Als sie das Treppenende erreicht hatte, blieb Milly stehen und stellte ihren Koffer ab.
»Also, ich weiß nicht«, sagte sie.
»Wie meinst du das, du weißt nicht?«, fragte Esme forsch, als sie in die Diele kam. Sie trug ihren Pelzhut und hielt schwarze Lederhandschuhe und eine Straßenkarte in der Hand. »Na komm! Es wird spät.«
»Ich weiß nicht, ob ich wegfahren soll.« Milly setzte sich auf die Treppe. »Ich hab das Gefühl, ich laufe vor allem davon. Vielleicht sollte ich besser dableiben und die Sache tapfer durchstehen.«
Esme schüttelte den Kopf. »Schatz, du rennst nicht davon – du bist nur vernünftig. Wenn wir hier bleiben, dann verbringst du den ganzen morgigen Tag damit, das Gesicht ans Fenster zu pressen und zu grübeln. Wenn du fortfährst, dann lenkt dich zumindest ein anderer Ausblick ab.«
»Aber ich sollte doch wenigstens mit meinen Eltern sprechen.«
»Die sind am Montag auch noch da. Und augenblicklich werden sie für ein Gespräch ohnehin zu beschäftigt sein.«
»Na, dann sollte ich ihnen vielleicht helfen.«
»Milly«, sagte Esme ungeduldig, »jetzt sei doch nicht albern. Momentan bist du am besten weit weg, an einem Ort, an dem du endlich einmal in Ruhe über dein Leben nachdenken kannst. Nimm dir Zeit für dich selbst, finde dein Gleichgewicht wieder, werde dir über deine Prioritäten klar.«
Milly starrte eine Weile zu Boden.
»Stimmt«, sagte sie schließlich. »Ich brauche wirklich mal Zeit zum Nachdenken.«
»Natürlich brauchst du die!«, gab Esme ihr recht. »Du brauchst mal so richtig Ruhe. Zu Hause wärst du umgeben von Chaos und würdest unter Druck gesetzt, vor allem von deiner Mutter.«
»Ja, Mummy hat das Ganze sehr mitgenommen«, sagte Milly. »Sie hat sich die Hochzeit so gewünscht.«
»Natürlich hat sie das«, meinte Esme. »Das haben wir alle. Aber nun, da sie nicht stattfinden wird, musst du das Leben in neuem Licht betrachten. Stimmt’s?«
Milly erhob sich seufzend.
»Ja. Du hast recht. Ein Wochenende auf dem Land ist genau das Richtige.«
»Du wirst es nicht bereuen.« Esme lächelte sie an. »Komm schon. Fahren wir los.«
Esmes Daimler war draußen auf der Straße unter einer Laterne geparkt. Als sie eingestiegen war, drehte Milly sich um und spähte neugierig durch das Rückfenster.
»Schau, das da sieht wie Isobels Auto aus.«
»Ach, hier in der Gegend gibt es einen Haufen dieser kleinen Peugeots«, murmelte Esme und ließ den Motor an.
»Es ist Isobels Auto!«, rief Milly und spähte genauer. »Was macht sie denn hier?«
»Nun, leider können wir uns nicht länger aufhalten«, meinte Esme und legte rasch den Gang ein. »Sobald wir angekommen sind, kannst du sie ja anrufen.«
»Nein, warte!«, protestierte Milly. »Sie steigt aus. Sie kommt auf uns zu. Esme, halt an!« Esme fuhr los, und Milly sah sie an, sprachlos vor Erstaunen. »Esme, halt an!«, rief sie. »Esme, halt den Wagen an!«
Isobel eilte die Straße entlang und sah mit Bestürzung, wie Esmes Wagen aus der Parklücke fuhr. Keuchend sprintete sie hinter dem Auto her, verzweifelt bemüht, Milly nicht aus den Augen zu verlieren. Hinter den Scheiben von Esmes teurem Daimler konnte sie Millys blonden Haarschopf sehen, sah, wie Milly sich umdrehte, sie entdeckte und dann etwas zu Esme sagte. Aber Esme hielt nicht an. Für wen hielt sich dieses Miststück eigentlich? Und wohin zum Teufel brachte sie Milly? Unter größter Anstrengung konnte Isobel noch einen Zahn zulegen, immer die Rücklichter des Daimlers im Auge, unsicher, was sie tun würde, als Esme um die Ecke bog und auf der Hauptstraße davonbrauste.
