3. Kapitel


Um halb neun trafen Olivia und Milly in Pinnacle Hall ein. Simon machte ihnen auf und führte sie in den großen, fürstlichen Salon.

»Oh!« Olivia schlenderte zu dem knisternden Feuer. »Wie gemütlich!«

»Ich hole Champagner«, meinte Simon. »Dad sitzt noch immer am Telefon.«

»Ach«, meinte Milly schwach, »ich glaube, ich versuch’s auch noch mal bei Isobel. Ich telefoniere vom Billardzimmer aus.«

»Kann das nicht warten?«, fragte Olivia. »Was willst du denn von ihr?«

»Ach, nichts Besonderes«, sagte Milly sofort. »Ich muss bloß … mit ihr sprechen.« Sie schluckte. »Es dauert nicht lange.«

Als die beiden verschwunden waren, nahm Olivia in einem Sessel Platz und bewunderte das Porträt über dem Kamin. Ein prachtvoll gerahmtes Ölgemälde, das aussah, als sei es zusammen mit dem Haus gekauft worden; tatsächlich war es ein Jugendbild von Harrys Großmutter. Harry Pinnacle war als Selfmademan so berühmt, dass vielfach angenommen wurde, er hätte aus dem Nichts angefangen. Die Tatsache, dass er eine teure Privatschule besucht hatte, hätte die Geschichte nur verdorben – ebenso die saftigen elterlichen Darlehen, die ihm den Start überhaupt ermöglicht hatten –, infolgedessen wurden sie im Allgemeinen unter den Teppich gekehrt, auch von Harry selbst.

Die Tür ging auf, und eine hübsche, blonde junge Frau in einem schicken Hosenanzug kam mit einem Tablett voller Champagnergläser herein. »Simon kommt gleich«, erklärte sie. »Ihm ist bloß gerade eingefallen, dass er noch ein Fax versenden muss.«

»Danke.« Mit huldvollem Lächeln nahm Olivia sich ein Glas.

Die junge Frau verließ den Raum, und Olivia nippte an ihrem Champagner. Das Feuer erwärmte ihr Gesicht, ihr Sessel war bequem, durch verdeckte Lautsprecher ertönte angenehme klassische Musik. So, dachte sie, sollte das Leben sein. Sie verspürte einen Stich – teils Entzücken, teils Neid – angesichts der Tatsache, dass ihre Tochter bald ein ähnliches Leben führen würde. Milly war in Pinnacle Hall bereits genauso zu Hause wie in der Bertram Street. Sie war daran gewöhnt, unbefangen mit Harrys Personal umzugehen und bei großen Dinnerpartys neben Simon zu sitzen. Natürlich konnten sie und Simon vorgeben, wie jedes andere junge Paar zu sein, ohne nennenswertes Vermögen – aber wem konnten sie damit schon was vormachen? Eines Tages würden sie reich sein. Sagenhaft reich. Milly würde sich jeden Wunsch erfüllen können.

Olivia umklammerte ihr Glas fester. Als die Verlobung verkündet worden war, hatte eine erstaunte, fast Schwindel erregende Freude von ihr Besitz ergriffen. Es reichte ja schon, dass Milly überhaupt Kontakt zu Harry Pinnacles Sohn hatte. Aber dass die beiden auch noch heirateten – und das so rasch –, das überstieg ihre kühnsten Erwartungen. Während die Hochzeitsvorbereitungen voranschritten und konkreter wurden, brüstete sie sich damit, dass sie ihren Triumph zu verbergen wusste, dass sie mit Simon so ungezwungen umging wie mit jedem anderen Beau, dass sie die Bedeutung der Vermählung – gegenüber sich selbst wie gegenüber allen anderen – herunterspielte.

Aber nun, da es in wenigen Tagen soweit war, begann ihr Herz wieder triumphierend höher zu schlagen. In nur wenigen Tagen würde alle Welt sehen, wie ihre Tochter einen der begehrtesten Junggesellen des Landes heiratete. All ihre Freunde – ja, alle, die sie je gekannt hatten – müssten sie dabei bewundern, wie sie über die größte, glanzvollste und romantischste Hochzeit residierte, die jeder von ihnen je erlebt hatte. Ein Ereignis, das Olivias bisherigem Leben einen Glanzpunkt aufsetzte, das sogar ihre eigene Hochzeit übertraf. Das war eine bescheidene, anonyme kleine Angelegenheit gewesen. Wohingegen diesmal bedeutende, einflussreiche, betuchte Leute zugegen sein würden, die sich alle im Hintergrund halten müssten, während sie – und Milly natürlich – im Mittelpunkt stünden.

In nur wenigen Tagen würde sie sich in ihre Designerkluft werfen, in unzählige Kameras lächeln und beobachten, wie all ihren Freunden, Bekannten und neidischen Verwandten angesichts von Millys verschwenderischem Empfang die Augen übergingen. Der Tag würde wunderschön und unvergesslich werden. Wie ein schöner Kinofilm, dachte Olivia glücklich. Irgendein wunderbarer, romantischer Hollywoodfilm.

