Am Morgen darauf erwachte Milly erfrischt. Das reichhaltige Essen, der Wein und die Unterhaltung vom Vorabend schienen spurlos an ihr vorübergegangen zu sein: Sie fühlte sich beschwingt und voller Energie.
Als sie zum Frühstücken in die Küche ging, saßen zwei Gäste bei ihrem Kaffee und nickten freundlich.
»Morgen, Milly!« Ihre Mutter sah vom Telefon auf. »Schau, eine weitere Sonderzustellung für dich!« Sie deutete auf eine große Pappschachtel auf dem Boden. »Außerdem hat jemand eine Flasche Champagner geschickt. Ich habe sie in den Kühlschrank gestellt.«
»Champagner!«, freute sich Milly. »Und was ist das?« Sie goss sich eine Tasse Kaffee ein und begann, die Schachtel aufzureißen.
»Sieht spannend aus«, meinte Mrs. Able ermutigend.
»Und Alexander sagt, er trifft dich um halb elf«, sagte Olivia. »Um ein paar Fotos zu machen und ein bisschen zu plaudern.«
»Oh.« Milly wurde plötzlich übel. »Gut.«
»Du legst vorher lieber noch etwas Make-up auf«, sagte Olivia. Sie musterte Milly kritisch. »Schatz, stimmt etwas nicht?«
»Nein, alles in Ordnung.«
»Ah, Andrea«, wandte Olivia sich wieder dem Telefon zu. »Ja, ich habe verstanden. Und es hat mich, ehrlich gesagt, beunruhigt.«
Mit zittrigen Fingern begann Milly, an der Plastikverpackung zu ziehen, und spürte Panik in sich aufsteigen. Sie wollte Alexander nicht sehen. Sie wollte weglaufen wie ein Kind und ihn aus ihrem Gedächtnis streichen.
»Na, dann wird Derek halt vielleicht einen Cut kaufen müssen«, meinte Olivia gerade scharf. »Andrea, diese Hochzeit ist keine Allerweltsfeier, sie ist ein gesellschaftliches Ereignis. Nein, ein guter Straßenanzug würde mit Sicherheit nicht reichen.« Sie verdrehte vor Milly die Augen. »Was ist es?«, fragte sie mit stummen Mundbewegungen und deutete auf das Geschenk.
Wortlos zog Milly ein Paar Reisetaschen von Louis Vuitton heraus und starrte sie an. Ein weiteres luxuriöses Geschenk. Sie versuchte zu lächeln, versuchte, ein freudiges Gesicht zu machen. Doch alles, woran sie denken konnte, war die dumpfe Angst, die in ihr wuchs. Sie wollte die prüfenden Augen nicht wieder auf ihrem Gesicht spüren. Sie wollte sich verstecken, bis sie sicher mit Simon verheiratet war.
»Wow!«, sagte Olivia.
»So etwas habe ich ja noch nie gesehen!«, sagte Mrs. Able. »Geoffrey! Schau dir doch bloß das Hochzeitsgeschenk an! Woher sind die, Liebes?«
Milly sah auf die Karte. »Von jemandem, von dem ich noch nie gehört habe.«
»Von einem von Harrys Freunden, schätze ich«, sagte Olivia und legte den Hörer auf.
»So eine Hochzeit habe ich noch nie erlebt!« Mrs. Able schüttelte den Kopf. »Was werde ich zu Hause alles zu erzählen haben!«
»Ich habe Ihnen doch erzählt, wie die Trauung abläuft, nicht wahr?«, fragte Olivia und ging selbstzufrieden zum Herd hinüber. »Wir lassen eigens einen Organisten aus Genf einfliegen. Offensichtlich ist er der Beste. Und sobald Milly bei der Kirche eintrifft, spielen drei Trompeter eine Fanfare.«
»Eine Fanfare!«, sagte Mrs. Able zu Milly. »Da werden Sie sich ja wie eine Prinzessin vorkommen.«
»Schatz, iss ein Ei«, sagte Olivia.
