12. Kapitel


Isobel wachte mit dröhnenden Kopfschmerzen und Übelkeitsgefühlen auf. Sie blieb regungslos liegen, bemüht, die Übelkeit kraft ihres Willens zu überwinden – bis ein plötzlicher Drang, sich zu übergeben, sie aus ihrem Bett, aus ihrem Zimmer, durch die Diele und ins Badezimmer trieb.

»Es ist ein Kater«, erklärte sie dem Badezimmerspiegel. Aber ihr Spiegelbild blickte skeptisch drein. Sie spülte sich den Mund aus, setzte sich auf den Badewannenrand und stützte den Kopf auf die Hand. Wieder einen Tag älter. Einen Tag weiter entwickelt. Vielleicht hatte es inzwischen schon Gesichtszüge. Vielleicht hatte es kleine Hände, kleine Zehen. Es war ein Junge. Oder ein Mädchen. Eine kleine Person. Die in ihr wuchs, sich auf das Leben freute.

Eine weitere Welle von Übelkeit erfasste sie, und sie hielt sich die Hand vor den Mund. Diese Unschlüssigkeit machte sie krank. Sie kam einfach zu keiner Entscheidung, konnte nicht einen klaren Gedanken fassen. Die Vernunft rang mit Bedürfnissen, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte, mit jedem Tag schien ihr Denkvermögen ein wenig nachzulassen. Das Offensichtliche schien nun weniger offensichtlich, die logischen Ansichten, die sie einst bereitwillig vertreten hatte, schienen in einem Meer törichter Empfindungen unterzugehen.

Schwankend stand sie auf und ging langsam auf den Gang hinaus. In der Küche hörte sie Rumoren, und sie beschloss, hinunterzugehen und sich eine Tasse Tee zu machen. Als sie hereinkam, stand James in seiner Arbeitskluft am Aga und las die Zeitung.

»Guten Morgen!«, grüßte er sie. »Na, eine Tasse Tee?«

»Furchtbar gern.« Isobel setzte sich an den Tisch und musterte ihre Finger. James stellte einen Becher vor sie hin, sie nippte daran und runzelte dann die Stirn. »Ich glaube, da muss Zucker rein.«

»Aber du nimmst doch nie Zucker«, meinte James verdutzt.

»Nein«, sagte Isobel. »Aber jetzt vielleicht schon.« Sie rührte zwei Löffel Zucker in ihren Tee und schlürfte ihn genüsslich.

»Nun«, sagte James. »Milly hatte also recht.«

»Ja.« Isobel starrte in ihren Becher. »Milly hatte recht.«

»Und der Vater?«

Isobel schwieg.

»Verstehe.« James räusperte sich. »Hast du schon beschlossen, was du tun wirst? Ich nehme an, du stehst noch ganz am Anfang.«

»Ja. Und nein, ich bin noch zu keinem Entschluss gekommen.« Isobel blickte auf. »Ich nehme an, du denkst, ich sollte es loswerden, nicht? Vergessen, dass es je geschehen ist, und meine glänzende Karriere weiterverfolgen.«

»Nicht unbedingt«, erwiderte James nach einer Pause. »Außer …«

»Meine aufregende Karriere«, sagte Isobel bitter. »Mein wunderbares Leben in Flugzeugen, Hotelzimmern und mit fremden Geschäftsmännern, die versuchen, mich anzumachen, weil ich immer allein bin.« James sah sie mit großen Augen an.

