Als James in das Pear and Goose kam, saß Harry mit einem Glas Bier in der Hand an der Bar. Es war ein kleiner Pub im Zentrum von Bath, gesteckt voll mit Touristen.
»Schön, dich zu sehen, James«, sagte er und erhob sich, um James die Hand zu schütteln. »Warte, ich besorg dir ein Bier.«
»Danke«, sagte James. Beide beobachteten wortlos, wie der Mann an der Bar ein Bier einschenkte, und James fiel auf, dass sie beide sich zum ersten Mal allein trafen.
»Zum Wohl!« Harry hob sein Glas.
»Zum Wohl.«
»Setzen wir uns doch.« Harry deutete auf einen Tisch in der Ecke. »Da drüben haben wir mehr Ruhe.«
»Ja.« James räusperte sich. »Ich nehme an, du willst mit mir über die Modalitäten der Hochzeit sprechen.«
»Wieso?« Harry machte ein überraschtes Gesicht. »Gibt’s da Probleme? Ich dachte, meine Leute würden das zusammen mit Olivia ins Reine bringen?«
»Ich meinte die finanzielle Seite«, erwiderte James steif. »Millys kleine Enthüllung hat dich ein Vermögen gekostet.«
Harry winkte ab. »Das ist doch unwichtig.«
»Nein, ist es nicht. Ich fürchte, ich habe nicht die Mittel, dir alles zurückzuzahlen. Aber falls wir zu einer Art Einigung kommen können …«
»James«, unterbrach ihn Harry. »Ich habe dich nicht hierher gebeten, um mit dir über Geld zu sprechen. Ich dachte bloß, du würdest vielleicht gern einen mit mir heben, okay?«
»Okay«, sagte James überrascht. »Ja, natürlich.«
»Dann setzen wir uns doch hin und trinken was, verflixt noch mal.«
Sie nahmen an dem Ecktisch Platz. Harry machte eine Tüte Chips auf und bot James welche an.
»Wie geht’s Milly?«, erkundigte er sich. »Alles in Ordnung?«
»Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht so genau. Sie ist bei ihrer Patentante. Wie geht’s Simon?«
»Dummer Junge.« Harry knabberte die Chips. »Heute Morgen habe ich ihm vorgeworfen, er sei ein verwöhnter Bengel.«
»Oh«, sagte James, unsicher, was er sagen sollte.
»Kaum taucht ein Problem auf, schon sucht er das Weite. Der erste Haken, und er schmeißt das Handtuch. Kein Wunder, dass er geschäftlich gescheitert ist.«
»Bist du nicht ein bisschen hart?«, protestierte James. »Es war ein Riesenschock für ihn. Für uns alle. Uns fällt es schon schwer genug, damit umzugehen, was muss Simon da erst empfinden …« Er schüttelte den Kopf.
»Ihr hattet also wirklich keine Ahnung, dass sie verheiratet ist?«, wollte Harry wissen.
»Nicht die geringste.«
»Sie hat euch alle angelogen.«
»Jeden Einzelnen von uns«, erwiderte James ernst. Als er aufsah, grinste Harry ihn an. »Was? Du findest das lustig?«
»Ach, komm«, meinte Harry. »Die Chuzpe des Mädchens muss man einfach bewundern! Dazu gehört schon was, mit dem Bewusstsein zum Altar zu schreiten, dass da draußen ein Ehemann nur darauf wartet, dir eine Falle zu stellen.«
»So kann man das auch sehen.«
»Du nicht?«
»Nein.« James schüttelte den Kopf. »So, wie ich das sehe, hat Milly mit ihrer Gedankenlosigkeit vielen eine Menge Ärger und Kummer bereitet. Ich schäme mich, dass sie meine Tochter ist.«
»Ach komm, lass sie in Ruhe!«
»Dann lass Simon auch in Ruhe!«, entgegnete James. »Er ist unschuldig, denk dran. Der Gelackmeierte.«
»Er ist ein überheblicher, moralistischer kleiner Diktator. Das Leben muss in gewissen Bahnen verlaufen, ansonsten ist er nicht interessiert.« Harry trank einen Schluck Bier. »Er hat es viel zu lange viel zu einfach gehabt, das ist sein Problem.«
»Weißt du, ich würde genau das Gegenteil behaupten«, meinte James. »Kann nicht leicht sein, in deinem Schatten zu stehen. Bin mir nicht sicher, ob ich selbst das fertig brächte.«
Harry zuckte wortlos mit den Achseln. Eine Weile schwiegen beide. Harry leerte sein Bier, hielt einen Augenblick inne und sah dann auf.