James Havill erreichte die Eingangstür von Pinnacle Hall und zog an dem schweren schmiedeeisernen Klingelzug. Während er darauf wartete, dass man ihm öffnete, sah er sich stirnrunzelnd um. Das Anwesen war schön, vollkommen, unwirklich – ein Klischee des Reichtums, das einem dieser entsetzlichen Hollywoodfilme entsprungen sein könnte. Wenn es das ist, was man sich mit Geld kaufen kann, dachte er nicht ganz ehrlich für sich, dann könnt ihr’s behalten. Mir ist das richtige Leben lieber.

Ihm fiel auf, dass die Tür nur angelehnt war, und er stieß sie auf. In einem riesigen Kamin loderte fröhlich ein Feuer, und sämtliche Kronleuchter brannten, aber zu sehen war niemand. Er blickte sich um und versuchte, sich einen Reim aus den vielen Türen zu machen. Eine davon führte in den riesigen Salon mit den Hirschgeweihen. Daran erinnerte er sich von früheren Besuchen. Aber welche bloß? Einen Augenblick zauderte er, dann trat er, plötzlich verärgert über sich selbst, zur nächsten Tür und machte sie auf.

Aber er hatte sich geirrt. Das Erste, was er sah, war Harry. Er saß an einem riesigen Eichenschreibtisch und schien gänzlich in ein Telefongespräch vertieft. Beim Geräusch der sich öffnenden Tür hob er den Kopf und winkte James irritiert fort.

»Entschuldigung«, sagte James leise und trat den Rückweg an.

»Mr. Havill?«, ertönte eine Stimme hinter ihm. »Verzeihen Sie, dass ich Ihnen nicht schneller aufgemacht habe.« James wandte sich um und sah eine blonde Frau, die er als eine von Harrys Assistentinnen erkannte. »Wenn Sie mir bitte folgen würden …« Sie führte ihn taktvoll aus dem Raum und schloss die Tür des Arbeitszimmers.

»Danke.« James fühlte sich von oben herab behandelt.

»Die anderen sind im Salon. Geben Sie mir doch Ihren Mantel.«

»Danke«, sagte James abermals.

»Und wenn Sie sonst noch etwas brauchen«, meinte das Mädchen freundlich, »dann fragen Sie mich einfach. Ja?« Mit anderen Worten – dachte James erbost –, wandern Sie hier nicht herum. Das Mädchen lächelte ihn aalglatt an, öffnete die Salontür und führte ihn hinein.

Die Tür öffnete sich plötzlich, und Olivia wurde aus ihrer angenehmen Traumwelt gerissen. Rasch glättete sie ihren Rock und blickte in Erwartung Harrys lächelnd auf. Aber es war wieder die hübsche Blondine.

»Ihr Mann ist da, Mrs. Havill«, sagte sie und trat zur Seite. James trat ein. Er kam direkt vom Büro, sein dunkelgrauer Anzug war zerknittert, und er sah müde aus.

»Bist du schon lange da?«, erkundigte er sich.

»Nein«, erwiderte Olivia mit erzwungener Fröhlichkeit. »Noch nicht sehr lange.«

Sie erhob sich von ihrem Sessel und ging in der Absicht, James mit einem Kuss zu begrüßen, auf ihn zu. Kurz bevor sie vor ihm stand, zog sich die Blondine dezent zurück und schloss die Tür. Plötzlich befangen, hielt Olivia inne. Körperlicher Kontakt zwischen ihr und James fand in den letzten Jahren nur noch vor anderen statt. Nun, da sie ohne ein Publikum, ohne einen Grund so nahe vor ihm stand, wurde sie verlegen. Sie sah ihn Hilfe suchend an, aber sein Gesicht war ausdruckslos; sie konnte darin nicht lesen. Schließlich beugte sie sich vor, errötete leicht und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann machte sie sofort einen Schritt zurück und trank einen Schluck Champagner.

»Wo ist Milly?«, erkundigte sich James mit tonloser Stimme.

»Telefoniert nur schnell.«

Olivia sah zu, wie James sich ein Glas Champagner nahm und einen großen Schluck trank. Er ging zum Sofa hinüber, setzte sich und streckte die Beine aus. Olivia starrte auf seinen Kopf hinunter. Sein dunkles Haar war feucht vom Schnee, aber ordentlich gekämmt, und sie ertappte sich dabei, wie ihr Blick träge über seinen Seitenscheitel glitt. Dann, als er den Kopf umwandte, sah sie schnell fort.

»Also …«, begann sie, hielt dann inne und trank einen Schluck Champagner. Sie schlenderte zum Fenster hinüber, zog den schweren Brokatvorhang auf und sah in die verschneite Nacht hinaus. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wann sie das letzte Mal mit James allein in einem Raum gewesen war, konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich zum letzten Mal normal mit ihm unterhalten hatte. Krampfhaft überlegte sie, worüber sie reden könnten. Wenn sie James den neuesten Klatsch aus Bath erzählte, dann musste sie ihn zuerst darüber ins Bild setzen, um wen es überhaupt ging. Wenn sie ihm von dem Hochzeitsschuhfiasko erzählte, dann müsste sie ihn erst über die Unterschiede zwischen Duchessesatin und grob gewebter Seide aufklären. Nichts, woran sie denken konnte, schien die Mühe so recht wert zu sein.

