Milly blieb erst stehen, als sie Isobels Auto erreicht hatte. Dann lehnte sie sich gegen die Beifahrertür, fischte in ihrer Tasche nach einer Zigarette und versuchte, den brennenden Schmerz in ihrer Brust zu ignorieren, versuchte, nicht an Simons entsetztes Gesicht zu denken. Sie hatte das Richtige getan. Sie war ehrlich gewesen. Endlich war sie ehrlich gewesen.
Mit zittrigen Händen steckte sie sich die Zigarette in den Mund und versuchte, sie anzuzünden, aber jedes Mal blies die Abendbrise die Flamme wieder aus. Schließlich warf sie sie frustriert zu Boden und stampfte darauf herum. Ein Gefühl der Machtlosigkeit überkam sie. Ins Haus zurück konnte sie nicht. Und wegfahren konnte sie ohne Autoschlüssel auch nicht. Nicht einmal ein Handy hatte sie. Aber vielleicht käme Isobel ja gleich heraus und rettete sie.
Plötzlich knirschte es auf dem Kies. Sie sah hoch und fuhr zusammen, als sie Simon mit ernster, entschlossener Miene auf sich zukommen sah.
»Lass gut sein, Simon«, sagte sie und wandte sich ab. »Es ist aus, okay?«
»Nein, das ist nicht okay!«, rief Simon. Leicht außer Atem erreichte er das Auto. »Wie meinst du das, wir können nicht heiraten? Ist es wegen der Dinge, die ich gesagt habe? Milly, es tut mir furchtbar leid. Ich tue mein Möglichstes, um das wieder gutzumachen. Aber wirf doch nicht nur deshalb unsere Beziehung fort!«
»Darum geht es gar nicht. Ja, du hast mich verletzt. Aber ich hab dir doch gesagt, ich verzeihe dir.« Simon sah sie mit großen Augen an.
»Ja aber, was ist es denn dann?«
»Es ist etwas Grundlegenderes. Es sind … wir. Du und ich als Paar, ganz einfach.« Sie zuckte mit den Achseln und schickte sich an, davonzumarschieren.
»Was stimmt denn an dir und mir als Paar nicht?« Simon folgte ihr. »Milly, sprich mit mir! Lauf nicht einfach weg!«
»Ich laufe nicht weg.« Milly wirbelte herum. »Aber es bringt nichts, darüber zu reden. Überhaupt nichts, glaub mir. Also lass uns das Ganze mit Würde über die Bühne bringen, ja? Auf Wiedersehen, Simon.«
Sie hielt kurz inne und stapfte dann rasch davon.
»Ich scheiß auf die Würde!«, rief Simon und lief ihr hinterher. »Ich lass dich nicht einfach so aus meinem Leben gehen! Milly, ich liebe dich. Ich möchte dich heiraten. Liebst du mich denn nicht? Hast du aufgehört, mich zu lieben? Wenn ja, dann sag’s mir doch einfach!«
»Das ist es nicht!«
»Was dann? Woran liegt es dann?«
»Okay!« Milly blieb unvermittelt stehen. »Okay!« Sie schloss die Augen, dann öffnete sie sie wieder und sah ihn direkt an. »Es liegt daran, dass ich … nicht ehrlich zu dir war. Nie.«
»Ich hab dir doch gesagt, das ist mir gleich. Meinetwegen kannst du zehn Ehemänner haben!«
»Ich spreche nicht von Allan«, erwiderte Milly verzweifelt. »Ich spreche von all den anderen Lügen, die ich dir aufgetischt habe. Lügen, Lügen, Lügen!«
Simon starrte sie fassungslos an. Er schluckte und strich sich das Haar zurück.
»Welche Lügen?«
»Siehst du?«, schrie Milly. »Du hast keine Ahnung! Du hast keine Ahnung, wer ich wirklich bin! Die wahre Milly Havill kennst du gar nicht!«
»Kepinski«, verbesserte sie Simon.
Millys Augen verengten sich, und sie wandte sich zum Gehen.