Aber die Ampel am Straßenende stand auf Rot, und Esme musste notgedrungen die Geschwindigkeit drosseln. Isobel, die sich wie eine siegreiche olympische Athletin vorkam, erreichte das Auto und begann, an Millys Fenster zu trommeln. Sie sah, wie Milly drinnen lebhaft auf Esme einschrie und dann mit der Handbremse kämpfte. Plötzlich ging Millys Tür auf, und sie kullerte mehr heraus, als dass sie ausstieg.
»Was gibt’s?«, fragte sie Isobel keuchend. »Es schien wichtig zu sein.«
»Allerdings«, brachte Isobel wütend heraus, rot im Gesicht und völlig außer Atem. »Allerdings ist es wichtig! Mein Gott!« Sie strich sich das Haar aus den Augen und zwang sich, ein paarmal tief Luft zu holen. »Zum einen interessiert es dich vielleicht, dass es dieses Miststück war, das dich beim Pfarrer verpfiffen hat.« Sie deutete verächtlich auf Esme, die ihren Blick vom Fahrersitz aus mit wütenden, funkelnden Augen erwiderte.
»Wie meinst du das?«, sagte Milly. »Ich dachte, es war Alexander.«
»Nein, sie war’s! Stimmt doch, oder?«, herrschte Isobel Esme an.
»Wirklich?« Milly sah Esme mit großen Augen an. »Wirklich?«
»Natürlich nicht!«, gab Esme scharf zurück. »Warum sollte ich so etwas tun?«
»Vielleicht, um dich an Harry zu rächen«, sagte Isobel, und ein neuer, schneidender Ton schlich sich in ihre Stimme.
»So ein Unsinn!«
»Von wegen. Er hat mir alles über dich erzählt. Alles.«
»So, hat er das?«, fragte Esme spöttisch.
»Ja«, erwiderte Isobel kalt. »Hat er.«
Stille trat ein. Esmes funkelnder Blick schweifte scharf über Isobels Gesicht, dann begriff sie plötzlich.
»Verstehe«, sagte sie langsam. »So stehen die Dinge also.« Sie bedachte Isobel mit einem verächtlichen Lächeln. »Das hätte ich mir ja denken können. Ihr Havill-Mädchen habt wirklich eine Schwäche fürs Geld, was?«
»Du bist ein Miststück, Esme.«
»Ich verstehe nicht.« Milly blickte von Isobel zu Esme. »Wovon redet ihr? Esme, hast du dem Pfarrer wirklich gesagt, dass ich schon verheiratet bin?«
»Ja. Und es war zu deinem Besten. Du willst diesen unreifen kleinen Schnösel doch wohl nicht heiraten!«
»Du hast mich verraten!«, schrie Milly. »Und dabei bist du meine Patentante! Du solltest zu mir halten!«
»Das tue ich doch.«
Hinter ihnen bildete sich allmählich eine Wagenschlange. Jemand hupte, und Isobel machte eine ungeduldige Geste.
»Milly, hör zu«, sagte Esme. »Für eine Ehe mit Simon Pinnacle bist du viel zu schade! Dein Leben fängt doch gerade erst an! Verstehst du nicht? Ich habe dich vor einem Leben in Langeweile und Mittelmaß bewahrt.«
»So siehst du das also?« Millys Stimme hob sich ungläubig. »Dass du mich gerettet hast?«
Etliche weitere Autofahrer begannen zu hupen. Gegen Ende der Schlange stieg ein Fahrer aus seinem Wagen und kam auf sie zu.