»Genießt du deine Arbeit nicht? Ich habe gedacht – wie wir alle –, sie macht dir Spaß?«

»Macht sie ja auch. Meistens jedenfalls. Aber manchmal fühle ich mich einsam, und manchmal habe ich es satt, und manchmal würde ich am liebsten alles für immer hinschmeißen. So wie die meisten Menschen.« Sie nippte an ihrem Tee. »Manchmal wünsch ich mir, ich würde heiraten, drei Kinder bekommen und schließlich als Geschiedene ein glückliches Dasein führen.«

»Davon hatte ich ja keine Ahnung, Schatz.« James runzelte die Stirn. »Ich dachte, du wärst gern Karrierefrau.«

»Ich bin keine Karrierefrau«, versetzte Isobel und knallte ihren Becher auf den Tisch. »Ich bin ein Mensch. Mit einer Karriere.«

»Ich wollte dich nicht …«

»Hast du aber!«, entgegnete Isobel verärgert. »Das ist das Einzige, was dich interessiert, stimmt’s? Meine Karriere und sonst gar nichts. Den ganzen Rest von mir hast du vergessen.«

»Nein! Das würde ich niemals tun!«

»Doch. Weil ich es selbst nämlich auch tue. Häufig sogar.«

Eine Pause trat ein. Isobel nahm eine Cornflakespackung, sah hinein, seufzte und stellte sie wieder fort.

James trank noch einen abschließenden Schluck Tee und griff dann nach seiner Aktentasche. »Ich fürchte, ich muss los.«

»Du gehst heute wirklich arbeiten?«

»Mir bleibt nicht viel anderes übrig. Momentan ist so einiges im Umbruch. Wenn ich mich nicht zeige, bin ich meinen Job morgen vielleicht schon los.«

»Wirklich?« Isobel sah schockiert auf.

»Na ja, ganz so schlimm ist es nicht.« James schenkte ihr ein halbherziges Lächeln. »Trotzdem, hingehen muss ich.«

»Das tut mir leid. Das wusste ich ja nicht.«

»Nein. Nun«, James machte eine Pause, »solltest du auch nicht. Ich war ja nicht direkt mitteilsam.«

»Na ja, zu Hause war wohl schon genug los.«

»So könnte man’s ausdrücken«, sagte James. Isobel grinste ihn an.

»Ich wette, du bist eigentlich ganz froh, das alles los zu sein.«

»Nichts bin ich los. Hab heute früh schon einen Anruf von Harry Pinnacle bekommen. Er will mich heute Mittag treffen. Zweifelsohne, um über die Kosten dieses ganzen Fiaskos zu sprechen.« Er zog eine Grimasse. »Harry Pinnacle schnippt mit den Fingern, und alle anderen müssen springen.«

»Tja, na dann viel Glück.«

An der Tür blieb James noch einmal stehen.

»Wen hättest du denn überhaupt geheiratet?«, fragte er. »Als Vater deiner drei Kinder?«

»Keine Ahnung. Mit wem war ich denn zusammen? Dan Williams, schätze ich mal.« James stöhnte auf.

»Schatz, ich denke, du hast den richtigen Entschluss gefasst.« Plötzlich hielt er inne. »Ich meine, das Kind ist doch nicht …«

»Nein.« Isobel musste unwillkürlich kichern. »Keine Bange. Es ist nicht von ihm.«

Als Simon aufwachte, fühlte er sich völlig zerschlagen. Er hatte Kopfschmerzen, seine Augen brannten, er fühlte sich unendlich bedrückt. Durch den Vorhang stahl sich ein winterlicher Sonnenstrahl, von unten zogen vermischte Düfte vom Kaminfeuer in der Halle und von frisch aufgebrühtem Kaffee empor. Aber nichts konnte seinen Kummer, seine Enttäuschung und vor allem das schmerzliche Gefühl, versagt zu haben, lindern.

Die zornigen Worte, die er Milly am Abend an den Kopf geworfen hatte, gingen ihm noch mit einer solchen Klarheit im Kopf herum, als hätte er sie gerade erst geäußert. Wie eine Szene aus einem Stück, die er auswendig gelernt hatte. Eine Szene, die er, wie es nun schien, irgendwie hätte vorausahnen müssen. Er spürte einen schmerzlichen Stich in der Brust, drehte sich um und vergrub den Kopf unter dem Kissen. Warum hatte er das nicht kommen sehen? Wie hatte er sich in dem Glauben wiegen können, er könne es zu einer glücklichen Ehe bringen? Warum konnte er nicht einfach die Tatsache akzeptieren, dass er in jeder Hinsicht ein Versager war? Er hatte beruflich schmählich versagt, und nun tat er es auch in puncto Ehe. Zumindest, dachte Simon bitter, hatte es sein Vater tatsächlich bis vor den Traualtar gebracht. Zumindest war sein Vater nicht zwei Abende vor seiner Hochzeit im Stich gelassen worden, verflixt noch mal.