»Entschuldige«, sagte Simon sofort. »Ich hab’s nicht so gemeint! Milly, komm zurück!«
»Es hat keinen Zweck!« Milly schüttelte den Kopf. »Es würde nicht funktionieren. Ich kann’s nicht mehr.«
»Wovon sprichst du?« Simon folgte ihr.
»Ich kann nicht die sein, für die du mich hältst! Ich kann nicht deine perfekte Barbiepuppe sein.«
»Verdammt, ich behandle dich doch gar nicht wie eine Barbiepuppe!«, empörte sich Simon. »Herrgott! Ich behandle dich wie eine intelligente, reife Frau!«
»Ja!«, schrie Milly und wandte sich so schnell um, dass der Kies aufspritzte. »Das ist es ja eben! Du behandelst mich wie die Barbiepuppenversion eines vernunftbegabten Mannes. Du möchtest eine attraktive, intelligente Frau, die teure Schuhe trägt, Soap Operas für trivial hält und alles über den Wechselkurs europäischer Importartikel weiß. Tja, die kann ich dir nicht sein! Ich dachte, ich könnte mich in sie verwandeln, aber das kann ich nicht. Ich kann es einfach nicht!«
»Was?« Simon starrte sie erstaunt an. »Wovon zum Teufel redest du?«
»Simon, ich kann deinen Erwartungen einfach nicht mehr gerecht werden.« Tränen sprangen in Millys Augen, und sie wischte sie ungeduldig fort. »Ich kann dir doch nicht mein ganzes Leben lang etwas vorspielen. Ich kann niemand sein, der ich nicht bin. Rupert hat das versucht, und sieh dir an, was er jetzt davon hat!«
»Milly, ich möchte nicht, dass du dich für mich verstellst. Ich möchte, dass du du bist.«
»Das kannst du nicht wollen. Du kennst mich ja nicht mal.«
»Natürlich kenne ich dich!«
»Nein«, erwiderte Milly verzweifelt. »Simon, das versuche ich dir doch gerade beizubringen. Ich habe dir seit unserer ersten Begegnung etwas vorgegaukelt.«
»In welcher Hinsicht?«
»In jeder.«
»Du hast mich in jeder Beziehung angelogen?«
»Ja.«
»Zum Beispiel, Herrgott noch mal?«
»Immer.«
»Nenn mir ein Beispiel!«
»Okay.« Milly fuhr sich mit zittriger Hand durchs Haar. »Ich mag keine Sushi.«
Verblüffte Stille.
»Das ist alles? Du magst keine Sushi?«
»Natürlich ist das nicht alles«, versicherte Milly rasch. »Schlechtes Beispiel. Ich … ich lese nie Zeitung. Ich gebe es nur vor.«
»Na und?«
»Und ich verstehe nichts von moderner Kunst. Und ich gucke schreckliche Sachen im Fernsehen an.«
»Was zum Beispiel?«, lachte Simon.
»Zeug, von dem du noch nie gehört hast. Wie … wie Family Fortunes!«
»Milly …« Simon ging auf sie zu.
»Und ich … ich kaufe mir billige Schuhe und zeige sie dir bloß nicht.«
»Ja und?«
»Wie meinst du das, ja und?« Tränen der Wut traten in Millys Augen. »Die ganze Zeit habe ich so getan, als sei ich jemand anders. Bei der Party damals, bei der wir uns kennen gelernt haben, da hatte ich von Vivisektion eigentlich überhaupt keinen Schimmer! Ich habe nur zufällig in Blue Peter was darüber gesehen.«
Simon blieb stehen. Eine lange Stille trat ein.
»Du hast es in Blue Peter gesehen«, sagte er schließlich.
»Ja«, erwiderte Milly mit tränenerstickter Stimme. »Ein Blue Peter Special.«
Simon warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus.
»Das ist nicht lustig!«, entrüstete sich Milly.
»O doch!«, brachte Simon lachend heraus. »Sehr sogar!«
»Nein!«, schrie Milly. »Die ganze Zeit über hatte ich deswegen ein schlechtes Gewissen! Begreifst du denn nicht? Ich habe Wissen und Intelligenz vorgetäuscht. Und ich habe dich zum Narren gehalten. Aber ich bin nicht intelligent! Das bin ich einfach nicht!«
Simon hörte abrupt zu lachen auf.