»Schatz, ich kenne dich sehr gut«, begann Esme. »Und ich weiß, dass …«
»Tust du nicht!«, fiel Milly ihr ins Wort. »Du kennst mich nicht gut. Verdammt, du kennst mich überhaupt nicht! Ihr glaubt alle, mich zu kennen – und dabei tut es keiner von euch! Ihr habt ja keine Ahnung, wie ich wirklich bin, hinter …«
»Hinter was?«, erkundigte sich Esme herausfordernd.
Leicht keuchend starrte Milly Esme schweigend an, ihr Gesicht in das grüne Licht der Ampel getaucht, dann wandte sie den Blick ab.
»Entschuldigen Sie«, unterbrach sie ein Mann ungeduldig und deutete auf die Ampel. »Sind Sie blind, oder was?«
»Ja«, sagte Milly benommen. »Das war ich wohl.«
»Die Dame wollte gerade losfahren.« Isobel knallte boshaft die Beifahrertür zu. »Komm, Milly.« Sie nahm ihre Schwester am Arm. »Lass uns gehen.«
Als sie in Isobels Auto losfuhren, ließ sich Milly in ihren Sitz zurücksinken und massierte sich mit den Fingerspitzen die Stirn. Isobel, eine schnelle und gewandte Fahrerin, warf ihrer Schwester immer wieder einen Blick zu, sagte aber nichts. Nach einer Weile setzte Milly sich auf und strich sich das Haar hinter die Ohren.
»Danke, Isobel«, sagte sie.
»Jederzeit.«
»Wie seid ihr darauf gekommen, dass es Esme war?«
»Sie musste es sein. Keiner sonst wusste es. Wenn Alexander es niemandem gesagt hatte, dann musste sie es gewesen sein. Und …« Sie machte eine Pause. »Da war noch was.«
»Was denn noch?« Milly drehte sich zu Isobel. »Was sollte das alles, von wegen, sich an Harry rächen?«
»Sie hatten eine Liaison«, erklärte Isobel kurz. »Sagen wir einfach, es hat nicht funktioniert.«
»Und woher weißt du das?«
»Er hat es Simon erzählt. Und mir. Ich war gerade dort.«
Ein Hauch Röte stieg in Isobels Wangen, und sie trat entschlossen aufs Gas. Milly starrte ihre Schwester an.
»Stimmt was nicht?«
»Nein.« Aber die Röte auf Isobels Wangen vertiefte sich, und sie sah Milly partout nicht an. Millys Herz begann, laut zu klopfen.
»Isobel, was ist los? Was hat Esme damit gemeint, dass du eine Schwäche fürs Geld hast?«
Isobel schwieg, wechselte den Gang aber ruckartig. Sie blinkte nach links und schaltete versehentlich den Scheibenwischer an.
»Verdammt«, sagte sie. »Dieses verfluchte Auto!«
»Du enthältst mir etwas vor, Isobel«, sagte Milly. »Du verschweigst was.«
»Nein.«
»Was hast du in Pinnacle Hall gemacht?« Unvermittelt wurde Millys Stimme scharf. »Wen hast du besucht?«
»Niemanden.«
»Spiel mir doch nichts vor! Du und Simon, habt ihr euch hinter meinem Rücken getroffen?«
»Nein!«, lachte Isobel. »Sei doch nicht albern.«
»Was weiß denn ich? Wenn meine Patentante mich betrügen kann, warum dann nicht auch die eigene Schwester?«
Isobel sah Milly kurz an. Deren Gesicht war bleich und angespannt, und sie umklammerte fest den Sitz.