Plötzlich sah er Milly vor sich, mit rotem und verweintem Gesicht, todunglücklich. Und einen Augenblick spürte er, wie er schwach wurde. Einen Moment überkam ihn der Wunsch, zu ihr zu gehen. Ihr zu sagen, dass er sie immer noch liebte, dass er sie immer noch heiraten wollte. Er würde ihre armen, geschwollenen Lippen küssen, mit ihr schlafen und versuchen, einen Strich unter das Vergangene zu machen. Die Versuchung war da. Sie war riesig, wenn er ehrlich war.

Doch es ging nicht. Wie konnte er Milly nun noch heiraten? Wie konnte er zuhören, wie sie ein Versprechen ablegte, das sie zuvor schon jemand anderem gemacht hatte? Wie konnte er den Rest seines Lebens mit der Frage verbringen, was sie noch vor ihm geheim hielt? Die Sache hatte nicht nur einen kleinen Riss hinterlassen, den man zusammenflickte, und alles war wieder in Ordnung. Eine riesige Kluft hatte sich aufgetan, die alles und jedes veränderte, die ihre Beziehung in etwas verwandelte, das er nicht mehr wiedererkannte.

Unwillkürlich erinnerte er sich an den Sommerabend, an dem er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Sie hatte sich einwandfrei verhalten: hatte ein bisschen geweint, ein bisschen gelacht, war in Bewunderungsrufe über den Ring ausgebrochen, den er ihr geschenkt hatte. Aber was hatte sie sich wirklich dabei gedacht? Hatte sie sich über ihn lustig gemacht? Hatte sie ihre geplante Hochzeit überhaupt je ernst genommen? Teilte sie überhaupt auch nur eines seiner Ideale?

Einige Minuten lag er da und quälte sich mit Bildern von Milly, versuchte das, was er nun über sie wusste, mit den Erinnerungen an sie als seine Verlobte in Einklang zu bringen. Sie war schön, süß, charmant. Sie war seines Vertrauens unwürdig, geheimnistuerisch, falsch. Das Schlimmste war, dass sie offenbar nicht einmal begriff, was sie getan hatte. Sie hatte den Umstand, dass sie mit einem anderen Mann verheiratet war, als eine Lappalie abgetan, die man beiseiteschieben und ignorieren konnte.

Ein wütender Schmerz pochte in ihm, und er setzte sich auf und versuchte, den Kopf frei zu bekommen, versuchte, an etwas anderes zu denken. Er zog die Vorhänge auf und begann, sich anzuziehen, ohne auf den schönen Ausblick zu achten. Er würde sich in die Arbeit stürzen. Er würde einen Neuanfang machen, und er würde darüber hinwegkommen. Vielleicht dauerte das eine Weile, aber er würde es schaffen.

Flott stieg er die Treppe hinab und betrat das Frühstückszimmer. Harry saß am Tisch, hinter einer Zeitung versteckt.

»Guten Morgen«, sagte er.

»Guten Morgen.« Simon blickte argwöhnisch auf und versuchte, in der Stimme des Vaters einen spöttischen Unterton zu entdecken. Aber dieser sah mit offenbar ehrlicher Besorgnis zu ihm auf.

»Na«, sagte er, als Simon sich gesetzt hatte. »Wirst du mir erzählen, worum das Ganze sich nun eigentlich dreht?«

»Die Hochzeit ist abgesagt.«

»So viel weiß ich schon. Aber wieso? Oder möchtest du es mir nicht erzählen?«

Simon schwieg und griff nach der Kaffeekanne. Am Abend zuvor war er hereingestürmt, zu wütend und gedemütigt, um noch mit jemandem zu sprechen. Er fühlte sich immer noch gedemütigt, war immer noch wütend, neigte immer noch dazu, Millys Verrat für sich zu behalten. Andererseits war man in seinem Kummer nicht gern allein.