»Nein, danke«, sagte Milly. »Ich möchte bloß Kaffee.«
»Bist wohl noch etwas angeschlagen von gestern Abend«, meinte Olivia munter und schlug Eier in einer Pfanne auf. »Nicht, Milly, das Dinner war wundervoll?« Sie lächelte Mrs. Able an. »Ich muss sagen, Harry ist ein wunderbarer Gastgeber.«
»Ich habe gehört, dass seine geschäftlichen Dinner etwas ganz Besonderes seien«, meinte Mrs. Able.
»Na, mit Sicherheit«, entgegnete Olivia. »Aber natürlich ist es anders, wenn wir unter uns sind.« Sie lächelte in der Erinnerung. »Da gibt es diese steifen Formalitäten nicht – wir amüsieren uns alle einfach nur. Wir essen, wir trinken, wir unterhalten uns …« Sie warf Mr. und Mrs. Able einen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass sie auch zuhörten. »Schließlich ist Harry einer unserer engsten Freunde. Und bald wird er zur Familie gehören.«
»Man denke nur«, sagte Mr. Able. »Harry Pinnacle, Teil Ihrer Familie! Und dabei betreiben Sie nur ein Bed-and-Breakfast-Haus!«
»Ein vornehmes Bed and Breakfast!«, brauste Olivia auf. »Das ist ein Unterschied!«
»Geoff!«, flüsterte Mrs. Able verärgert. »Sie müssen sicher oft mit ihm dinieren«, sagte sie rasch zu Olivia. »Wo Sie so enge Freunde sind.«
»Na ja …«, sagte Olivia in besänftigtem Ton. Sie schwenkte ihren Omelettwender vage in der Luft.
Zweimal, dachte Milly. Zweimal hast du mit ihm diniert.
»Es hängt ganz davon ab.« Olivia lächelte Mrs. Able freundlich an. »Eine feste Vereinbarung gibt es da nicht. Manchmal ist er wochenlang nicht im Lande – dann kommt er zurück und möchte einfach nur mal ein paar Tage mit Freunden verbringen.«
»Waren Sie schon mal in seinem Londoner Domizil?«, fragte Mrs. Able.
»Nein«, bedauerte Olivia. »Milly aber. Und in seiner Villa in Frankreich auch. Stimmt’s nicht, Schatz?«
»Ja«, sagte Milly knapp.
»Was für ein Aufstieg für Sie, Liebes«, sagte Mrs. Able. »So über Nacht zum Jetset zu gehören.«
Olivia wehrte entrüstet ab.
»Es ist ja wohl kaum so, dass Milly aus unterprivilegierten Verhältnissen stammt«, rief sie aus. »Du bist an den Umgang mit allen möglichen Leuten gewöhnt, stimmt’s, Schatz? In Millys Schule«, setzte sie hinzu und warf Mrs. Able einen befriedigten Blick zu, »gab es eine arabische Prinzessin. Wie hieß sie doch gleich?«
Milly hielt es nicht mehr aus.
»Ich muss los.« Sie stand auf, ohne ihren Kaffee getrunken zu haben.
»Stimmt«, sagte Olivia. »Leg noch etwas Make-up auf. Du möchtest für Alexander doch besonders gut aussehen.«
»Ja«, meinte Milly schwach. An der Küchentür blieb sie noch einmal stehen. »Isobel hat nicht zufällig heute Morgen angerufen und mich sprechen wollen?«, erkundigte sie sich beiläufig.
»Nein«, erwiderte Olivia. »Ich schätze, sie ruft dich später an.«
Um zwanzig vor elf erschien Alexander an der Wohnzimmertür.
»Hi, Milly!«, sagte er. »Tut mir leid, dass ich mich ein bisschen verspätet habe.«
Milly bekam Herzflattern, als müsste sie eine Prüfung ablegen oder zum Zahnarzt gehen.
»Macht nichts«, sagte sie und legte die Zeitschrift Country Life fort, die sie zu lesen vorgegeben hatte.