»Wie geht’s Isobel?«, fragte er beiläufig. »Wie hat sie auf die ganze Sache reagiert?«
»Wie üblich«, meinte James. »Hat wenig rausgelassen.« Er leerte sein Glas. »Die arme Isobel hat augenblicklich selber genug am Hals.«
»Berufliche Probleme?« Harry lehnte sich vor.
»Nicht nur.«
»Also noch was anderes? Steckt sie irgendwie in Schwierigkeiten?« Der Anflug eines Lächelns huschte über James’ Gesicht.
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.«
»Wie meinst du das?«
James starrte in sein leeres Bierglas.
»Ich schätze, ein großes Geheimnis ist es ohnehin nicht«, sagte er und blickte in Harrys nachdenkliches Gesicht. »Sie ist schwanger.«
»Schwanger?« Ein Ausdruck blanken Schocks erschien auf Harrys Miene. »Isobel ist schwanger?«
»Ja. Ich kann’s selbst kaum glauben.«
»Und ihr seid euch da ganz sicher?«, fragte Harry. »Kein Irrtum möglich?«
Gerührt über Harrys Besorgnis, lächelte James ihn an.
»Keine Bange. Die kriegt das schon hin.«
»Hat sie mit dir darüber gesprochen?«
»Sie lässt sich nicht recht in die Karten schauen«, sagte James. »Wir wissen nicht mal, wer der Vater ist.«
»Ah.« Harry trank einen großen Schluck Bier.
»Das Einzige, was wir tun können, ist, sie zu unterstützen, egal, welche Entscheidung sie trifft.«
»Entscheidung?« Harry sah auf.
»Na, ob sie das Kind behalten will oder … nicht.« James zuckte verlegen die Achseln und sah fort. Ein seltsamer Ausdruck trat in Harrys Augen.
»Oh, ich verstehe«, sagte er bedächtig. »Das wäre natürlich eine Möglichkeit.« Er schloss die Augen. »Dumm von mir.«
»Was?«
»Nichts.« Harry schlug die Augen wieder auf. »Nichts.«
»Wie auch immer«, sagte James. »Dein Problem ist es nicht.« Er sah auf Harrys leeres Glas. »Ich besorge dir noch eins.«
»Nein. Ich hole dir noch eins.«
»Aber du hast doch schon …«
»Bitte, James.« James fand, dass Harry plötzlich niedergeschlagen klang. Fast traurig. »Bitte, James. Lass mich.«
Isobel war bis zum Garden for the Blind marschiert. Nun saß sie auf einer gusseisernen Bank, sah zu, wie das Brunnenwasser unaufhörlich in den kleinen Teich tröpfelte, und versuchte, in Ruhe nachzudenken. Einem Endlosfilm gleich, sah sie immer wieder Harrys Gesichtsausdruck vor sich, als sie ihn verlassen hatte; hörte immer wieder seine Stimme. Die ständige Wiederholung hätte den Schmerz in ihr eigentlich dämpfen müssen, hätte sie in die Lage versetzen müssen, ihre Situation logisch zu analysieren. Aber der Schmerz ließ nicht nach; ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Sie fühlte sich innerlich völlig zerrissen.
Sie und Harry hatten sich erst vor ein paar Monaten anlässlich Millys und Simons Verlobungsfeier kennen gelernt. Gleich beim Händeschütteln hatte es zwischen ihnen gefunkt. Beider Stimmen hatten leicht gebebt, und wie Spiegelbilder hatten sie sich beide rasch abgewandt und mit anderen gesprochen. Aber Harrys Augen ruhten jedes Mal auf ihr, wenn sie sich umdrehte, und sie spürte, wie ihr ganzer Körper auf seine Aufmerksamkeit reagierte. In der Woche darauf trafen sie sich heimlich zum Dinner. Er schmuggelte sie zu sich ins Haus, und am nächsten Morgen beobachtete sie von seinem Schlafzimmerfenster aus, wie Milly Simon auf der Auffahrt hinterherwinkte. Im nächsten Monat waren sie in verschiedenen Flugzeugen nach Paris gereist. Jede Begegnung war etwas ganz Besonderes gewesen. Sie hatten beschlossen, es niemandem zu erzählen, die Dinge locker und unverbindlich zu lassen. Zwei Erwachsene, die einander genossen, weiter nichts.