»Sie ist schon verheiratet«, sagte er abrupt. Harry ließ die Zeitung fallen.

»Schon verheiratet? Mit wem denn, um Himmels willen?«

»Mit irgendeinem schwulen Amerikaner. Sie hat ihn vor zehn Jahren kennen gelernt. Er wollte in England bleiben, und um ihm einen Gefallen zu tun, hat sie ihn geheiratet!«

»Na, Gott sei Dank!«, erwiderte Harry. »Ich dachte schon, du meintest, wirklich verheiratet.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Und wo ist das Problem? Kann sie sich nicht scheiden lassen?«

»Das Problem?« Simon starrte seinen Vater fassungslos an. »Das Problem ist, dass sie mich angelogen hat! Das Problem ist, dass ich ihr kein Wort mehr glauben kann! Ich hatte ein bestimmtes Bild von ihr – und nun habe ich entdeckt, dass sie jemand anderes ist. Sie ist gar nicht die Milly, die ich kannte.«

Harry starrte ihn schweigend an.

»Das ist alles?«, fragte er schließlich. »Ist das der einzige Grund, warum alles abgesagt ist? Weil Milly vor zehn Jahren irgendeinen ausgekochten Burschen geheiratet hat?«

»Ja, reicht das denn nicht?«

»Natürlich nicht!« Harry geriet in Rage. »Das reicht nicht annähernd! Ich dachte, zwischen euch gäbe es echte Probleme.«

»Aber so ist es doch auch! Sie hat mich angelogen!«

»So, wie du reagierst, wundert mich das nicht!«

»Ja, wie soll ich denn reagieren?«, entrüstete sich Simon. »Vertrauen war doch die Basis unserer Beziehung. Jetzt kann ich ihr nicht mehr vertrauen.« Er schloss die Augen. »Es ist aus.«

»Simon, für wen hältst du dich, verflucht noch mal?«, rief Harry. »Für den Erzbischof von Canterbury? Warum ist es so wichtig, dass sie dich angelogen hat? Sie hat dir doch jetzt die Wahrheit gesagt, oder?«

»Bloß, weil sie musste.«

»Na und?«

»Davor war alles perfekt!«, brüllte Simon verzweifelt. »Alles war perfekt! Und nun ist es kaputt!«

»Ach, reiß dich zusammen!«, donnerte Harry. Simon riss schockiert den Kopf hoch. »Und benimm dich einmal in deinem Leben nicht wie ein maßlos verzogenes Bürschchen! Jetzt ist deine perfekte Beziehung also nicht so perfekt, wie du gedacht hast. Na und? Heißt das, dass du sie deshalb wegschmeißen musst?«

»Das verstehst du nicht.«

»Ich verstehe vollkommen. Du willst dich in deiner vollkommenen Ehe sonnen, mit deiner vollkommenen Frau und deinen vollkommenen Kindern, und dich vor dem Rest der Welt damit brüsten. Stimmt’s nicht? Und nun, da du einen Makel entdeckt hast, erträgst du es nicht. Da wird dir aber gar nichts anderes übrig bleiben, Simon! Die Welt ist nämlich voller Mängel. Und, um ehrlich zu sein, viel besser als das, was du mit Milly hattest, wird’s nicht.«

»Und was, zum Teufel, weißt du schon davon?«, brauste Simon auf. Er stand auf. »Was weißt du schon von glücklichen Beziehungen? Warum sollte ich auch nur ein einziges Wort von dir ernst nehmen?«

»Weil ich dein Vater bin, verflucht noch mal!«

»Ja«, erwiderte Simon bitter. »Als ob mir das nicht nur zu klar wäre.« Er stieß seinen Stuhl zurück, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Raum. Harry sah ihm nach und fluchte leise.