Früher dagegen, da war ihnen der Gesprächsstoff nie ausgegangen. James hatte ihren Geschichten mit echtem Vergnügen gelauscht; sie hatte über seinen trockenen Humor gelacht. Sie hatten einander unterhalten, sich zusammen amüsiert. Aber dieser Tage schien all seinen Witzen eine Spur von Bitterkeit anzuhaften, die sie nicht verstand, und ein angespannter und gelangweilter Ausdruck trat auf sein Gesicht, sobald sie den Mund aufmachte.

Infolgedessen verharrten beide schweigend, bis die Tür aufging und Milly hereinkam. Sie schenkte James ein kurzes, gezwungenes Lächeln.

»Hallo, Daddy«, grüßte sie ihn. »Du hast es hergeschafft!«

»Hast du Isobel erreicht?«, fragte Olivia.

»Nein«, erwiderte Milly kurz. »Keine Ahnung, wo sie sich herumtreibt. Ich musste noch eine Nachricht hinterlassen.« Ihr Blick fiel auf das Tablett. »Oh, gut. Ich kann jetzt was gebrauchen.«

Sie nahm ein Glas Champagner und hielt es hoch. »Prost!«

»Prost!«, echote Olivia.

»Auf dein Wohl, mein Schatz!«, sagte James. Alle drei tranken; eine kurze Stille trat ein.

»Hab ich euch bei irgendwas unterbrochen?«, erkundigte sich Milly.

»Nein«, sagte Olivia. »Du hast nichts unterbrochen.«

»Gut«, meinte Milly, ohne richtig zuzuhören, ging zum Kamin hinüber und hoffte, man würde sie in Ruhe lassen.

Beim dritten Versuch war sie zu Isobels Anrufbeantworter vorgestoßen. Als sie die blechernen Töne gehört hatte, war Wut in ihr hochgestiegen, eine unsinnige Überzeugung, dass Isobel da war und bloß nicht abhob. Sie hatte eine kurze Nachricht hinterlassen, dann noch einige Minuten auf das Telefon gestarrt, sich auf die Lippen gebissen und verzweifelt gehofft, Isobel würde zurückrufen. Isobel war die Einzige, mit der sie reden konnte – die Einzige, die ruhig zuhören würde, der mehr an einer Lösung als an einer Standpauke läge.

Aber das Telefon war stumm geblieben. Isobel hatte nicht zurückgerufen. Milly umklammerte ihr Champagnerglas fester. Sie hielt diese quälende Angst nicht aus. Auf der Fahrt nach Pinnacle Hall hatte sie stumm im Auto gesessen und sich mit aller Macht zu beruhigen versucht. Alexander würde sich nie erinnern, sagte sie sich immer wieder. Es war eine zweiminütige Begegnung gewesen, die zehn Jahre zurücklag. Daran konnte er sich doch unmöglich erinnern. Und selbst wenn, dann würde er nichts sagen. Er würde stumm seine Arbeit verrichten. Zivilisierte Menschen brachten andere nicht absichtlich in Schwierigkeiten.

»Milly?« Simons Stimme riss sie aus ihren Gedanken, und sie fuhr schuldbewusst zusammen.

»Hi«, sagte sie. »Hast du dein Fax losgebracht?«

»Ja.« Er nippte an seinem Champagner und sah sie genauer an. »Alles okay? Du wirkst angespannt.«

»So?« Sie lächelte ihn an. »Bin ich aber gar nicht.«

»Du bist angespannt«, beharrte Simon, und er begann, ihre Schultern sanft zu massieren. »Sorgst dich wegen der Hochzeit. Hab ich recht?«

»Ja.«

»Ich wusste es.« Simon klang befriedigt, und Milly schwieg. Simon wiegte sich gern in dem Glauben, eins zu sein mit ihrer Gefühlswelt, ihre Vorlieben und Abneigungen zu kennen, ihre Launen voraussagen zu können. Und sie hatte es sich angewöhnt, ihm beizupflichten, selbst wenn er mit seinen Behauptungen völlig daneben lag. Schließlich war allein schon der Versuch süß von ihm. Den meisten Männern wäre es völlig gleichgültig gewesen.

Und es wäre zu viel verlangt, von ihm zu erwarten, dass er den Nagel immer auf den Kopf traf. Meistens war sie sich ihrer Gefühle ja nicht mal selbst sicher. Ihre Empfindungen glichen den Farben auf einer Palette, manche befanden sich nur kurz darauf, andere lange, aber alle verschmolzen sie zusammen zu einem untrennbaren Ton. Bei Simon dagegen waren alle Empfindungen wie eine Reihe Bauklötze eindeutig voneinander abgesetzt. Wenn er glücklich war, lächelte er. Wenn er wütend war, runzelte er die Stirn.