»Herrgott, Milly«, sagte sie rasch. »Wir sind doch nicht alle Esme Ormerod! Natürlich habe ich mich nicht mit Simon getroffen.«
»Nun, was ist es denn dann?« Millys Stimme wurde schriller. »Isobel, sag mir, was los ist!«
»Okay«, erwiderte Isobel. »Okay, ich sag’s dir. Eigentlich wollte ich es dir schonend beibringen, aber nachdem du so verflucht argwöhnisch bist …« Sie blickte kurz zu Milly und holte tief Luft. »Es ist Harry.«
»Was ist Harry?«
»Mit dem ich mich getroffen habe. Er ist …«, Isobel schluckte, »der Vater.« Sie sah in Millys noch immer ausdrucksloses Gesicht. »Von meinem Kind, Milly! Er ist … er ist derjenige, mit dem ich mich getroffen habe.«
»Was?«, kreischte Milly hysterisch. »Du hast dich mit Harry Pinnacle getroffen?«
»Ja.«
»Er ist der Vater deines Kindes?«
»Ja.«
»Du hast eine Affäre mit Simons Dad?« Millys Stimme wurde immer schriller.
»Ja«, sagte Isobel trotzig. »Aber …« Als sie hörte, wie Milly in Schluchzen ausbrach, hielt sie inne. »Milly, was ist denn?« Sie warf Milly einen kurzen Blick zu, die gekrümmt auf dem Sitz saß und das Gesicht in den Händen vergrub. Plötzlich sprangen ihr selbst Tränen in die Augen und behinderten ihre Sicht auf die Straße. »Milly, es tut mir wirklich leid«, sagte sie. »Ich weiß, es ist weiß Gott nicht der geeignete Zeitpunkt, es dir zu erzählen. Oh, Milly, weine nicht!«
»Ich weine ja gar nicht!«, brachte Milly heraus. »Ich weine nicht!«
»Was tust du …«
»Ich lache!« Milly schnappte nach Luft, sah Isobel an und brach erneut in hysterisches Gelächter aus. »Du und Harry! Der ist doch so alt!«
»Er ist nicht alt!«
»Doch! Er ist steinalt! Er hat graue Haare!«
»Tja, das ist mir gleich. Ich liebe ihn. Und ich bekomme sein Kind!«
Milly hob den Kopf und sah Isobel an. Die starrte trotzig nach vorn, aber ihre Lippen bebten, und ihre Wangen waren nass von Tränen.
»Oh, Isobel, es tut mir leid!«, sagte Milly verzweifelt. »Ich hab’s nicht so gemeint. So richtig alt ist er auch wieder nicht.« Sie hielt inne. »Ich bin mir sicher, ihr gebt ein tolles Paar ab.«
»Ein Paar alter Kauze.« Isobel blinkte, um rechts einzubiegen.
»Nicht!« Milly prustete wieder los und hielt sich den Mund fest zu. »Ich glaub’s einfach nicht! Meine Schwester hat eine heimliche Affäre mit Harry Pinnacle. Ich wusste doch, dass du was im Schilde führtest. Aber darauf wäre ich in einer Million Jahren nicht gekommen!« Sie sah hoch. »Weiß sonst schon jemand davon?«
»Simon.«
»Du hast es Simon vor mir erzählt?«, fragte Milly verletzt. Isobel verdrehte aufgebracht die Augen.
»Milly, du klingst genau wie Mummy! Und nein, das habe ich nicht. Er ist uns draufgekommen.«
»Was, im Bett?«
»Nein, nicht im Bett!«
Milly kicherte.
»Tja, woher soll ich das wissen? Hätte ja sein können.« Sie studierte Isobels Profil. »Du kannst Geheimnisse sehr gut für dich behalten, weißt du?«
»Das Kompliment kann ich nur erwidern!«, versetzte Isobel.
»Ja, stimmt wahrscheinlich«, sagte Milly nach einer Pause. »Hast recht. Aber weißt du …« Sie streckte ihre Beine aus und stellte ihre Füße aufs Armaturenbrett. »Ich habe meine Ehe mit Allan nie direkt als ein Geheimnis betrachtet.«
»Was war es denn dann?«
»Ich weiß nicht«, meinte Milly vage. Sie dachte einen Augenblick nach. »Ein Geheimnis ist etwas, das man verbergen muss. Aber das war mehr wie … etwas aus einer anderen Welt. Etwas, das in dieser Welt nie wirklich existiert hat.« Sie starrte aus dem Fenster. »Ich denke immer noch ein bisschen so darüber. Wenn es niemand herausgefunden hätte, dann hätte es auch nicht existiert.«
»Du bist verrückt.« Isobel blinkte nach links.