Um neun Uhr klingelte es. Isobel, die gerade in die Küche hinuntergekommen war, zog eine Grimasse. Sie trottete zur Haustür und öffnete. Ein großer weißer Lieferwagen parkte vor dem Haus, und ein Mann stand vor der Tür, umgeben von weißen Schachteln.

»Die Lieferung des Hochzeitskuchens«, verkündete er. »Auf den Namen Havill.«

»O Gott!« Isobel starrte auf die Schachteln. »O Gott!« Sie ging in die Knie, lüpfte einen der Deckel und erhaschte einen Blick von einer glatten weißen Glasur und einer Zuckerrose. »Hören Sie.« Sie erhob sich wieder. »Haben Sie vielen Dank. Aber bei uns hat sich im Ablauf was geändert.«

»Ist das die falsche Adresse?« Der Mann schielte auf einen Zettel. »Bertram Street eins.«

»Nein, die Adresse stimmt schon«, sagte Isobel. »Das schon.«

Sie starrte an ihm vorbei zum Lieferwagen, und Niedergeschlagenheit überkam sie. Dieser Tag hätte ein glücklicher Tag sein sollen, voll erwartungsvoller Vorfreude, geschäftigem Treiben und allerletzten Vorbereitungen. Nicht so.

»Das Problem ist«, erklärte sie, »dass wir keinen Hochzeitskuchen mehr brauchen. Können Sie ihn wieder mitnehmen?«

Der Mann lachte höhnisch auf.

»Und den Kuchen den ganzen Tag im Lieferwagen mit rumfahren? Wohl kaum!«

»Aber wir brauchen ihn nicht.«

»Meine Liebe, ich fürchte, das ist nicht mein Problem. Sie haben ihn bestellt – wenn Sie ihn zurückgeben wollen, dann ist das eine Sache zwischen Ihnen und der Firma. Wenn Sie jetzt bitte einfach hier unterschreiben« – er drückte ihr einen Kuli in die Hand –, »ich hole die restlichen Schachteln.« Isobel riss den Kopf hoch.

»Die restlichen? Herrje, wie viele denn noch?«

»Insgesamt zehn.« Der Mann sah auf seinem Zettel nach. »Einschließlich Ständern und Zubehör.«

»Zehn«, wiederholte Isobel ungläubig.

»Das ist eine Menge Kuchen.«

»Ja«, sagte Isobel, während er zurück zu seinem Lieferwagen verschwand. »Vor allem für gerade mal vier Personen.«

Als Olivia die Treppe hinunterkam, standen die weißen Schachteln bereits ordentlich aufgestapelt in einer Dielenecke.

»Wusste nicht, was ich sonst damit machen soll«, erklärte Isobel, die aus der Küche kam.

Sie sah ihre Mutter an und erbleichte. Olivias Gesicht war eine wilde Mischung aus grellem Make-up und Todesblässe. Sie klammerte sich fest an das Geländer und sah aus, als könne sie jeden Augenblick zusammenklappen.

»Ist dir nicht gut, Mummy?«

»Geht gleich wieder«, erwiderte Olivia mit merkwürdiger Heiterkeit. »Ich habe bloß nicht viel geschlafen.«

»Da bist du nicht die Einzige. Wir sollten uns alle noch mal ins Bett legen.«

»Tja, nun. Daraus wird wohl nichts, oder?« Olivia lächelte Isobel angespannt an. »Wir müssen eine Hochzeit absagen. Telefonate führen. Ich habe eine Liste gemacht!«

Isobel zuckte zusammen.

»Mummy, ich weiß, wie schwer das für dich ist.«

»Auch nicht schwerer als für alle anderen.« Olivia reckte das Kinn. »Warum sollte es für mich schwerer sein? Schließlich ist das nicht das Ende der Welt, oder? Schließlich ist es nur eine Hochzeit!«

»Nur eine Hochzeit«, sagte Isobel. »Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass es so einfach ist.«

Gegen elf klopfte es an Millys Tür.