»Lass mich raten, was du gerade denkst«, hauchte Simon ihr ins Haar. »Du wünschst dir, wir wären heute Abend nur zu zweit?«

»Nein«, erwiderte Milly ehrlich. Sie wandte sich zu ihm um, sah ihm direkt in die Augen und roch seinen vertrauten Duft. »Ich dachte daran, wie sehr ich dich liebe.«

Es war bereits halb zehn, als Harry Pinnacle den Raum betrat. »Entschuldigt bitte«, sagte er. »Das ist unverzeihlich von mir.«

»Harry, das ist total verzeihlich!«, rief Olivia, die inzwischen bei ihrem fünften Glas Champagner angelangt war. »Wir wissen doch, wie das ist!«

»Ich nicht«, murmelte Simon.

»Und es tut mir leid wegen vorhin«, meinte Harry zu James. »Aber es war ein wichtiger Anruf.«

»Schon in Ordnung«, sagte James steif. Es entstand eine kurze Pause.

»Na, dann wollen wir mal«, sagte Harry. Er wandte sich höflich an Olivia. »Nach dir.«

Sie begaben sich langsam durch die Halle ins Esszimmer.

»Alles in Ordnung mit dir, Schatz?«, fragte James Milly mit gesenkter Stimme.

»Klar«, erwiderte sie mit einem angespannten Lächeln.

Aber das konnte nicht sein, dachte James. Er hatte beobachtet, wie sie ein Glas Champagner nach dem anderen hinunterstürzte, als sei sie verzweifelt, wie sie jedes Mal zusammenfuhr, wenn das Telefon klingelte. Hatte sie es sich anders überlegt? Er beugte sich zu ihr.

»Denk dran, Schatz«, sagte er leise. »Du musst das nicht durchziehen, wenn du nicht willst.«

»Was?« Milly riss den Kopf hoch, als sei sie gestochen worden, und James nickte beruhigend.

»Wenn du dich eines anderen besinnst, was Simon anbelangt – jetzt oder auch später noch –, dann mach dir keine Sorgen. Wir können das Ganze abblasen. Kein Problem.«

»Ich möchte nichts abblasen!«, zischte Milly. Plötzlich sah sie aus, als sei sie den Tränen nahe. »Ich möchte Simon heiraten! Ich liebe ihn.«

»Gut, dann ist ja alles in Ordnung.«

James lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, warf einen Blick zu Simon hinüber und verspürte eine unsinnige Irritation. Der Junge hatte alles. Gutes Aussehen, einen begüterten Hintergrund, eine aufreizend ruhige und ausgeglichene Persönlichkeit. Ganz offensichtlich betete er Milly an; er war höflich zu Olivia, er war aufmerksam gegenüber der restlichen Familie. Man konnte nicht klagen. Und dabei, gestand James sich ein, war er heute Abend in der Laune zu klagen.

Er hatte einen grässlichen Arbeitstag hinter sich. Die Maschinenbaufirma, in deren Finanzabteilung er arbeitete, war in den letzten Monaten umstrukturiert worden. Endlose Gerüchte hatten an diesem Tag in der Ankündigung gegipfelt, unter den jüngeren Angestellten seiner Abteilung würden vier Arbeitsstellen gestrichen. Die Nachricht sollte vertraulich sein, aber sie hatte offensichtlich die Runde gemacht. Als er das Büro verließ, saßen noch alle pflichtbewusst über ihre Schreibtische gebeugt. Manche hatten ihren Kopf gesenkt, andere schauten mit furchtsamen Augen auf, als er vorbeiging. Jeder Einzelne von ihnen hatte eine Familie und eine Hypothek. Keiner konnte es sich leisten, seinen Job zu verlieren. Keiner von ihnen verdiente es.

Als er in Pinnacle Hall eintraf, fühlte er sich durch das Ganze unbeschreiblich deprimiert. Beim Parken des Autos beschloss er, auf Olivias Frage, wie sein Tag gewesen sei, einmal die Wahrheit zu sagen. Vielleicht nicht gleich alles, aber genug, um ihr die Augen zu öffnen, mit welcher Last er sich herumschlagen musste. Doch sie hatte sich nicht danach erkundigt – und ein gewisser Stolz hatte ihn davon abgehalten, mit seiner Geschichte herauszurücken. Er wollte nicht, dass seine Frau sich ihm wie einem weiteren Wohltätigkeitsprojekt zuwandte. Ausgesetzte Ponys, behinderte Kinder, ein unglücklicher Ehemann.

Inzwischen sollte er eigentlich an Olivia gewöhnt sein, dachte James. Er sollte daran gewöhnt sein, dass sie sich nicht sonderlich für ihn interessierte, dass ihr Leben voll anderer Sorgen war, dass sie den Problemen ihrer geschwätzigen Freundinnen mehr Aufmerksamkeit schenkte, als sie ihm je geschenkt hatte. Immerhin hatten sie sich ein stabiles, funktionierendes Zusammenleben erarbeitet. Wenn sie schon keine tiefe seelische Verbindung hatten, so bestand doch zumindest eine Art Symbiose zwischen ihnen. Sie hatte ihr Leben, und er seines – und wo sie sich überschnitten, gingen sie immer vollkommen freundschaftlich miteinander um. James hatte sich vor langer Zeit mit diesem Arrangement abgefunden, hatte gedacht, mehr brauche er nicht. Aber das war nicht wahr. Er brauchte mehr, er wollte mehr. Er wollte ein anderes Leben, ehe es zu spät war.