»Stimmt«, sagte Olivia, die hinter Alexander den Raum betrat. »Was meinen Sie, Alexander, am Fenster oder am Klavier?«
»Einfach da, wo Milly gerade sitzt«, sagte Alexander und musterte Milly kritisch. »Ich werde ein paar Scheinwerfer aufstellen müssen …«
»Möchte jemand einen Kaffee?«, fragte Olivia.
»Ich mach ihn schon«, sagte Milly rasch und eilte ohne einen Blick zurück aus dem Raum. Auf dem Weg zur Küche warf sie einen Blick in den Spiegel. Ihre Haut war trocken, in ihren Augen lag ein ängstlicher Ausdruck, wie eine glückliche Braut sah sie beileibe nicht aus. Sie grub ihre Fingernägel in die Handfläche und zwang sich zu einem strahlenden Lächeln. Alles würde gut gehen. Wenn sie sich bloß zu einem selbstsicheren Auftreten zwingen konnte, dann würde alles gut gehen.
Bei ihrer Rückkehr war das Wohnzimmer in ein Fotostudio verwandelt worden. Ein weißes Tuch lag ausgebreitet auf dem Boden, und weiße Schirme und Scheinwerfer umgaben das Sofa, auf dem Olivia saß und befangen in Alexanders Kamera lächelte.
»Ich spiele gerade deinen Ersatz«, meinte sie fröhlich.
»Nervös?«, fragte Alexander Milly.
»Nicht die Spur«, erwiderte sie kühl.
»Zeig mir mal deine Fingernägel, Schatz«, sagte Olivia und erhob sich. »Wenn wir deinen Verlobungsring sehen …«
»Die sind in Ordnung«, schnauzte Milly und entriss ihre Hände dem mütterlichen Griff. Sie ging vorsichtig über das weiße Tuch, setzte sich auf das Sofa und sah mit größtmöglicher Ruhe zu Alexander auf.
»So ist’s recht«, sagte Alexander. »Und jetzt entspannen Sie sich einfach. Setzen Sie sich ein bisschen zurück. Lockern Sie Ihre Hände.« Er beäugte sie eine Weile kritisch. »Könnten Sie sich das Haar aus dem Gesicht streichen?«
»Ah, da fällt’s mir wieder ein!«, rief Olivia aus. »Diese Fotos, von denen ich Ihnen erzählt habe. Ich hole sie.«
»Okay«, meinte Alexander geistesabwesend. »So, Milly, ich möchte, dass Sie sich ein wenig zurücklehnen und lächeln.«
Automatisch gehorchte Milly seinen Befehlen und spürte, wie ihr Körper sich entspannte und sie in die Kissen des Sofas sank. Alexander schien sich völlig auf seine Kamera zu konzentrieren. Der Gedanke, man könne sich schon einmal getroffen haben, schien völlig vom Tisch zu sein. Sie hatte sich grundlos Sorgen gemacht, beruhigte sie sich. Alles würde gut gehen. Sie warf einen Blick auf ihren Ring, der hübsch an ihrer Hand funkelte, und verlagerte die Beine in eine vorteilhaftere Position.
»So, da sind sie!«, sagte Olivia und eilte mit einem Fotoalbum zu Alexander. »Das sind die Fotos von Isobel, kurz vor ihrer Abschlussprüfung. Also, uns haben die Fotos großartig gefallen – aber uns fehlt natürlich das Expertenauge. Was halten Sie davon?«
»Nett«, kommentierte Alexander, nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hatte.
»Finden Sie wirklich?«, fragte Olivia erfreut. Sie blätterte zurück. »Da ist sie wieder. Und hier noch mal.« Sie blätterte noch weiter zurück. »Und das ist Milly ungefähr zur gleichen Zeit. Das muss jetzt zehn Jahre her sein. Schauen Sie sich doch nur ihr Haar an!«
»Nett«, meinte Alexander automatisch. Er drehte den Kopf, um hinzuschauen, und hielt abrupt inne, als sein Blick auf Millys Foto fiel.