»Bist du wach?«, erkundigte sich Esme. »Isobel ist am Telefon.«

»Oh.« Milly setzte sich auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Ihr dröhnte der Kopf, ihre Stimme klang wie die einer Fremden. Sie versuchte, Esme anzulächeln. Aber ihr Gesicht fühlte sich trocken und alt an, und ihr Hirn kam nicht in Schwung. Was ging überhaupt vor? Warum wachte sie in Esmes Haus auf?

»Ich hole das Handy.« Esme verschwand.

Milly sank aufs Kissen zurück, starrte zu Esmes pistazienfarbener Decke empor und fragte sich, warum ihr alles so unwirklich vorkam. Und dann erinnerte sie sich schlagartig. Die Hochzeit war geplatzt.

Die Hochzeit war geplatzt. Sie ließ sich den Gedanken versuchsweise durch den Kopf gehen und wartete auf einen Stich im Herzen, einen erneuten Tränenausbruch. Aber sie hatte keine Tränen mehr, sie war innerlich ganz ruhig, die schmerzlichen Gefühle vom Vorabend hatte der Schlaf gedämpft. Und doch konnte sie es nicht fassen. Die Hochzeit – um die sich in den letzten Wochen alles gedreht hatte – würde nicht stattfinden. Wie war das möglich? Wie konnte der Mittelpunkt ihres Lebens einfach verschwinden? Es kam ihr vor, als wäre der Gipfel, zu dem sie hinaufgestiegen war, plötzlich verschwunden, und sie wäre zurückgeblieben, allein an die Felsen geklammert, desorientiert über die Felskante lugend.

»So, hier bitte«, sagte Esme, die wieder an ihrem Bett erschienen war. »Hättest du gern einen Kaffee?«

Milly nickte und nahm das Telefon.

»Hi«, sagte sie mit kratziger Stimme.

»Hi«, ertönte Isobels Stimme am anderen Ende der Leitung. »Alles okay mit dir?«

»Ja, ich schätze schon.«

»Hat Simon sich schon gerührt?«

»Nein.« Milly sprach schneller. »Wieso? Hat er …«

»Nein«, sagte Isobel rasch. »Nein, hat er nicht. Ich habe mich nur gefragt. Für den Fall.«

»Oh. Tja, nein. Ich habe geschlafen. Ich habe mit niemandem gesprochen.«

Eine Pause trat ein. Milly sah zu, wie Esme die Vorhänge öffnete und sie mit dicken, geflochtenen Kordeln zurückband. Es war ein strahlender, klirrend kalter Tag. Esme schenkte Milly ein Lächeln und verließ dann auf leisen Sohlen den Raum.

»Isobel, es tut mir wirklich leid«, sagte Milly langsam. »Dass ich dich da so mit reingeritten habe.«

»Oh, das«, sagte Isobel. »Keine Sorge. Das macht nichts.«

»Ich bin einfach durchgedreht. Ich hab bloß – na ja. Du weißt schon.«

»Natürlich. Ich hätte genau dasselbe gemacht.«

»Nein, bestimmt nicht.« Milly grinste schwach. »Du bist zigmal beherrschter als ich.«

»Na, trotzdem, mach dir keine Sorgen. Es war kein Problem.«

»Ehrlich? Hat Mummy dir nicht den ganzen Tag Vorträge gehalten?«

»Sie hatte gar nicht die Zeit dazu. Wir haben viel zu viel zu tun.«

»Oh.« Milly runzelte die Stirn. »Womit?«

Stille.

»Damit, die Hochzeit abzublasen«, erwiderte Isobel schließlich kummervoll.