»Ich würde gern einen Toast ausbringen.«

Harrys Stimme riss James aus seinen Gedanken, und er sah mit einem leichten Stirnrunzeln hoch. Da war er. Harry Pinnacle, einer der erfolgreichsten Männer des Landes und der zukünftige Schwiegervater seiner Tochter. James war sich bewusst, dass seinesgleichen ihn um diese Verbindung beneidete und dass er sich über Millys künftige finanzielle Sicherheit hätte freuen sollen. Aber er weigerte sich, sich darüber zu freuen, dass seine Tochter eine Pinnacle würde, lehnte es ab, sich wie seine Frau in der faszinierten Neugierde ihrer Freunde zu aalen. Er hatte Olivia am Telefon gehört, wie sie Harrys Namen fallen ließ und dabei eine Vertrautheit mit dem großen Mann anklingen ließ, die es, wie er wusste, nicht gab. Sie holte aus der Situation raus, was ging – und ihr Benehmen beschämte ihn zutiefst. Es gab Tage, da wünschte er, Milly hätte Harry Pinnacles Sohn nie kennen gelernt.

»Auf Milly und Simon!«, rief Harry mit der rauen Stimme, die seine Äußerungen bedeutender klingen ließ als die aller anderen.

»Auf Milly und Simon«, echote James und ergriff das schwere venezianische Glas vor ihm.

»Der Wein ist einfach vorzüglich«, meinte Olivia. »Bist du zu allem Überfluss etwa auch noch ein Weinkenner, Harry?«

»O Gott, nein«, erwiderte Harry. »Ich verlasse mich da auf Leute mit Geschmack, die mir sagen, was ich kaufen soll. Für mich ist ein Wein wie der andere.«

»Na, also das nehme ich dir nicht ab! Du bist zu bescheiden!«, rief Olivia aus. Ungläubig beobachtete James, wie sie Harry vertraut die Hand tätschelte. Für wen hielt sie sich bloß? Leicht angewidert wandte er sich ab und fing Simons Blick auf.

»Prost, James!«, sagte Simon und erhob sein Glas. »Auf die Hochzeit!«

»Ja«, sagte James und trank einen riesigen Schluck Wein. »Auf die Hochzeit!«

Während er beobachtete, wie alle den Wein seines Vaters tranken, spürte Simon, dass es ihm plötzlich die Kehle zuschnürte. Er hustete und sah auf.

»Eine Person fehlt heute Abend«, sagte er. »Und ich würde gern einen Toast auf sie aussprechen.« Er erhob sein Glas. »Auf meine Mutter.« Es entstand eine kleine Pause, und er war sich der Blicke bewusst, die zum Kopfende des Tisches schnellten. Dann erhob Harry sein Glas.

»Auf Anne«, sagte er feierlich.

»Auf Anne«, echoten James und Milly.

»Hieß sie so?«, erkundigte sich Olivia und blickte mit geröteten Wangen auf. »Ich dachte immer, sie hätte Louise geheißen.«

»Nein«, sagte Simon. »Anne.«

»Na ja«, meinte Olivia. »Wenn du das sagst.« Sie erhob ihr Glas. »Anne. Anne Pinnacle.« Sie trank aus ihrem Glas, dann sah sie zu Milly, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen. »Du hast doch nicht vor, deinen Mädchennamen zu behalten, oder, Schatz?«

»Ich glaube nicht«, sagte Milly. »Obwohl, für die Arbeit könnte ich den Namen vielleicht beibehalten.«

»O nein!«, rief Olivia. »Zu verwirrend. Sei einfach durch und durch eine Pinnacle!«

»Also, ich finde die Idee nicht schlecht«, sagte James. »Behalte deine Unabhängigkeit. Was meinst du dazu, Simon? Würde es dich stören, wenn Milly weiterhin Havill hieße?«

»Ehrlich gesagt«, sagte Simon, »würde ich es vorziehen, wenn wir einen Namen teilen. Alles andere teilen wir ja auch.« Er wandte sich lächelnd Milly zu. »Aber natürlich finde ich es auch schade, Milly Havill zu verlieren. Schließlich war sie es, in die ich mich verliebt habe.«

»Wie rührend«, bemerkte James.

»Würdest du in Erwägung ziehen, den Namen Havill anzunehmen?«, fragte Harry vom Tischende aus.

Simon sah ihn ruhig an. »Ja, würde ich«, sagte er. »Wenn Milly das wirklich wollte.«

»Nein!«, rief Olivia. »Das würdest du doch nicht, oder, Schatz?«

»Ich nehme an, du hättest Mums Namen angenommen, oder, Dad?«, wollte Simon wissen.

»Nein«, erwiderte Harry. »Das hätte ich nicht.«

»Tja«, meinte Simon angespannt. »Ich bin bereit, meine Ehe vor alles andere zu stellen, das ist der Unterschied.«

»Der Unterschied liegt darin«, meinte Harry, »dass der Mädchenname deiner Mutter Parade war.« Olivia lachte, und Simon warf ihr einen zornigen Blick zu.