»Milly, ist das dein Ernst?«
»Natürlich!«, sagte Milly unter Tränen. »Ich bin nicht clever! Ich bin nicht schlau!«
»O doch, bist du schon.«
»Nein! Nicht so wie Isobel!«
»Wie Isobel?«, wiederholte Simon ungläubig. »Du hältst Isobel für schlau? Findest du es etwa schlau, sich von seinem Freund ein Kind anhängen zu lassen?« Er zog eine Augenbraue hoch, und Milly kicherte unvermittelt.
»Isobel mag intellektuell sein«, versetzte Simon. »Aber der hellste Stern der Familie bist du.«
»Wirklich?«, fragte Milly kleinlaut.
»Wirklich. Und selbst wenn nicht, selbst wenn du nur über eine einzige Gehirnzelle verfügen würdest – würde ich dich trotzdem lieben. Ich liebe dich, Milly. Nicht deinen IQ.«
»Das geht gar nicht«, wandte Milly stockend ein. »Du …«
»… kennst mich nicht?«, vollendete Simon den Satz. »Natürlich kenne ich dich. Milly, eine Person zu kennen, bedeutet nicht, eine Reihe von Fakten zu kennen. Das ist mehr wie ein … ein Gefühl.« Er hob die Hand und strich ihr zart eine Haarsträhne zurück. »Ich spüre, wann du lachen und wann du weinen wirst. Ich fühle deine Güte und Wärme und deinen Sinn für Humor. All das fühle ich in mir. Und genau darauf kommt es an. Nicht auf Sushi. Nicht auf moderne Kunst. Nicht auf Family Fortunes.« Er machte eine Pause und sagte dann mit unbewegter Stimme: »Our survey said …«
Milly sah ihn mit großen Augen an.
»Du guckst das auch?«
»Gelegentlich.« Er grinste. »Na, komm, Milly. Ich bin doch auch nur ein Mensch, oder?«
Stille. In der Ferne schlug eine Kirchturmuhr. Milly atmete zittrig aus und sagte, fast wie zu sich selbst: »Jetzt könnte ich …«
»Eine Zigarette gebrauchen?«, unterbrach sie Simon. Milly hob den Kopf, um ihn anzuschauen, dann zuckte sie kurz mit den Achseln.
»Vielleicht.«
»Na, komm!«, grinste Simon. »Hatte ich nicht recht? Beweist das nicht, dass ich dich kenne?«
»Vielleicht.«
»Gib’s zu! Ich kenne dich! Ich weiß, wann du eine rauchen willst. Das muss wahre Liebe sein. Oder etwa nicht?«
Es entstand eine Pause, dann sagte Milly erneut: »Vielleicht.« Sie langte in ihre Tasche nach der Zigarettenschachtel und gestattete es Simon, die Flamme ihres Feuerzeugs vor dem Wind zu schützen.
»Na?«, fragte er, als sie ihren ersten Lungenzug inhalierte.
»Na?«
Eine angespannte Stille trat ein. Milly tat einen weiteren Zug und wich Simons Blick aus.
»Ich habe mir überlegt …«, meinte Simon.
»Was?«
»Wenn du Lust hättest, dann könnten wir uns eine Pizza holen. Und vielleicht …« Er machte eine Pause. »Könntest du mir ein bisschen was über dich erzählen.«
»Okay.« Sie blies eine Rauchwolke aus und schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Das wäre nett.«
»Du magst Pizza«, fügte Simon hinzu.
»Ja. Stimmt.«
»Du tust nicht nur so, um Eindruck zu schinden.«
»Simon. Halt den Mund!«
»Ich hole das Auto.« Er griff in seine Tasche nach den Autoschlüsseln.
»Nein, warte. Lass uns zu Fuß gehen. Mir ist so danach. Und nach … Reden.« Simon sah sie mit großen Augen an.