Doch jetzt konnte nichts mehr locker sein, nichts unverbindlich. Welchen Weg auch immer sie einschlug – er hatte enorme Konsequenzen. Sie würde Harry verlieren. Sie würde ihre Freiheit verlieren. Sie wäre notgedrungen auf die Hilfe ihrer Mutter angewiesen. Das Leben würde ein unerträgliches Einerlei aus Arbeit, Kaffeeklatsch mit anderen Müttern und geisttötendem Babygebrabbel werden.
Wenn sie das Kind andererseits abtrieb …
Sie verspürte einen Stich in der Brust. Wem machte sie was vor? Worin bestand diese so genannte Wahl? Ja, sie hatte eine Wahl. Jede moderne Frau hatte eine Wahl. Aber in Wahrheit hatte sie keine. Sie war Sklavin ihrer selbst – Sklavin ihrer mütterlichen Gefühle, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte, Sklavin des kleinen Geschöpfes, das in ihr wuchs, des ursprünglichen, überwältigenden Wunsches nach Leben.
Rupert saß in der National Portrait Gallery auf einer Bank und starrte ein Gemälde Philipps II. von Spanien an. Es war gute zwei Stunden her, dass Martin sich verabschiedet, Ruperts Hand umschlossen und ihn ermahnt hatte, anzurufen, wann immer ihm danach war. Seitdem war Rupert ziellos herumgeirrt, völlig in seine Gedanken vertieft, ohne die Scharen von Einkaufsbummlern und Touristen zu registrieren, mit denen er immer wieder zusammenstieß. Von Zeit zu Zeit versuchte er, Milly anzurufen. Aber jedes Mal war besetzt, doch er war insgeheim erleichtert. Er wollte Allans Tod mit niemandem teilen. Noch nicht.
Der Brief steckte immer noch ungeöffnet in seiner Aktentasche. Er hatte noch nicht gewagt, ihn aufzumachen. Seine Angst war einfach zu groß – sowohl davor, dass er seinen Erwartungen nicht entsprach, als auch davor, dass er es tat. Doch nun, unter Philipps strengem, kompromisslosem Blick griff Rupert zu seiner Tasche, fummelte an den Verschlüssen herum und zog den Brief hervor. Wieder verspürte er einen schmerzvollen Stich, als er seinen Namen in Allans Handschrift sah. Das war die letzte Kommunikation, die je zwischen ihnen stattfinden würde. Ein Teil von ihm wollte den Brief ungeöffnet begraben, Allans letzte Worte ungelesen und unbefleckt lassen. Aber noch während ihm der Gedanke durch den Kopf ging, riss er schon mit zitternden Händen an dem Papier, und er zog dicke, cremefarbene Briefbögen heraus, jeder einseitig mit einer schwarzen, gleichmäßigen Schrift bedeckt.
Lieber Rupert,
Fürchtet euch nicht! Fürchtet euch nicht, sagte der Engel. Ich möchte Dir mit diesem Brief kein schlechtes Gewissen machen. Zumindest nicht bewusst. Nicht viel.
Eigentlich weiß ich nicht mal genau, warum ich überhaupt schreibe. Wirst Du diesen Brief je lesen? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich hast Du schon vergessen, wer ich bin; wahrscheinlich bist Du glücklich verheiratet und hast Drillinge. Gelegentlich gebe ich mich der Vorstellung hin, Du stündest plötzlich in der Tür und nähmst mich in die Arme, und die anderen todgeweihten Patienten würden jubeln und mit ihren Stöcken auf den Boden trommeln. In Wirklichkeit wird dieser Brief, wie so viele andere einst bedeutsame Ereignisse dieser Welt, in einem Müllwagen landen, um zu irgendjemandes Frühstück recycelt zu werden. Der Gedanke gefällt mir. Allanflakes. Mit einer extra Portion Optimismus und einer Spur Bitterkeit.