»Die Sache ist die«, sagte er laut, »dass Namen bedeutungslos sind. Es sind Menschen, die eine Ehe funktionieren lassen. Nicht Namen.«

»Und in Sachen Ehe bist du natürlich Experte«, bemerkte Harry.

»Ein größerer als du! Zumindest habe ich meine noch nicht verpfuscht!« Kurze Zeit herrschte Stille. Die Havills blickten auf ihre Teller. Simon starrte seinen Vater schwer atmend an. Dann zuckte Harry mit den Achseln.

»Ich bin mir sicher, Milly und du, ihr werdet sehr glücklich sein«, sagte er. »Solch ein Glück ist nicht jedem von uns vergönnt.«

»Mit Glück hat das überhaupt nichts zu tun«, versetzte Simon wütend. »Glück kommt da nicht mit ins Spiel!« Er blickte zu Olivia und James. »Was meint ihr, was macht eine erfolgreiche Ehe aus?«

»Geld!«, sagte Olivia und lachte hell auf. »Äh, nur ein Scherz!«

»Es ist die Kommunikation, nicht?« Simon beugte sich ernst vor. »Zu teilen, zu sprechen, einander in- und auswendig zu kennen. Würdest du mir da nicht zustimmen, James?«

»Wenn du’s sagst«, meinte James und trank einen Schluck Wein.

»Du hast absolut recht, Simon«, sagte Olivia. »Genau das hatte ich eigentlich auch sagen wollen.«

»Ich würde Sex über die Kommunikation stellen«, warf Harry ein. »Guten Sex, und zwar jede Menge davon.«

»Tja, davon hätte ich auch nicht viel Ahnung«, bemerkte James trocken.

»James!« Olivia ließ ein perlendes Lachen erklingen. Simon warf James einen neugierigen Blick zu und sah dann zu Milly. Aber die schien der Unterhaltung überhaupt nicht zu folgen.

»Und wie steht’s mit dir, Harry?«, sagte Olivia gerade und sah ihn durch ihre Wimpern hindurch an.

»Was ist mit mir?«

»Kommst du nie in die Versuchung, noch einmal zu heiraten?«

»Dafür bin ich zu alt«, antwortete Harry knapp.

»Unsinn!«, rief Olivia fröhlich. »Eine nette Frau zu finden wäre für dich ein Kinderspiel.«

»Na, wenn du meinst.«

»Ach, natürlich!« Olivia trank noch einen Schluck Wein. »Ich würde dich selbst heiraten!« Sie lachte.

»Sehr nett von dir«, sagte Harry.

»O nein.« Olivia schwenkte ihr Glas in der Luft herum. »Es wäre mir eine Freude. Wirklich.«

Es gab zweierlei Nachtisch.

»Oh!« Olivia blickte von der Zitronenmousse zur Schokoladentorte und wieder zurück. »Harry, ich kann mich nicht entscheiden.«

»Dann nimm beides«, meinte Harry.

»Wirklich? Ginge das? Macht das noch einer von euch?« Sie schaute in die Runde.

»Ich nehme überhaupt nichts.« Milly fummelte nervös an ihrer Serviette herum.

»Du machst doch keine Abmagerungskur, oder?«, erkundigte sich Harry.

»Nein«, sagte Milly. »Ich hab bloß keinen großen Hunger.« Sie brachte ein Lächeln zustande, und er nickte freundlich zurück. Im Grunde ist er ein liebenswürdiger Mann, dachte Milly. Das spürte sie, auch wenn Simon es anders sah.

»Du bist genauso schlimm wie Isobel«, rügte Olivia. »Isobel isst wie ein Spatz.«

»Sie hat einfach keine Zeit zu essen«, sagte James.

»Wie geht es ihr denn?«, erkundigte sich Harry höflich.

»Großartig!«, erwiderte James, der unvermittelt auflebte. »Macht Schritt für Schritt Karriere, bereist die Welt …«

»Hat sie einen Freund?«

»O nein!«, lachte James. »Dafür ist sie zu sehr mit eigenen Dingen beschäftigt. Isobel war immer ein Freigeist. So schnell wird die sich nicht binden.«

»Könnte sie aber«, protestierte Olivia. »Sie könnte schon morgen jemanden kennen lernen! Einen netten Geschäftsmann beispielsweise.«

»Was Gott verhüten möge!«, meinte James. »Kannst du dir wirklich vorstellen, dass Isobel sich mit einem langweiligen Geschäftsmann zusammentut? Und überhaupt ist sie noch viel zu jung dafür.«

»Sie ist älter als ich«, gab Milly zu bedenken.

»Schon«, meinte James. »Aber ihr beide seid sehr verschieden.«

»Inwiefern?« Milly sah ihren Vater an. Der Tag war nicht spurlos an ihr vorübergegangen, und nun lagen ihre Nerven blank. »Inwiefern sind wir verschieden? Willst du damit sagen, ich bin zu dumm für etwas anderes als die Ehe?«

»Nein!« James machte ein bestürztes Gesicht. »Natürlich nicht! Ich meine lediglich, dass Isobel ein bisschen abenteuerlustiger ist als du. Sie geht gerne Risiken ein.«

»Ich bin auch schon Risiken eingegangen!«, rief Milly. »Risiken, von denen ihr keine Ahnung habt!« Sie brach ab und starrte ihren Vater schwer atmend an.