»Moment«, sagte er. »Darf ich mal sehen?« Er nahm Olivia das Album aus der Hand, starrte ein paar Sekunden auf das Foto und sah Milly dann ungläubig an.
»Sie hat sich die Haare ratzeputz abschneiden und bleichen lassen, ohne uns ein Sterbenswörtchen zu sagen!«, erzählte Olivia fröhlich. »Damals war sie ein ganz schön wildes Ding! Wenn man sie jetzt so anschaut, würde man das gar nicht für möglich halten, nicht?«
»Nein«, sagte Alexander. »Allerdings nicht.« Fasziniert starrte er auf das Album. »Die junge Braut«, sagte er leise und wie zu sich selbst.
Milly blickte ihn hilflos an, starr vor Schreck. Es dämmerte ihm. Es dämmerte ihm, wer sie war. Aber wenn er einfach nur den Mund hielt, konnte alles noch gut gehen. Wenn er bloß den Mund hielt.
»Tja«, sagte Alexander, als er endlich aufblickte. »Was für ein Unterschied.« Er sah Milly mit einem kleinen, amüsierten Lächeln an, und sie erwiderte seinen Blick mit flauem Magen.
»Es liegt am Haar«, erklärte Olivia eifrig. »Das ist alles. Mit einer neuen Frisur ändert sich alles andere scheinbar auch. Sie hätten mich mit toupierter Hochfrisur sehen sollen!«
»Ich glaube nicht, dass es nur am Haar liegt«, bemerkte Alexander. »Was meinen Sie dazu, Milly? Ist es nur das Haar? Oder ist es ganz was anderes?«
Sie starrte ihn entsetzt an.
»Ich weiß nicht«, brachte sie schließlich heraus.
»Es ist ein Geheimnis, nicht wahr?« Alexander deutete auf das Album. »Das sind Sie, vor zehn Jahren … und hier sind Sie jetzt, eine völlig andere Frau.« Er hielt inne und legte einen neuen Film in seine Kamera ein. »Und hier bin ich.«
»Hier ist ein tolles Bild von Isobel bei einer Schulaufführung.« Olivia hielt Alexander das Album hin. Er kümmerte sich nicht um sie.
»Ach, übrigens, Milly«, meinte er beiläufig. »Das habe ich Sie noch gar nicht gefragt. Ist das Ihre erste Ehe?«
»Aber natürlich ist das ihre erste Ehe!«, lachte Olivia. »Sieht Milly so alt aus, dass das schon ihre zweite sein könnte?«
»Sie wären überrascht«, erwiderte Alexander und stellte etwas an der Kamera ein. »Was es dieser Tage alles gibt.« Unvermittelt flammte ein Blitz auf, und Milly zuckte erschrocken zusammen. Alexander sah zu ihr hin.
»Entspannen Sie sich«, sagte er, und der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Wenn Sie können.«
»Du siehst bezaubernd aus, Schatz«, sagte Olivia und faltete ihre Hände.
»Ich habe nur gefragt«, fuhr Alexander fort, »weil ich momentan eine Menge zweiter Ehen zu machen scheine.« Er betrachtete sie über seine Kamera hinweg. »Das ist bei Ihnen aber nicht der Fall.«
»Nein«, sagte Milly mit erstickter Stimme. »Bei mir nicht.«
»Interessant.«
Milly warf ihrer Mutter einen ängstlichen Blick zu. Doch Olivia hatte den gleichen unbedarften Ausdruck im Gesicht, der erschien, wenn Geschäftsgäste anfingen, sich über Computersoftware oder den Yen zu unterhalten. Als sie Millys Blick auffing, nickte sie und trat ehrfurchtsvoll den Rückzug an.
»Bis später dann, ja?«, flüsterte sie.
»So ist es gut«, meinte Alexander. »Jetzt drehen Sie Ihren Kopf nach links. Sehr gut.« Wieder erhellte sich der Raum. In der Ecke schloss Olivia leise die Tür hinter sich.
»So, Milly«, meinte Alexander. »Was haben Sie mit Ihrem ersten Mann angestellt?«
Alles um Milly herum begann sich zu drehen; jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an. Ohne zu antworten blickte sie starr in die Kameralinse.