»Den ganzen Weg bis nach Bath?«
»Wieso nicht?«
»Das sind drei Meilen!«
»Na, da sieht man’s mal wieder!«, versetzte Milly. »Du kennst mich nicht. Ich lauf locker drei Meilen. In der Schule war ich in der Cross-Country-Mannschaft!«
»Aber es ist verflixt kalt!«
»Beim Laufen wird uns warm werden. Na, komm schon, Simon!« Sie hakte sich bei ihm unter. »Ich möchte wirklich.«
»Okay.« Simon steckte seine Autoschlüssel weg. »Schön. Gehen wir.«
»Sie gehen in den Garten«, bemerkte Isobel. »Zusammen.« Sie wandte sich vom Fenster ab. »Aber geküsst haben sie sich noch nicht.«
»Vielleicht wollen sie dazu kein Publikum«, meinte Harry. »Vor allem keine ältere Schwester.«
»Die wissen doch nicht, dass ich sie beobachte. Ich war sehr vorsichtig. Oh, jetzt sind sie verschwunden.« Sie biss sich auf die Lippen und setzte sich auf die Fensterbank. »Ich hoffe … du weißt schon.«
»Entspann dich«, riet ihr Harry von seinem Platz am Kamin aus. Er hielt ein Blatt Papier und einen Füller in der Hand.
»Was machst du da?«, erkundigte sie sich. Harry blickte kurz auf, Isobel sah ihn an.
»Nichts.« Hastig faltete er das Stück Papier zusammen.
»Zeig schon!«, befahl Isobel.
»Das ist nichts von Bedeutung.« Harry wollte das Blatt in seiner Tasche verschwinden lassen. Aber Isobel hatte im Nu den Raum durchquert und es ihm entrissen.
»Nur ein paar Namen, die mir in den Sinn gekommen sind«, meinte Harry steif, als sie es auseinanderfaltete. »Wollte sie mir nur schnell notieren.«
Isobel sah auf das Blatt und lachte los.
»Harry, du bist verrückt! Wir haben noch sieben Monate Zeit, uns darüber Gedanken zu machen!« Sie las die Liste durch, lächelte bei manchen der Namen und verzog bei anderen das Gesicht. Dann drehte sie das Blatt um. »Und was soll das hier noch?«
»Oh, das.« Er machte eine leicht betretene Miene. »Das war nur für den Fall, dass wir Zwillinge bekommen.«
Milly und Simon gingen langsam durch die Gärten von Pinnacle Hall auf ein schmiedeeisernes Tor zu, das auf die Hauptstraße führte.
»Eigentlich sollte ich heute Abend etwas ganz anderes tun.« Milly starrte zum Sternenhimmel empor. »Ich sollte zu Hause ein bisschen was zu Abend essen und dann meinen Koffer für die Flitterwochen packen.«
»Und ich hätte eigentlich mit Dad eine Zigarre rauchen und mir die Sache mit der Hochzeit noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen sollen.«
»Und? Hast du das?«
»Du?«
Milly schwieg, starrte aber weiter zum Himmel. Schweigend gingen sie weiter, am Rosengarten und am gefrorenen Springbrunnen vorbei, in den Obstgarten.
»Da ist sie.« Unvermittelt blieb Simon stehen. Er sah sie kurz an. »Erinnerst du dich?«
Milly erstarrte etwas. »Ja. Natürlich erinnere ich mich. Du hattest den Ring in deiner Tasche. Und im Baumstumpf stand schon der Champagner bereit.«
»Ich habe Tage für die Vorbereitung gebraucht«, erinnerte sich Simon. »Ich wollte, dass alles perfekt ist.«
Milly sah ihn an und ballte seitlich die Hände zur Faust.
Ehrlichkeit, sagte sie sich. Sei ehrlich.
»Es war zu perfekt«, sagte sie unverblümt.
»Was?« Simon riss schockiert den Kopf hoch, und Milly bekam prompt Gewissensbisse.
»Simon, es tut mir leid«, sagte sie sofort. »Ich hab’s nicht so gemeint.« Sie entfernte sich ein wenig von ihm und musterte die Bäume. »Es war schön.«
»Milly, gaukel mir nichts vor.« Simon klang schwer verletzt. »Sag die Wahrheit. Was hast du wirklich gedacht?«
Eine Pause trat ein.