»Bin ich nicht!« Milly deutete auf ihre Füße, die in pinkfarbenes Wildleder gehüllt waren. »Übrigens, wie gefallen dir meine neuen Schuhe?«
»Sehr hübsch.«
»Spottbillig. Simon würde sie hassen.« Aus ihren Worten war leichte Genugtuung herauszuhören. »Hab mir auch schon überlegt, ob ich mir nicht die Haare abschneiden lasse.«
»Gute Idee«, sagte Isobel geistesabwesend.
»Ich will sie mir bleichen lassen. Und mir einen Nasenring anbringen lassen.« Sie grinste Isobel an. »Oder so was.«
Als sie sich Pinnacle Hall näherten, wurde Milly plötzlich ihrer Umgebung gewahr, und sie versteifte sich.
»Isobel, was machen wir?«
»Wir fahren nach Pinnacle Hall.«
»Das sehe ich. Aber wieso?«
Eine Weile gab Isobel keine Antwort.
»Ich denke, wir sollten warten, bis wir dort sind«, sagte sie schließlich.
»Ich möchte Simon nicht sehen«, meinte Milly, »falls es das ist, was du denkst. Wenn du irgendein Treffen arrangiert hast, das kannst du vergessen. Ich will ihn nicht sehen.«
»Weißt du, er ist heute Nachmittag vorbeigekommen, um sich zu entschuldigen. Er hat dir Blumen mitgebracht. Aber Esme hat ihn nicht reingelassen.« Sie drehte sich zu Milly um. »Na, willst du ihn jetzt sehen?«
»Nein«, erwiderte Milly nach einer Pause. »Es ist zu spät. Er kann seine Worte nicht wieder rückgängig machen.«
»Also, wenn du meine unmaßgebliche Meinung hören willst«, sagte Isobel, als sie sich den Toren von Pinnacle Hall näherten, »ich glaube, dass es ihm aufrichtig leidtut.«
»Mir egal.« Als der Wagen knirschend die Auffahrt entlangfuhr, rutschte Milly tiefer in ihren Sitz. »Es macht mir nichts aus, Harry zu sehen«, sagte sie. »Aber Simon? Nein danke.«
»Schön«, sagte Isobel ruhig. »Seinetwegen fahren wir sowieso nicht her.« Sie stellte den Motor ab und sah Milly an. »Mach dich auf einen Schock gefasst.«
»Was?« Doch Isobel war schon ausgestiegen und marschierte auf das Haus zu. Zögernd stieg Milly ebenfalls aus und folgte ihr über den knirschenden Kies. Automatisch hob sie den Blick zu Simons Zimmer an der linken Hausecke. Die Vorhänge waren zugezogen, aber sie konnte einen dünnen Lichtstreifen sehen. Vielleicht stand er dahinter und beobachtete sie. Beklommen beschleunigte sie ihren Schritt und fragte sich, wovon Isobel wohl gesprochen hatte. Als sie sich der Eingangstür näherten, ging diese plötzlich auf, und im Schatten erschien eine hoch gewachsene Gestalt.
»Simon!«, rief Milly spontan.
»Nein«, ertönte Ruperts gedämpfte Stimme gut hörbar in der Abendluft; als er weiter vortrat, wurde unter dem Licht sein blondes Haar sichtbar. »Milly, ich bin’s.« Überrascht blieb Milly stehen.