»Lockern Sie die Hände«, befahl Alexander. »Die sind viel zu verkrampft. Immer locker bleiben!« Er machte ein paar weitere Aufnahmen. »Kommen Sie, Milly. Was für eine Geschichte steckt dahinter?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, erwiderte Milly mit trockener Stimme. Alexander lachte.
»Na, da müssen Sie sich schon was Besseres einfallen lassen.« Er richtete einen der weißen Schirme aus. »Sie wissen genau, wovon ich spreche. Und ganz offensichtlich weiß sonst niemand davon außer mir. Das macht mich neugierig. Versuchen Sie, die Beine übereinanderzuschlagen«, fügte er hinzu und sah durch die Linse. »Linke Hand aufs Knie, damit wir den Ring sehen können. Und die andere unter das Kinn.«
Wieder flammte der weiße Blitz auf. Milly starrte verzweifelt nach vorn, zerbrach sich den Kopf nach einer Erwiderung, einer vernichtenden Bemerkung, einem witzigen Gegenschlag. Aber in ihrer Panik war sie dazu außerstande. Die Angst schien sie auf das Sofa zu drücken, sie war unfähig, irgendetwas anderes zu tun, als seinen Befehlen zu gehorchen.
»Eine erste Ehe verstößt nicht gegen das Gesetz, wissen Sie!«, bemerkte Alexander. »Wo liegt also das Problem? Hätte Ihr Bräutigam was dagegen? Oder Ihr Vater?« Er schoss noch ein paar Fotos und legte dann einen neuen Film ein. »Machen Sie deshalb ein Geheimnis draus?« Er beäugte sie nachdenklich. »Oder steckt etwa mehr dahinter?« Er blickte auf die Linse hinunter. »Können Sie sich ganz leicht nach vorn beugen?«
Beklommen tat Milly wie geheißen.
»Übrigens, ich habe immer noch ein altes Foto von Ihnen«, sagte Alexander. »In Ihrem Hochzeitskleid, auf den Treppen. Eine Superaufnahme. Beinahe hätte ich sie gerahmt.«
Ein erneuter Blitz. Milly war schlecht vor Angst. In Gedanken kehrte sie zu jenem Tag in Oxford zurück, zu der Touristenschar, die von ihr und Allan auf der Treppe Fotos schoss, während sie sich in Pose gestellt und für sie gelächelt hatte. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Wie hatte sie …
»Natürlich sehen Sie jetzt völlig anders aus«, sagte Alexander. »Ich hätte Sie beinahe nicht mehr erkannt.«
Milly zwang sich, aufzuschauen und seinem Blick standzuhalten.
»Sie haben mich nicht erkannt.« Ein flehender Ton schlich sich in ihre Stimme. »Sie haben mich nicht erkannt!«
»Also, ich weiß ja nicht!« Alexander schüttelte den Kopf. »Geheimnisse vor dem zukünftigen Ehemann zu haben! Kein gutes Zeichen, Milly.« Er schälte sich aus seinem Pullover und warf ihn in eine Ecke. »Verdient der arme Kerl es denn nicht, Bescheid zu wissen? Sollte man es ihm nicht sagen?«
Milly bewegte die Lippen, um zu sprechen, doch es kam kein Ton heraus. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst ausgestanden.
»So ist es toll«, sagte Alexander, der wieder in die Kamera blickte. »Aber versuchen Sie, nicht die Stirn zu runzeln.« Er sah auf und grinste. »Denken Sie an etwas Schönes!«
Nach einer scheinbaren Ewigkeit war er schließlich fertig.
»Okay«, sagte er. »Sie können jetzt gehen.« Milly erhob sich vom Sofa und sah ihn wortlos an. Wenn sie ihn anflehte – ihm alles erzählte –, dann hatte er vielleicht ein Einsehen. Oder auch nicht. Ein Schauer überlief sie. Das Risiko war zu groß.