Und doch schreibe ich weiter – als wäre ich mir sicher, dass Du eines Tages den Weg zu mir zurückzufinden versuchst und diese Worte liest. Mag sein, mag auch nicht sein. Habe ich in meiner Verwirrung etwas falsch verstanden? Messe ich dem, was zwischen uns war, eine Bedeutung zu, die es gar nicht verdient? Die Ausmaße meines Lebens sind so drastisch verringert worden, ich weiß, dass mein Blickwinkel sich etwas verschoben hat. Und doch – auch wenn alles dagegen spricht – schreibe ich weiter. Die Wahrheit ist, Rupert, ich kann dieses Land, geschweige denn diese Welt, nicht verlassen, ohne Dir irgendwo einen Abschiedsgruß zu hinterlassen.
Wenn ich meine Augen schließe und an Dich denke, dann so, wie Du in Oxford warst – obgleich Du Dich seitdem verändert haben musst. Fünf Jahre später, wer und was ist Rupert? Ich habe da so meine eigenen Vorstellungen, bin aber nicht willens, sie zu enthüllen. Ich möchte nicht das Arschloch sein, das meint, Dich besser zu kennen als Du Dich selbst. Das war mein Fehler in Oxford. Ich habe Zorn mit Einsicht verwechselt. Ich habe meine eigenen Sehnsüchte für Deine gehalten. Welches Recht habe ich, einen Groll gegen Dich zu hegen? Das Leben verläuft in wesentlich komplizierteren Bahnen, als beiden von uns damals klar war.
Ich hoffe, Du bist glücklich. Allerdings befürchte ich, dass Du es, falls Du diesen Brief liest, sehr wahrscheinlich nicht bist. Glückliche Menschen suchen nicht nach Antworten in der Vergangenheit. Wie lautet die Antwort? Ich weiß es nicht. Vielleicht wären wir miteinander glücklich geworden, wenn wir zusammengeblieben wären. Vielleicht wäre das Leben schön gewesen. Aber gesagt ist das nicht.
Wie es aussieht, hätte das, was zwischen uns war, nicht mehr besser werden können. Und so trennten wir uns. Doch zumindest hatte einer von uns dabei die Wahl, auch wenn ich nicht derjenige war. Sich trennen ist eine Sache, sterben eine andere. Offen gestanden bin ich mir nicht sicher, ob ich mit beidem zugleich fertig würde.
Aber ich habe mir versprochen, dass ich nicht über den Tod reden werde. Darum geht es hier nicht. Dies ist kein Schuldbrief. Sondern ein Liebesbrief. Nur das. Ich liebe Dich noch immer, Rupert. Ich vermisse Dich noch immer. Wirklich, das ist alles, was ich sagen wollte. Ich liebe Dich noch immer. Ich vermisse Dich noch immer. Wenn ich Dich nicht mehr wiedersehe, dann … ist daran wohl nichts zu ändern. Aber irgendwie hoffe ich doch noch darauf.
In Liebe
Allan
Einige Zeit später erschien eine Lehrerin am Eingang, umringt von ihrer fröhlichen Schülerschar. Sie hatte vorgehabt, die Kinder den Nachmittag über das Porträt von Elisabeth I. skizzieren zu lassen. Aber als sie den jungen Mann in der Mitte des Raumes sitzen sah, ließ sie die Kinder kehrtmachen und führte sie zu einem anderen Gemälde. Rupert, der in stumme Tränen ausgebrochen war, bemerkte sie nicht einmal.
Bei Harrys Heimkehr am Nachmittag parkte Simons Auto an seinem üblichen Platz vor dem Haus. Er begab sich geradewegs zum Zimmer seines Sohnes und klopfte. Als er keine Antwort erhielt, öffnete er die Tür einen Spalt. Das Erste, was er sah, war Simons Cut, der noch immer an der Schranktür hing. Im Papierkorb lag eine der Hochzeitseinladungen. Harry zuckte zusammen, dann schloss er die Tür und ging hinüber in den Wellnessbereich.
Die Unterwasserbeleuchtung ließ den Swimmingpool schimmern, leise Musik war zu hören, aber im Wasser war niemand. Die Tür zur Sauna am anderen Ende des Raums war beschlagen. Harry marschierte geradewegs hin und öffnete. Simon sah überrascht hoch, das Gesicht gerötet und verletzlich.