»Rupert?«, meinte sie ungläubig. »Was machst du denn hier? Du warst doch in London.«
»Ich bin mit dem Zug hergekommen. Ich musste dich sehen. Bei dir zu Hause war niemand, also bin ich hier.«
»Dann hast du es ja wohl schon gehört.« Milly trat von einem Fuß auf den anderen. »Es ist alles ans Licht gekommen. Die Hochzeit ist geplatzt.«
»Ich weiß. Deswegen bin ich hier.« Er rieb sich das Gesicht, dann sah er auf. »Milly, ich habe Allan für dich ausfindig gemacht.«
»Du hast ihn gefunden? Schon?« Millys Stimme hob sich aufgeregt. »Wo ist er? Ist er mitgekommen?«
»Nein.« Rupert ging langsam auf sie zu und ergriff ihre Hände. »Milly, ich habe schlechte Nachrichten. Allan ist … Allan ist tot. Er ist vor vier Jahren gestorben.«
Fassungslos sah Milly ihn an. Es war, als hätte man ihr einen Eimer eiskaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Das war einfach nicht wahr. Allan konnte nicht tot sein. Leute seines Alters starben nicht. Das war lächerlich.
Während sie Rupert anstarrte, erwachte in ihr unvermittelt der Wunsch loszukichern, das Ganze in den Scherz zu verwandeln, der es sicher war. Doch Rupert lächelte oder lachte nicht. Er sah sie mit seltsamer Verzweiflung an, als warte er auf eine Reaktion, eine Antwort. Milly zwinkerte ein paarmal und schluckte, die Kehle plötzlich wie ausgedörrt.
»Was … wie?«, brachte sie heraus. Bilder von Autounfällen kamen ihr in den Sinn. Von Flugzeugkatastrophen, übel zugerichteten Wrackteilen im Fernsehen.
»Leukämie«, erklärte Rupert.
»Er war krank?« Sie leckte sich die trockenen Lippen. »Er war krank, die ganze Zeit über?«
»Nicht, als wir ihn kannten. Erst danach.«
»Hat er … war es sehr schlimm?«
»Offenbar nicht.« Aus Ruperts Stimme konnte man heraushören, wie sehr er insgeheim litt. »Aber ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei.«
Eine Weile sah Milly ihn wortlos an.
»Das kann doch einfach nicht sein«, sagte sie schließlich. »Er hätte nicht sterben dürfen.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das ist so schrecklich ungerecht.«
»Ja«, erwiderte Rupert mit bebender Stimme. »Das ist es.«
Sie starrte ihn einen Augenblick an, und Tausende gemeinsamer Erinnerungen schienen zwischen ihnen hin und her zu wandern. Dann, aus einer Regung reinsten Instinkts heraus, breitete sie die Arme aus. Rupert fiel ihr halb entgegen und vergrub seinen Kopf an ihrer Schulter. Milly hielt ihn fest umschlungen und sah zum tintenblauen Himmel hinauf. Tränen verschleierten ihr den Blick auf die Sterne. Und als sich eine Wolke vor den Mond schob, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie Witwe war.
Als Isobel die Küche betrat, sah Simon argwöhnisch von seinem Platz an dem riesigen Refektoriumstisch auf. Er hielt ein Glas Wein in der Hand, vor ihm lag die Financial Times, aufgeschlagen zwar, aber – wie Isobel vermutete – ungelesen.
»Hi«, grüßte er sie.
»Hi.« Isobel nahm ihm gegenüber Platz und griff nach der Weinflasche. Eine Weile herrschte Stille. Sie musterte Simon neugierig. Er starrte nach unten und mied ihren Blick, als trüge er gerade irgendeinen inneren Kampf aus.
»Tja«, sagte er schließlich. »Du bist also schwanger. Gratulation.«
»Danke.« Sie lächelte ihn zaghaft an. »Ich freue mich wirklich sehr darüber.«
»Gut«, sagte Simon. »Das ist schön«. Er griff nach seinem Glas und trank einen großen Schluck.
»Es wird dein Halbbruder«, setzte Isobel hinzu. »Oder deine Halbschwester.«
»Ich weiß«, war Simons kurze Antwort. Isobel sah ihn mitfühlend an.