»Oh«, sagte Milly wieder. Ihr wurde schwer ums Herz. »Oh, verstehe. Natürlich.«

»O Gott, Milly. Tut mir leid. Ich dachte, das wäre dir klar.«

»War’s auch. Klar. Natürlich müsst ihr sie abblasen.«

»Deshalb rufe ich nämlich auch an. Ich weiß, es ist schrecklich, das gerade jetzt zu fragen. Aber gibt es noch jemanden, den ich anrufen muss? Jemanden, der nicht im roten Buch steht?«

»Weiß nicht.« Milly schluckte. »Wem hast du’s denn schon gesagt?«

»Etwa der Hälfte unserer Gäste. Bis zu den Madisons. Harrys Leute übernehmen seinen Teil.«

»Wow.« Milly kam sich dumm vor, und ihr stiegen Tränen in die Augen. »Ihr seid ja wirklich von der schnellen Truppe!«

»Geht nicht anders! Manche hätten sich ja heute schon auf die Reise gemacht. Die mussten doch gleich Bescheid bekommen.«

»Stimmt.« Milly holte tief Luft. »Ich steh nur mal wieder auf der Leitung. Tja. Wie geht ihr vor?«

»Wir gehen die Liste in dem roten Buch durch. Alle … alle haben es wirklich nett aufgenommen.«

»Was erzählt ihr ihnen denn?« Milly wand das Betttuch um die Finger.

»Wir sagen, du seist krank. Wir wussten nicht, was wir sonst sagen sollten.«

»Kaufen sie euch das ab?«

»Keine Ahnung. Ein paar schon.«

Schweigen.

»Okay«, sagte Milly schließlich. »Also, wenn mir noch jemand einfällt, ruf ich an.«

»Wann kommst du wieder heim?«

»Weiß nicht.« Milly schloss die Augen und dachte an ihr Zimmer zu Hause. Geschenke und Karten überall, der Koffer für die Flitterwochen aufgeklappt am Boden, das Brautkleid, das in der Ecke hing, in Tuch gehüllt wie ein Geist. »Noch nicht. Erst wenn …«

»Klar«, erwiderte Isobel nach einer Pause. »Das verstehe ich. Also, hör zu. Ich komm mal auf einen Sprung vorbei. Wenn ich hier fertig bin.«

»Isobel … danke. Dass du das alles tust.«

»Keine Ursache. Irgendwann wirst du für mich das Gleiche tun.«

»Ja.« Milly lächelte matt. »Denke schon.«

Sie legte auf. Als sie aufsah, entdeckte sie Esme mit einem Tablett in der Tür, die sie nachdenklich betrachtete.

»Kaffee.« Sie stellte es ab. »Um zu feiern.«

»Feiern was?«, fragte Milly ungläubig.

»Dein Entrinnen.« Esme kam mit zwei Porzellanbechern zu ihr. »Dein Entrinnen vor der Ehe.«

»Es kommt mir gar nicht wie ein Entrinnen vor.«

»Natürlich nicht!«, rief Esme aus. »Noch nicht. Aber das kommt noch. Denk doch nur mal nach, Milly – du bist nicht länger gebunden. Du kannst tun und lassen, was du willst. Du bist eine unabhängige Frau!«

»Mag sein.« Milly starrte kummervoll in ihren Kaffee.

»Denk nicht so viel nach, Schatz! Trink deinen Kaffee, und schau dir irgendetwas Nettes im Fernsehen an. Und dann gehen wir essen.«

Bis auf ein paar vereinzelte Männer, die zu ihrem Kaffee Zeitung lasen, war das Restaurant leer. Rupert sah sich verlegen um und überlegte, wer von den Gästen Martin sein mochte. Schwarze Jeans, hatte er gesagt. Aber schwarze Jeans trugen die meisten hier. In seinem Anzug und teuren Hemd kam er sich zu schick vor.

Nachdem er am Abend zuvor die Kanzlei verlassen hatte, war er eine Weile ziellos herumgelaufen. Dann, als der Morgen nahte, hatte er sich in einem zweifelhaften Hotel in Bayswater ein Zimmer genommen. Er hatte wach gelegen und zur fleckigen Decke hochgestarrt. Nach dem Frühstück in einem Café war er mit einem Taxi heimgefahren und hatte sich in der Hoffnung ins Haus geschlichen, Francesca sei schon gegangen. Er kam sich wie ein Einbrecher vor, als er sich duschte, rasierte und umzog. Er hatte sich eine Tasse Kaffee gemacht, ihn in der Küche getrunken und dabei in den Garten gestarrt. Dann hatte er den Becher in die Geschirrspülmaschine gestellt, auf die Uhr gesehen und seine Aktentasche genommen. Vertraute Handlungen, Routinebewegungen. Einen Augenblick lang kam es ihm vor, als ginge sein Leben weiter wie bisher.

