mehr«, raunte Tom Rupert zu. »Hier steht eine wahrhaft Not leidende Seele vor dir. Und vielleicht kannst du ihr helfen.« Er lächelte Milly zu. »Sind Sie eine alte Freundin von Rupert?«

»Ja«, erwiderte Milly kurz angebunden. »Wir kennen uns aus Oxford. Stimmt’s nicht, Rupert?«

»Also, hör mal«, meinte Tom. »Warum übernehme ich nicht deine Lesung? Und du unterhältst dich mit Milly?« Er lächelte sie an. »Vielleicht könnten Sie das nächste Mal auch mitkommen.«

»Ja«, erwiderte Milly, die keine Ahnung hatte, wovon er sprach. »Warum nicht!«

»Schön, Sie kennen gelernt zu haben, Milly!«, sagte Tom und ergriff Millys Hand. »Vielleicht sehen wir Sie in der St. Catherine’s Church.«

»Ja«, sagte Milly. »Das nehme ich an.«

»Ausgezeichnet! Ich rufe dich dann an, Rupert«, sagte er, und schon war er fort und auf der anderen Straßenseite.

Milly und Rupert sahen einander an.

»Du Miststück!«, zischte Rupert. »Legst du es darauf an, mein Leben zu zerstören?«

»Dein Leben zu zerstören?«, rief Milly ungläubig. »Dein Leben zu zerstören? Ist dir klar, was du mir angetan hast? Du hast mich benutzt!«

»Du hast es so gewollt«, versetzte Rupert brüsk und schickte sich zum Gehen an. »Wenn du es nicht gewollt hast, warum hast du dann nicht Nein gesagt?«

»Ich war achtzehn!«, kreischte Milly. »Ich hatte doch von nichts eine Ahnung! Ich wusste nicht, dass ich eines Tages einen anderen heiraten wollen würde, einen, den ich wirklich liebe …«

»Na und?«, sagte Rupert knapp und drehte sich wieder zu ihr um. »Du hast deine Scheidung doch bekommen, oder?«

»Nein«, schluchzte Milly. »Eben nicht! Und ich weiß nicht, wo Allan steckt! Und dabei heirate ich am Samstag!«

»Tja, und was soll ich da nun bitte machen?«

»Ich muss Allan finden! Wo wohnt er jetzt? Sag es mir!«

»Ich weiß es nicht«, sagte Rupert und wollte sich abermals entfernen. »Ich kann dir nicht helfen. Und jetzt lass mich zufrieden.« Milly starrte ihn an, und Wut stieg in ihr hoch wie heiße Lava.

»Du kannst nicht einfach gehen!«, kreischte sie. »Du musst mir helfen!« Sie begann hinter ihm herzurennen; er beschleunigte den Schritt. »Du musst mir helfen, Rupert!« Unter großer Anstrengung packte sie ihn an seinem Jackett und schaffte es, ihn zum Stehenbleiben zu zwingen.

»Lass mich los!«, zischte Rupert.

»Hör zu«, sagte Milly grimmig und funkelte ihn an. »Ich habe dir und Allan einen Gefallen getan. Und nun ist es an der Zeit, dass du dich auch mal ein klein wenig erkenntlich zeigst. Das bist du mir schuldig.«

Sie sah ihn fest an, beobachtete, wie er nachdachte; beobachtete, wie sich sein Gesichtsausdruck langsam veränderte. Schließlich seufzte er und rieb sich die Stirn.

»Okay«, sagte er. »Komm mit. Wir reden besser miteinander.«

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