»Hast du Probleme damit?«
»Na, ein bisschen schon, wenn ich ehrlich bin.« Simon stellte sein Glas ab. »In einer Minute wirst du meine Schwägerin. Dann plötzlich doch nicht. Dann wirst du mit einem Mal meine Stiefmutter und bekommst ein Kind!«
»Weiß schon«, meinte Isobel. »Es geht alles ein bisschen plötzlich. Tut mir leid. Wirklich.« Nachdenklich nippte sie an ihrem Wein. »Wie willst du mich übrigens nennen? ›Stiefmutter‹ scheint mir doch ein bisschen übertrieben. Wie wär’s mit ›Mum‹?«
»Sehr witzig«, sagte Simon gereizt. Er trank einen Schluck Wein, nahm die Zeitung zur Hand und legte sie wieder fort. »Wo zum Teufel ist Milly? Die brauchen ganz schön lange, findest du nicht?«
»Ach komm. Gib dem Mädchen eine Chance. Sie hat gerade erfahren, dass ihr Mann tot ist.«
»Ich weiß«, sagte Simon. »Ich weiß. Aber trotzdem …« Er stand auf und ging ans Fenster, dann wandte er sich um. »Na, was hältst du von diesem Rupert?«
»Ich weiß nicht. Ich muss sagen, ich habe ein totales Arschloch erwartet. Aber dieser Typ wirkt bloß …« Sie dachte einen Augenblick nach. »Sehr traurig. Er wirkt bloß sehr traurig.«
»In Wahrheit«, sagte Rupert, »hätte ich sie nie heiraten sollen.« Er beugte sich vor, den Kopf müde auf die Hände gestützt. Neben ihm schlang Milly die Arme fester um ihre Knie. Beide saßen sie auf einer niedrigen Mauer hinter dem Bürotrakt; über ihnen hing, wie ein zweiter Mond, die alte Stalllaterne. »Ich wusste doch, was ich war. Ich wusste, dass ich eine Lüge lebte. Aber, weißt du, ich dachte, es ginge.« Unglücklich blickte er auf. »Ich dachte wirklich, es ginge!«
»Was, dachtest du, ginge?«, fragte Milly.
»Ein guter Ehemann zu sein! Ein normaler, anständiger Ehemann. Ich dachte, ich könnte all die Dinge tun, die andere tun. Dinnerpartys geben, zur Kirche gehen und unseren Kindern bei einem Krippenspiel zuschauen …« Er brach ab und starrte in die Dunkelheit. »Weißt du, wir haben versucht, ein Kind zu bekommen, letztes Jahr war Francesca schwanger. Im März wäre es gekommen. Aber sie hat es verloren. Nun werden alle Gott danken, dass sie eine Fehlgeburt hatte, oder?«
»Nein«, meinte Milly unsicher.
»Ach, natürlich. Sie werden das für einen Segen halten.« Mit blutunterlaufenen Augen sah er auf. »Vielleicht war das selbstsüchtig. Aber ich wollte dieses Kind. Ich wollte es unbedingt. Und ich …«, er zögerte, »ich wäre ihm ein guter Vater gewesen.«
»Es hätte von Glück reden können, dich als Vater zu haben.«
»Das ist lieb von dir.« Ein schwaches Lächeln erschien auf Ruperts Gesicht. »Danke.«
»Aber ein Baby ist auch keine Garantie«, wandte Milly ein. »Ein Kind hält eine Ehe nicht zusammen.«
»Nein. Das stimmt.« Rupert dachte einen Augenblick nach. »Das Merkwürdige ist, dass wir meiner Ansicht nach nie eine Ehe hatten. Nicht das, was ich eine Ehe nennen würde. Wir waren wie zwei Züge, die nebeneinander herfahren, fast ohne sich der Existenz des anderen bewusst zu sein. Wir haben nie gestritten; wir sind nie aneinandergeraten. Ehrlich gesagt, kannten wir einander kaum. Es lief alles sehr höflich und angenehm ab – aber es war nicht real.«
»Warst du glücklich?«
»Ich weiß nicht. Ich habe zumindest so getan. Ich habe mir sehr oft selbst etwas vorgemacht.«
Stille trat ein. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Rupert streckte seufzend seine Beine von sich.