»Na, okay«, meinte Milly schließlich. »Wenn ich wirklich ehrlich sein soll, dann war es schön – aber …« Sie wandte sich zu ihm um. »Eine Spur zu geplant. Bevor ich Luft holen konnte, steckte schon der Ring an meinem Finger. In der nächsten Minute hast du den Champagnerkorken knallen lassen, und wir waren offiziell verlobt. Ich hatte gar keine …« Sie brach ab und rieb sich das Gesicht. »Ich hatte gar keine Zeit, darüber nachzudenken.«
Stille.
»Verstehe«, sagte Simon schließlich. »Und wenn du Zeit zum Nachdenken gehabt hättest, was hättest du dann gesagt?« Milly sah ihn ein paar lange Sekunden an und wandte dann den Blick ab.
»Komm, lass uns die Pizza holen.«
»Okay.« In Simons Stimme schwang Enttäuschung mit. »Okay.« Er machte ein paar Schritte, dann blieb er stehen. »Und du bist dir ganz sicher, dass du gehen willst?«
»Ja«, erwiderte Milly. »Beim Laufen krieg ich immer den Kopf frei.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Komm.«
Eine halbe Stunde später blieb Milly mitten auf der dunklen Straße stehen.
»Simon?«, meinte sie kleinlaut. »Mir ist kalt.«
»Nun, dann legen wir eben einen Zahn zu.«
»Und mir tun die Füße weh. Ich habe schon Blasen von diesen Schuhen.«
Simon blieb stehen und sah sie an. Sie hatte sich die Enden ihrer Jacke um die Hände geschlungen und sie unter die Achseln gesteckt; ihre Lippen bebten, und sie klapperte mit den Zähnen.
»Hast du jetzt einen klaren Kopf?«, wollte er wissen.
»Nein«, erwiderte Milly kläglich. »Gar nicht. Alles, woran ich denken kann, ist ein schönes heißes Bad.«
»Na ja, es ist nicht mehr weit«, sagte Simon fröhlich. Milly spähte die schwarze, unbeleuchtete Straße entlang.
»Ich kann nicht mehr. Gibt’s hier denn nirgendwo Taxis?«
»Wohl kaum. Aber du kannst mein Jackett haben.« Er zog es aus, und Milly schnappte es sich und kuschelte sich in das warme Futter. »Ist dir denn jetzt nicht zu kalt?«, fragte sie vage.
»Geht schon. Sollen wir weitergehen?«
»Okay.« Milly begann, vorwärtszuhinken. Simon blieb stehen und sah sie an.
»Besser geht’s nicht?«
»Meine Füße bluten«, jammerte Milly. Simons Blick wanderte nach unten.
»Sind das neue Schuhe?«
»Ja«, erwiderte Milly trübselig. »Und sie waren sehr günstig. Aber jetzt hasse ich sie.« Sie machte einen weiteren Schritt und zuckte zusammen. Simon seufzte.
»Na komm. Stell dich auf meine Füße. Ich lauf ein Weilchen mit dir drauf.«
»Wirklich?«
»Komm. Steck dir die Schuhe in die Tasche.«
Er fasste Milly fest um die Taille und begann, mit ihr auf den Füßen ungeschickt in die Nacht zu schreiten.
»Das gefällt mir«, meinte Milly nach einer Weile.
»Ja«, grunzte Simon. »Super.«
»Du gehst sehr schnell, nicht?«
»Das tue ich immer, wenn ich Hunger habe.«
»Es tut mir leid«, sagte Milly gedrückt. »Aber die Idee an sich war doch gut, oder?« Es entstand eine Pause, und sie wandte sich um. Damit brachte sie Simon so aus dem Gleichgewicht, dass sie fast hingefallen wären. »Stimmt’s, Simon?«
Simon lachte, die Stimme rau von der Abendluft.
»Ja, Milly«, japste er heiser. »Eine deiner besten.«
Als sie die Pizzeria schließlich erreichten, brachten die beiden vor Kälte und Anstrengung kaum mehr ein Wort heraus. Sie öffneten die Tür, und sofort schlugen ihnen die warme Luft und der Knoblauchgeruch des Essens wie ein berauschender Schwall ins Gesicht. Das Restaurant war gesteckt voll, Musik erfüllte den Raum; plötzlich schien die kalte, dunkle Straße eine Million Meilen entfernt zu sein.