»Dad?« Er spähte durch den dichten Dampf. »Was willst …«
»Ich muss mit dir sprechen.« Harry setzte sich Simon gegenüber auf die Plastikbank. »Ich muss mich entschuldigen.«
»Entschuldigen?«, fragte Simon ungläubig.
»Ich hätte dich heute Morgen nicht anschreien dürfen. Es tut mir leid.«
»Oh.« Simon sah fort. »Na ja, ist nicht so wichtig.«
»Doch, ist es wohl. Du hast einen großen Schock hinter dir. Und das hätte ich verstehen sollen. Ich bin dein Vater.«
»Das weiß ich«, sagte Simon, ohne sich zu rühren. Harry sah ihm einen Augenblick fest in die Augen.
»Wünschst du dir, ich wäre es nicht?«
Simon schwieg.
»Ich würde es dir nicht verübeln«, meinte Harry. »Was war ich bloß für ein Scheißvater.« Simon rutschte verlegen auf seinem Sitz herum.
»Du …«
»Du brauchst jetzt nicht höflich zu sein«, unterbrach ihn Harry. »Ich weiß, dass ich alles falsch gemacht habe. Sechzehn Jahre lang hast du mich nie gesehen, und dann plötzlich, peng!, hast du mich ständig vor der Nase. Kein Wunder, dass alles ein bisschen schwierig war. Hätten wir geheiratet, dann wären wir längst wieder geschieden. Entschuldige«, sagte er nach einer Pause. »Heikles Thema.«
»Schon okay.« Simon wandte sich zu ihm um und grinste ihn widerwillig an, dabei bemerkte er zum ersten Mal die Kleidung des Vaters. »Dad, dir ist doch klar, dass du dich eigentlich ausziehen solltest?«
»Für ein Dampfbad, ja«, entgegnete Harry. »Aber ich bin hier reingekommen, um mich zu unterhalten.« Er runzelte die Stirn. »Okay, meinen Teil habe ich jetzt aufgesagt. Jetzt musst du mir sagen, was für ein wunderbarer Vater ich gewesen bin, und dann kann ich in Frieden ruhen.«
Es entstand eine lange Pause.
»Ich wünschte bloß …«, begann Simon schließlich und brach dann ab.
»Was?«
»Ich wünschte bloß, ich käme mir nicht immer wie ein Versager vor«, brach es aus Simon hervor. »Alles, was ich mache, geht schief. Und du … In meinem Alter warst du schon Millionär!«
»Stimmt doch gar nicht.«
»In deiner Biografie steht …«
»Ach, dieses Scheißbuch. Simon, als ich in deinem Alter war, da hatte ich eine Million Schulden. Zum Glück habe ich eine Möglichkeit gefunden, sie zurückzuzahlen.«
»Und ich nicht«, versetzte Simon bitter. »Ich habe Pleite gemacht.«
»Okay, du hast also Pleite gemacht. Aber zumindest bist du dir immer treu geblieben. Zumindest kamst du nie heulend angerannt, damit ich dir aus der Patsche helfe. Du hast deine Unabhängigkeit bewahrt. Mit aller Macht. Und deswegen bin ich stolz auf dich.« Er machte eine Pause. »Ich bin sogar stolz, dass du mir die Schlüssel für die Wohnung zurückgegeben hast. Hab zwar die Schnauze voll – aber ich bin stolz.«
Eine lange Pause trat ein, unterbrochen nur von ihrer beider Atmen im heißen Dampf und dem einen oder anderen Spritzer, wenn ein Schwall warmer Tropfen auf den Boden fiel.
»Und wenn du versuchst, die Dinge mit Milly ins Reine zu bringen«, fuhr Harry bedächtig fort, »anstatt davonzurennen – dann bin ich sogar noch stolzer. Das ist nämlich etwas, was ich nie getan habe, aber eigentlich hätte tun sollen.«
Eine Weile schwiegen sie. Harry lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und zuckte zusammen. »Ich muss sagen, das ist keine schöne Erfahrung. Mir klebt die Unterhose am Leib.«
»Ich hab’s dir ja gesagt.«
»Ich weiß.« Harry blickte ihn durch den Dampf hindurch an. »Du gibst Milly also noch eine Chance?« Simon atmete scharf aus.