»Nur die Ruhe, Milly«, sagte James. »Ich sage doch nur, dass ihr verschieden seid, du und Isobel.«

»Und ich ziehe dich vor«, flüsterte Simon Milly zu. Sie lächelte ihn dankbar an.

»Überhaupt, James, was hast du gegen Geschäftsmänner?«, fragte Olivia. »Du bist doch auch einer, oder? Und ich habe dich geheiratet.«

»Ich weiß, Liebes«, erwiderte James tonlos. »Aber ich hoffe, dass Isobel ein bisschen was Besseres abbekommt als einen wie mich.«

Später, als die Dessertteller abgeräumt waren, sammelte Harry mit einem Räuspern die Aufmerksamkeit der anderen.

»Ich möchte keinen großen Wirbel darum machen«, verkündete er. »Aber ich habe ein kleines Geschenk für das glückliche Paar.«

Simon sah trotzig auf. Er hatte selbst ein Geschenk gekauft, das er Milly an diesem Abend geben wollte, und er hatte vorgehabt, sie damit zu überraschen, wenn sie alle ihren Kaffee tranken. Doch was immer Harry gekauft hatte, es wäre zweifelsohne teurer als die Ohrringe, die er ausgesucht hatte. Verstohlen fühlte er nach der kleinen Lederschachtel in seiner Tasche und fragte sich, ob er sich die Geschenkübergabe für einen anderen Tag aufheben sollte – einen Tag ohne väterliche Konkurrenz. Aber andererseits, warum sollte er sich schämen? Sein Vater konnte es sich eben leisten, etwas mehr auszugeben als er – aber das war ja wohl auch jedem klar, oder?

»Ich habe auch ein Geschenk«, sagte er möglichst beiläufig. »Für Milly.«

»Für mich?«, fragte Milly verwirrt. »Aber ich habe gar nichts für dich. Zumindest nichts, was ich dir heute Abend geben könnte.«

»Es ist etwas außer der Reihe«, erwiderte Simon. Er beugte sich vor und schob vorsichtig Millys blondes Haar zurück, sodass ihre Ohren sichtbar wurden. Während er das tat, wirkte die Geste mit einem Mal erotisch; und als er ihre makellose Haut betrachtete, ihren Duft einatmete, erfasste ihn ein stolzes Verlangen.

Die anderen konnten ihn mal – Olivia mit ihrer unsäglichen Selbstgefälligkeit, Harry mit seinem ganzen Geld. Er hatte Milly ganz für sich, und alles andere zählte nicht.

»Was ist es?«, fragte Milly.

»Dad zuerst«, sagte Simon mit einem Gefühl des Großmuts. »Was hast du für uns, Dad?«

Harry griff in die Tasche, und einen verrückten Augenblick lang fürchtete Simon, er könnte ein Paar identischer Ohrringe hervorholen. Doch Harry ließ einen Schlüssel auf den Tisch fallen.

»Ein Schlüssel?«, sagte Milly. »Wofür ist der?«

»Für ein Auto?«, fragte Olivia ungläubig.

»Nein«, sagte Harry. »Für eine Wohnung.«

Alle schnappten nach Luft. Olivia öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und klappte ihn dann wieder zu.

»Du machst Witze«, sagte Simon. »Du hast uns eine Wohnung gekauft?«

»Sie gehört ganz euch.« Harry schob den Schlüssel über den Tisch.

Simon starrte seinen Vater an und versuchte, ein Gefühl der Dankbarkeit zu empfinden – doch vergebens, alles, was er fühlte, war Bestürzung und der Anfang einer maßlosen, kalten Wut. Er warf Milly einen Blick zu. Sie schaute Harry mit glänzenden Augen an. Unvermittelt beschlich Simon Verzweiflung.

»Woher …«, begann er, bemüht, den korrekten dankbaren Ton anzuschlagen, doch es reichte nur zu einer mürrischen Frage. »Woher weißt du, dass sie uns gefallen wird?«

»Weil es die ist, die du mieten wolltest.«

»Die in den Marlborough Mansions?«

Harry schüttelte den Kopf.

»Die, die du mieten wolltest. Die, die du dir nicht leisten konntest.«

»Die Wohnung am Parham Place?«, flüsterte Milly. »Du hast sie uns gekauft

Simon starrte seinen Vater an und hätte ihn am liebsten geschlagen. Zum Teufel mit seiner Aufmerksamkeit.

»Das ist sehr lieb von dir, Harry«, sagte James. »Unglaublich großzügig.«

Harry zuckte mit den Achseln. »Schon mal etwas, worum die beiden sich keine Sorgen mehr zu machen brauchen.«

»Oh, Schatz!«, sagte Olivia und ergriff Millys Hand. »Wird das nicht herrlich sein? Und du wirst ganz in unserer Nähe wohnen!«

»Na, immerhin etwas!«, rutschte es Simon unversehens heraus. James sah zu ihm hin und räusperte sich taktvoll.