Aber sein Leben war nicht mehr das gleiche. Es würde nie mehr das gleiche sein. Sein Innerstes war nach außen gekehrt worden, die Wahrheit war ans Tageslicht gekommen, und nun musste er entscheiden, wie er damit umging.

»Rupert?« Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, und er sah auf. Vor ihm stand ein junger Mann in schwarzen Jeans mit kurz geschorenen Haaren und Ohrring. Mit leichtem Unbehagen ging Rupert auf ihn zu.

»Guten Tag.« Ihm war bewusst, dass er gespreizt klang. »Wie geht’s?«

»Wir haben miteinander telefoniert«, sagte der junge Mann mit sanfter Stimme. »Ich bin Martin.«

»Ja.« Rupert drückte seine Aktentasche fest an sich. Plötzlich bekam er es mit der Angst zu tun. Hier war Homosexualität. Hier war seine eigene verborgene Seite, für alle sichtbar vor ihm. Er nahm Platz und schob den Stuhl etwas vom Tisch weg.

»Nett von Ihnen, dass Sie nach London gekommen sind«, sagte er steif.

»Kein Problem«, sagte Martin. »Ich bin mindestens einmal die Woche hier. Und wenn es wichtig ist …« Er breitete seine Hände aus.

»Ja.« Rupert vertiefte sich in die Speisekarte. Er würde sich den Brief und, wenn möglich, Allans Telefonnummer geben lassen und dann umgehend verschwinden.

»Ich glaube, ich nehme einen Kaffee«, sagte er, ohne aufzusehen. »Einen doppelten Espresso.«

»Ich habe auf Ihren Anruf gewartet«, erklärte Martin. »Allan hat mir eine Menge von Ihnen erzählt. Ich habe immer gehofft, Sie würden sich eines Tages auf die Suche nach ihm machen.«

»Was hat er Ihnen denn erzählt?« Rupert hob langsam den Kopf. Martin zuckte mit den Achseln.

»Alles.«

Rupert wurde feuerrot und legte die Speisekarte auf den Tisch. Er sah Martin an, auf demütigende Vorwürfe gefasst. Aber Martin blickte freundlich und verständnisvoll. Rupert räusperte sich.

»Wann haben Sie ihn kennen gelernt?«

»Vor sechs Jahren.«

»Hatten Sie … eine Beziehung mit ihm?«

»Ja«, erwiderte Martin. »Wir hatten eine sehr enge Beziehung.«

»Verstehe.«

»Nein, das glaube ich nicht. Wir waren keine Lover. Ich war sein Berater.«

»Oh«, sagte Rupert verwirrt. »War er …«

»Er war krank«, sagte Martin und blickte Rupert direkt in die Augen.

Schlagartig wurde Rupert die tödliche Bedeutung von Martins Worten klar, und er senkte den Blick. Hier war sie, ohne Vorwarnung. Seine Strafe, das Ende des Kreislaufs. Er hatte gesündigt, und nun wurde er bestraft. Er hatte unaussprechliche Akte begangen. Nun musste er eine unaussprechliche Krankheit erleiden.

»AIDS«, sagte er ruhig.

»Nein.« In Martins Stimme trat ein Anflug von Verachtung. »Nicht AIDS. Leukämie. Er hatte Leukämie.«

Rupert hob ruckartig den Kopf. Martins Blick ruhte traurig auf ihm. Unvermittelt wurde Rupert übel, als wäre er in einem Alptraum gelandet. Um sein Gesichtsfeld begannen weiße Sterne zu tanzen.

»Leider«, sagte Martin. »Allan ist vor vier Jahren gestorben.«

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