»Sollen wir reingehen?«, fragte er.
»Okay«, meinte Milly vage. Eine Weile sah Rupert sie neugierig an.
»Na, und was ist mit dir?«
»Wie, mit mir?«
»Durch Allans Tod ändert sich doch alles.«
»Ich weiß.« Einen Augenblick betrachtete sie eingehend ihre Hände, dann stand sie auf. »Komm. Allmählich wird mir kalt.«
Als er hörte, wie die Haustür aufging, erhob sich Simon so abrupt, als hätte er einen Stromschlag erhalten. Er glättete sein Haar und ging linkisch auf die Küchentür zu, wobei er im vorhanglosen Fenster noch einmal sein Aussehen überprüfte.
»Vermutlich wird sie nicht mit dir sprechen wollen«, sagte Isobel. »Weißt du, du hast ihr wirklich wehgetan.«
»Ich weiß.« Bei der Tür blieb Simon stehen. »Ich weiß. Aber …« Er griff nach der Türklinke, zögerte einige Sekunden und drückte die Tür dann auf.
»Viel Glück!«, rief Isobel ihm hinterher. Milly stand gleich hinter der Tür, die Hände tief in den Taschen vergraben. Als sie Simons Schritte hörte, sah sie auf. Simon blieb stehen und starrte sie an. Plötzlich kam sie ihm anders vor; als hätten die Ereignisse der vergangenen beiden Tage eine völlig neue Person aus ihr gemacht.
»Milly«, sagte er zittrig. Sie nickte kaum merklich. »Milly, es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich habe das alles nicht so gemeint. Ich hatte kein Recht, so mit dir zu reden. Ich hatte kein Recht, diese Dinge zu sagen.«
»Nein«, sagte Milly leise. »Das stimmt.«
»Ich war verletzt, und ich war so geschockt. Und ich bin ohne nachzudenken über dich hergefallen. Aber wenn du mir noch mal eine Chance gibst, dann … dann mache ich das wieder gut.« Plötzlich glänzten Tränen in Simons Augen. »Milly, mir ist es egal, ob du schon mal verheiratet warst. Und wenn du sechs Kinder hättest! Ich möchte einfach nur mit dir zusammen sein.« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Und deshalb bitte ich dich, mir zu verzeihen und mir noch eine Chance zu geben.«
Eine lange Pause entstand.
»Ich verzeihe dir«, sagte Milly schließlich und senkte den Blick. »Ich verzeihe dir, Simon.«
»Wirklich?« Simon sah sie an. »Wirklich?«
Sie zuckte leicht mit den Achseln. »Deine Reaktion war verständlich, ich hätte von Anfang an reinen Tisch machen müssen.«
Eine unsichere Stille trat ein. Simon ging auf sie zu und wollte Millys Hand ergreifen, aber sie zuckte zurück. Er ließ ihre Hände los und räusperte sich.
»Ich habe gehört, was mit ihm passiert ist. Es tut mir leid, wirklich.«
»Ja.«
»Du musst …«
»Ja.«
»Aber …« Er zögerte. »Du weißt doch, was das für uns bedeutet?« Milly sah ihn an, als spräche er eine andere Sprache.
»Was denn?«
»Nun, das bedeutet, dass wir heiraten können.«
»Nein, Simon.« Simon erblasste leicht.
»Wie meinst du das?«, sagte er betont locker. Milly begegnete kurz seinem Blick, dann sah sie fort.
»Ich meine damit, dass wir nicht heiraten können.« Und während er sie noch ungläubig anstarrte, machte sie kehrt und verließ das Haus.