»Und was hat Simon für ein Geschenk?«, fragte er.

»Ja.« Milly drehte sich zu Simon und berührte sanft seine Hand. »Was ist es?«

Simon griff in seine Tasche und überreichte ihr schweigend die kleine Schachtel. Alle sahen zu, wie Milly sie öffnete und zwei glitzernde Diamantohrstecker zum Vorschein kamen.

»Oh, Simon«, sagte Milly. Sie sah ihn an, die Augen plötzlich glitzernd vor ungeweinten Tränen. »Die sind aber schön!«

»Hübsch!«, meinte Olivia wegwerfend. »Oh, Milly! Parham Place!«

»Ich steck sie mir gleich an!«, sagte Milly.

»Musst du nicht«, erwiderte Simon, der um Beherrschung rang; es kam ihm vor, als ob sich alle über ihn lustig machten. Sogar Milly. »Sie sind ja nichts Besonderes.«

»Natürlich sind sie das«, versetzte Harry ernst.

»Nein, sind sie nicht!«, brüllte Simon. »Nicht im Vergleich zu einer verdammten Immobilie!«

»Simon«, sagte Harry ruhig. »Diesen Vergleich zieht doch keiner.«

»Simon, sie sind wunderschön!«, sagte Milly. »Schau doch.« Sie strich ihr Haar zurück, und die kleinen Diamanten funkelten im Kerzenlicht.

»Großartig«, sagte Simon, ohne aufzusehen. Er machte alles noch schlimmer, das wusste er, aber er konnte nicht anders. Er fühlte sich wie ein kleiner, gedemütigter Schuljunge.

Harry fing James’ Blick auf, dann erhob er sich.

»Lasst uns den Kaffee trinken«, sagte er. »Nicki wird ihn im Salon vorbereitet haben.«

»Genau«, sagte James, das Stichwort ergreifend. »Komm, Olivia.«

Die drei verließen das Esszimmer und ließen Milly und Simon schweigend zurück. Nach einer Weile sah Simon auf und bemerkte, dass Milly ihn anstarrte. In ihrem Gesicht waren weder Spott noch Mitleid zu lesen.

»Es tut mir leid«, murmelte er beschämt. »Ich benehme mich wie ein absolutes Arschloch.«

»Ich habe mich noch gar nicht für das Geschenk bedankt«, sagte Milly.

Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn mit warmen, weichen Lippen. Simon, gefangen von ihrer Süße, schloss die Augen und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Allmählich verschwand sein Vater aus seinen Gedanken, seine Verärgerung ließ nach. Milly war ganz sein – und allein das zählte.

»Lass uns abhauen«, meinte er unvermittelt. »Die Hochzeit kann uns mal. Lass uns einfach ganz für uns im Standesamt heiraten.« Milly machte sich von ihm los.

»Möchtest du das wirklich?«, fragte sie. Simon erwiderte ihren Blick. Er hatte es nur halb im Ernst gesagt, aber sie sah ihn durchdringend an. »Sollen wir, Simon?« In ihrer Stimme schwang leichte Nervosität mit. »Morgen?«

»Nun«, sagte er ein bisschen überrascht. »Das könnten wir. Aber wären dann nicht alle stocksauer? Deine Mutter würde uns das nie verzeihen.« Milly sah ihn einen Augenblick an und biss sich dann auf die Lippen.

»Hast recht«, sagte sie. »Es ist eine dumme Idee.« Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Komm. Bist du bereit, dich deinem Vater gegenüber dankbar zu zeigen? Er ist sehr freundlich, weißt du.«

»Warte«, sagte Simon. Er nahm ihre Hand und umklammerte sie. »Würdest du wirklich mit mir ausreißen?«

»Ja«, sagte Milly schlicht. »Würde ich.«

»Ich dachte, du freust dich auf die Hochzeit. Das Kleid, die Feier und all deine Freundinnen und Freunde …«

»Hab ich mich auch«, sagte Milly. »Aber …«

Sie sah fort und zuckte die Achseln.

»Aber du würdest das alles aufgeben und ausreißen«, meinte Simon mit bebender Stimme. »Du würdest das alles aufgeben.« Er sah Milly an und dachte bei sich, dass er noch nie eine solche Liebe, einen solchen Edelmut erlebt hatte.

»Keine andere Frau würde das tun«, sagte er mit bewegter Stimme. »Herrgott, ich liebe dich. Ich weiß nicht, was ich getan habe, um dich zu verdienen. Komm her.«

Er zog sie auf seine Knie und fing an, ihren Hals zu küssen, tastete nach ihrem BH-Träger, zog eilig am Reißverschluss ihres Rockes.

»Simon …«, begann Milly.

»Wir machen die Tür zu«, flüsterte er. »Schieben einen Stuhl unter den Türgriff.«

»Aber dein Vater …«

»Er hat uns warten lassen«, sagte Simon gegen Millys warme, parfümierte Haut. »Und nun lassen wir ihn warten.«

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