»Einen Tisch für zwei Personen, bitte.« Simon stellte Milly auf dem Boden ab. »Und zwei große Brandys.«
Milly rieb sich die kalten, geröteten Wangen und lächelte ihn an.
»Weißt du, meinen Füßen geht’s jetzt ein bisschen besser.« Sie probierte sie auf dem Marmorboden aus. »Ich glaube, ich kann allein zum Tisch gehen.«
»Gut.« Simon streckte sich. »Das ist prima.«
Ein rot gewandeter Ober führte sie zu einem Tisch und kehrte umgehend mit zwei Brandys zurück.
»Prost!« Zögernd sah Milly Simon an. »Allerdings weiß ich nicht genau, worauf wir trinken. Auf die … Hochzeit, die es nicht gab?«
»Auf uns.« Simon wirkte plötzlich ernst. »Lass uns auf uns trinken. Milly …«
»Was?«
Stille. Millys Herz begann zu hämmern. Nervös fingerte sie an ihrer Papierserviette.
»Ich habe das nicht geplant«, sagte Simon. »Weiß Gott nicht. Aber ich kann nicht länger warten.«
Er legte seine Speisekarte beiseite und sank neben dem Tisch auf ein Knie. Im Restaurant entstand ein leichter Aufruhr, als die Gäste hinübersahen und sich gegenseitig anstießen.
»Milly, bitte«, sagte Simon. »Ich frage dich noch einmal. Und … und wider besseres Wissen hoffe ich, dass du ja sagen wirst. Möchtest du meine Frau werden?«
Lange herrschte Stille. Schließlich sah Milly ihn an. Ihre Wangen hatten einen zarten Pinkton angenommen; die Serviette in ihren Händen war nur noch ein rotes Knäuel.
»Simon, ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich muss … ich muss darüber nachdenken.«
Als sie ihre Pizza aufgegessen hatten, räusperte Milly sich und sah Simon nervös an.
»Wie war deine Pizza?«, erkundigte sie sich mit trockener Stimme.
»Gut. Und deine?«
»Gut.« Kurz trafen sich ihre Blicke, dann sah Simon weg.
»Bist du …«, begann er. »Hast du …«
»Ja.« Milly biss sich auf die Lippen. »Ich habe nachgedacht.«
Ihr Blick glitt über ihn – noch immer neben dem Tisch auf den Knien, wie die ganze Mahlzeit über, sein Essen wie bei einem Picknick um ihn ausgebreitet. Der Hauch eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht.
»Würdest du jetzt gern aufstehen?«
»Wozu?« Simon trank einen Schluck Wein. »Ich hab’s hier unten sehr bequem.«
»Das glaube ich.« Millys Lippen bebten. »Ich dachte bloß … dass du mich vielleicht gern küssen würdest.«
Angespannte Stille trat ein.
»So?«, sagte Simon schließlich. Gemächlich stellte er sein Weinglas ab und sah zu ihr hoch. Eine Weile starrten sie sich an, ohne zu merken, dass die Kellner einander anstießen und etwas in die Küche riefen; sie hatten nur Augen für einander. »Dürfte ich das wirklich?«
»Ja«, erwiderte Milly so ruhig wie möglich. Sie legte ihre Serviette ab, glitt von ihrem Stuhl zu ihm auf den Marmorboden und schlang die Arme um seinen Hals. Als sich ihre Lippen trafen, brandete im Restaurant gedämpfter Applaus auf. Tränen strömten über Millys Wangen, auf Simons Hals und auf ihre Lippen. Sie schloss die Augen und schmiegte sich an seine breite Brust, atmete den Duft seiner Haut ein, zu schwach, um auch nur einen Muskel zu rühren. Sie fühlte sich vollkommen ausgelaugt, körperlich wie emotional.
»Eine Frage nur«, flüsterte Simon ihr ins Ohr. »Wer bringt es deiner Mutter bei?«