»Natürlich. Wenn sie mir noch eine gibt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht, was gestern Abend in mich gefahren ist. Ich war dumm. Ich war ungerecht. Ich war bloß ein …« Er brach ab. »Ich habe vorhin versucht, sie anzurufen.«
»Und?«
»Sie muss mit Esme essen gegangen sein.«
»Esme?«
»Ihre Patentante, Esme Ormerod.«
Harry zog die Augenbrauen hoch.
»Das ist Millys Patentante? Esme Ormerod?«
»Ja«, sagte Simon. »Wieso?« Harry zog eine Grimasse.
»Eine merkwürdige Frau.«
»Wusste gar nicht, dass du sie kennst.«
»Bin ein paarmal mit ihr ausgegangen. Großer Fehler.«
»Warum?« Harry schüttelte den Kopf.
»Ach, egal. Ist schon lange her.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Sie ist also Millys Patentante. Das überrascht mich.«
»Sie ist irgendeine Kusine oder so.«
»Und dabei schien mir das eine so nette Familie zu sein«, sagte Harry halb im Scherz. Dann runzelte er die Stirn. »Weißt du, das meine ich ernst. Sie sind eine nette Familie. Milly ist ein bezauberndes Mädchen. James scheint ein sehr anständiger Kerl zu sein. Würde ihn gern besser kennen lernen. Und Olivia …« Er öffnete die Augen. »Nun, was soll ich sagen. Sie ist eine feine Frau.«
»Du sagst es«, meinte Simon mit einem Grinsen.
»Zu dunkler Nacht würde ich ihr allerdings nicht gern begegnen.«
»Oder überhaupt in der Nacht.«
Kurzes Schweigen. Harry tropfte der Schweiß vom Kopf.
»Die Einzige, bei der ich mir nicht sicher bin«, sagte Simon nachdenklich, »ist Isobel. Sie gibt einem irgendwie Rätsel auf. Ich weiß nie, was sie gerade denkt.«
»Nein«, sagte Harry nach einer Pause. »Ich auch nicht.«
»An Milly reicht sie nicht ran. Aber ich mag sie trotzdem.«
»Ich auch«, sagte Harry mit leiser Stimme. »Ich mag sie sehr.« Eine Weile starrte er wortlos zu Boden und erhob sich dann abrupt. »Ich habe genug von dieser Hölle. Ich nehme jetzt eine Dusche.«
»Versuch doch diesmal, dich vorher auszuziehen«, riet Simon.
»Ja. Kluge Idee.« Er nickte Simon freundlich zu, bevor er die Tür hinter sich schloss.
Als Rupert sich steif erhob, Allans Brief wegsteckte und das Museum verließ, war es bereits später Nachmittag. Eine Weile stand er am Trafalgar Square, beobachtete die Touristen, Tauben und Taxis, wandte sich dann um und ging gemächlich zur U-Bahn. Jeder Schritt wirkte unsicher und zittrig; er schien einen lebenswichtigen Teil seiner selbst verloren zu haben, der ihn im Gleichgewicht gehalten hatte.
Er wusste bloß, dass die eine Gewissheit in seinem Leben verschwunden war. Jetzt schien es ihm, als sei alles, was er in den letzten zehn Jahren getan hatte, Teil eines inneren Kampfes gegen Allan gewesen. Der Kampf war zu Ende, aber keiner von ihnen hatte gewonnen.
Auf der Rückfahrt nach Fulham starrte er ausdruckslos auf sein Spiegelbild im dunklen Glas und fragte sich mit einer fast schon akademischen Neugierde, was er als Nächstes tun würde. Er fühlte sich müde, zerrissen und erschöpft, als hätte ein Unwetter ihn ohne einen klaren Ausweg an einen fremden Strand gespült. Einerseits war da seine Frau. Da waren sein Zuhause, sein altes Leben und die alten Kompromisse, inzwischen seine zweite Natur. Nicht ganz Glück, aber auch nicht direkt Leid. Auf der anderen Seite war Ehrlichkeit. Rohe, schmerzliche Ehrlichkeit. Und alle Konsequenzen, die damit einhergingen.
Rupert fuhr sich müde über das Gesicht und betrachtete seine verschwommenen, unsicheren Gesichtszüge in der Fensterscheibe. Er wollte weder ehrlich noch unehrlich sein. Er wollte gar nichts sein. Eine Person in einer U-Bahn, die nichts entscheiden musste, nichts zu tun hatte, außer dem Fahrgeräusch der Bahn zu lauschen und die unbekümmerten Gesichter anderer Passagiere zu beobachten, die Bücher und Zeitschriften lasen.
Aber schließlich erreichte der Zug seine Haltestelle. Und wie ein Roboter griff er nach seiner Aktentasche, erhob sich und trat auf den Bahnsteig. Er folgte all den anderen Pendlern die Treppe hinauf in den dunklen Winterabend hinaus. Eine vertraute Prozession bewegte sich die Hauptstraße entlang, verkleinerte sich, je öfter Leute abbogen, und Rupert folgte ihnen. Je mehr er sich seinem Zuhause näherte, umso langsamer wurde er, und als er die eigene Straße erreichte, blieb er ganz stehen und erwog einen Augenblick kehrtzumachen. Aber wohin gehen? Er konnte nirgendwo sonst hin.
Beim Öffnen des Gartentors bemerkte er erleichtert, dass im Haus kein Licht brannte. Er würde ein Bad nehmen und ein paar Drinks kippen, dann wäre sein Kopf bis zu Francescas Heimkehr vielleicht schon klarer. Vielleicht würde er ihr Allans Brief zeigen. Oder vielleicht nicht. Er griff in seiner Tasche nach dem Schlüssel und steckte ihn ins Schloss, dann stockte er. Der Schlüssel passte nicht. Er zog ihn heraus, betrachtete ihn und versuchte es abermals – wieder nichts. Dann, bei genauerem Hinsehen, konnte er erkennen, dass das Schloss bearbeitet worden war. Francesca hatte es austauschen lassen. Sie hatte ihn ausgeschlossen.
Ein paar Sekunden stand er reglos da. Zitternd vor Wut und Demütigung starrte er die Tür an. »Miststück«, hörte er sich mit erstickter Stimme sagen. »Miststück.« Ein plötzliches Verlangen nach Allan überkam ihn, und er wich von der Tür zurück, die Augen tränenverschleiert.
»Alles okay?«, ertönte eine fröhliche Mädchenstimme von gegenüber. »Haben Sie sich ausgeschlossen? Wenn Sie möchten, können Sie von uns aus telefonieren!«
»Nein danke«, murmelte Rupert. Er sah das Mädchen kurz an. Sie war jung, attraktiv und sah ihn mitfühlend an – für einen Augenblick überkam ihn das Verlangen, sich an ihrer Schulter auszuweinen. Dann fiel ihm ein, dass Francesca ihn vom Haus aus beobachten könnte, und er verspürte eine leichte Panik. Rasch, unbeholfen ging er fort, die Straße hinunter. Er erreichte die Ecke und winkte ein Taxi herbei, ohne zu wissen, wohin es gehen sollte.
»Ja?«, fragte der Fahrer, als er einstieg. »Wohin möchten Sie?«
»Zu … zu …« Einen Augenblick schloss Rupert die Augen, dann öffnete er sie und schaute auf seine Uhr. »Paddington Station.«
Um sechs Uhr klingelte es an der Haustür. Isobel machte auf, und Simon stand davor, einen großen Blumenstrauß in der Hand.
»Oh, du bist es«, sagte sie unfreundlich. »Was willst du?«
»Ich möchte zu Milly.«
»Sie ist nicht da.«
»Ich weiß«, meinte er besorgt. Simon wirkte herausgeputzt, fand Isobel, wie ein altmodischer Freier. Beinahe hätte sie bei seinem Anblick lächeln müssen. »Ich wollte mich nach der Adresse ihrer Patentante erkundigen.«
»Du hättest anrufen können«, bemerkte Isobel unerbittlich. »Dann hätte ich nicht extra an die Tür gehen müssen.«
»Es war dauernd besetzt.«
»Oh.« Isobel verschränkte die Arme und lehnte sich gegen den Türrahmen, nicht bereit, ihn gehen zu lassen. »Na, sind wir schon von unserem hohen Ross gestiegen?«
»Halt einfach den Mund, Isobel, und gib mir die Adresse«, erwiderte Simon gereizt.
»Tja, ich weiß nicht. Möchte Milly denn mit dir sprechen?«
»Ach, vergiss es.« Simon wandte sich um und stieg die Treppe wieder hinunter. »Ich finde sie auch allein.«
Isobel starrte ihn kurz an, dann rief sie: »Walden Street, Nummer zehn!« Simon drehte sich noch einmal um.
»Danke«, sagte er. Isobel zuckte die Achseln.
»Schon okay. Ich hoffe …« Sie hielt inne. »Du weißt schon.«
»Ja. Das hoffe ich auch.«
Esme öffnete in einem langen weißen Bademantel die Tür.
»Oh«, meinte Simon verlegen. »Verzeihung, wenn ich störe. Ich wollte mit Milly sprechen.«
Esme musterte ihn und sagte dann: »Ich fürchte, sie schläft. Sie hat heute Mittag nämlich reichlich getrunken. Ich werde sie wohl nicht wecken können.«
»Oh.« Simon trat von einem Fuß auf den anderen. »Tja … sagen Sie ihr bitte einfach, ich sei vorbeigekommen. Und geben Sie ihr diese hier.« Er reichte Esme die Blumen, die sie mit leichtem Entsetzen betrachtete.
»Ich richte es aus. Auf Wiedersehen.«
»Vielleicht könnte sie mich anrufen. Wenn sie wach ist.«
»Vielleicht«, sagte Esme. »Das liegt bei ihr.«
»Natürlich.« Simon errötete leicht. »Nun, danke.«
»Auf Wiedersehen.« Esme schloss die Tür. Einen Augenblick sah sie auf die Blumen, dann ging sie in die Küche und warf sie in den Abfalleimer. Sie ging hoch und klopfte an Millys Tür.
»Wer war das?«, fragte Milly und sah auf. Sie lag auf einem Massagetisch, und Esmes Kosmetikerin rieb ihr ein Gesichtsöl in die Wangen.
»Ein Vertreter«, antwortete Esme aalglatt. »Wollte mir ein paar Staubtücher andrehen.«
»Oh, solche Typen kommen zu uns auch immer.« Milly legte sich wieder hin. »Und immer unpassend.«
Esme lächelte sie an. »Wie war deine Massage?«
»Herrlich«, sagte Milly.
»Gut.« Esme schlenderte zum Fenster, tippte sich ein paarmal auf die Zähne und wandte sich dann um.
»Weißt du, ich finde, wir sollten verreisen. Eigentlich hätte ich schon früher darauf kommen können. Du wirst morgen ja wohl nicht in Bath sein wollen, oder?«
»Eigentlich nicht«, sagte Milly. »Andererseits … will ich eigentlich überhaupt nirgends sein.« Unvermittelt verzog sie ihr Gesicht, und in ihre Augenwinkel traten Tränen. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich heiser bei der Kosmetikerin.
»Wir fahren nach Wales«, verkündete Esme. »Ich kenne da einen kleinen Ort in den Bergen. Sagenhafte Aussicht und jeden Abend Lammbraten. Na, wie klingt das?«
Milly schwieg. Die Kosmetikerin tupfte geziert mit einer gelben Flüssigkeit aus einer goldenen Flasche die Tränenspuren fort.
»Der morgige Tag wird schwierig«, sagte Esme sanft. »Aber wir schaffen das. Und danach …« Sie kam und nahm Millys Hand. »Denk doch bloß nach, Milly. Du hast eine Chance erhalten, die kaum eine Frau erhält. Du kannst einen Neuanfang machen. Du kannst dein Leben nach deinen Wünschen gestalten.«
»Du hast recht.« Milly starrte an die Decke. »Nach meinen Wünschen.«
»Die Welt gehört dir! Man stelle sich vor, dass du drauf und dran warst, Mrs. Pinnacle zu werden!« Ein Anflug von Verachtung schlich sich in Esmes Stimme. »Schatz, das war ein knappes Entkommen. Rückblickend wirst du mir dankbar sein, Milly. Wirklich!«
»Das bin ich jetzt schon.« Milly drehte den Kopf und sah Esme an. »Was hätte ich bloß ohne dich getan!«
»So ist’s recht!« Esme tätschelte Milly die Hand. »Jetzt leg dich einfach zurück und genieße den Rest deiner Sitzung – ich packe inzwischen den Wagen.«