»Wollten Sie noch etwas?« Alexander sah von seiner Kameratasche auf.
»Nein«, erwiderte Milly. Einen Moment trafen sich ihre Blicke, und wieder packte sie die Angst. »Danke«, setzte sie hinzu. So schnell sie konnte, ging sie zur Tür, ohne dass es überstürzt wirkte, zwang sich dazu, die Türklinke langsam hinunterzudrücken, und schlüpfte zur Diele hinaus. Als sich die Tür hinter ihr schloss, war sie vor Erleichterung den Tränen nahe. Aber was jetzt? Sie schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und griff nach dem Telefon. Die Nummer kannte sie inzwischen schon auswendig.
»Hallo?«, ertönte eine Stimme. »Wenn Sie Isobel Havill eine Nachricht hinterlassen wollen, sprechen Sie bitte nach dem Signalton.«
Milly knallte den Hörer frustriert auf die Gabel und starrte ihn an. Sie musste mit jemandem reden. Sie hielt das nicht länger aus. Dann hatte sie plötzlich eine Eingebung, und sie nahm erneut den Hörer ab.
»Hallo?«, sagte sie, als jemand antwortete. »Esme? Hier Milly. Kann ich bei dir vorbeikommen?«
Millys Patentante wohnte in einem großen, eleganten Haus im Norden der Stadt, etwas zurückgesetzt von der Straße und von einem ummauerten Garten umgeben. Als Milly den Gartenweg entlangging, öffnete Esme die Tür, und ihre beiden schlanken Whippets tollten in den Schnee hinaus und sprangen an Milly hoch.
»Runter mit euch, ihr Bestien!«, rief Esme. »Lasst die arme Milly in Ruhe. Sie ist nicht gut drauf.« Milly sah auf.
»Ist das so offensichtlich?«
»Natürlich nicht!«, sagte Esme. Sie zog an ihrer Zigarette und lehnte sich gegen den Türrahmen. Ihre dunklen Augen sahen Milly abschätzend an. »Aber normalerweise rufst du mich nicht mitten am Tag an und bittest um ein sofortiges Treffen. Da muss ja wohl was nicht stimmen.«
Milly schaute in Esmes prüfende Augen und hatte plötzlich Hemmungen.
»Nicht direkt.« Geistesabwesend streichelte sie den Hunden über die Köpfe. »Ich hatte nur mit jemandem reden wollen, und Isobel ist nicht da …«
»Reden, worüber?«
»So genau weiß ich das gar nicht.« Milly schluckte. »Über alles Mögliche.« Esme zog wieder an ihrer Zigarette.
»So, so, über alles Mögliche. Meine Neugierde ist geweckt. Du kommst jetzt besser mal rein.«
Im Wohnzimmer knisterte ein Feuer, und ein Krug mit Glühwein verströmte einen köstlichen Duft. Während Milly Esme ihren Mantel gab und dankbar auf das Sofa sank, fragte sie sich wieder einmal erstaunt, wie solch eine welterfahrene, kultivierte Frau mit ihrem langweiligen Vater verwandt sein konnte.
Esme Ormerod war eine Halbkusine von James Havill. Sie entstammte einem betuchteren Familienzweig, war in London aufgewachsen und hatte zu James wenig Verbindung gehabt. Aber dann, ungefähr zu der Zeit, als Milly geboren wurde, war sie nach Bath gezogen und hatte sich höflich um Kontakt zu ihm bemüht. Olivia, beeindruckt von dieser neuen, reichlich exotischen Verwandten ihres Mannes, hatte sie unverzüglich gefragt, ob sie nicht Millys Patentante werden wolle, mit dem Hintergedanken, sie könnten sich auf diese Weise näher kommen. Doch die beiden waren nie Freundinnen geworden. Soweit Milly wusste, war Esme mit niemandem direkt befreundet. Jeder in Bath kannte die schöne Esme Ormerod. Viele hatten an Partys in ihrem Haus teilgenommen, hatten ihre ungewöhnlichen Gewänder und die ständig wechselnde Sammlung von objets in ihren Räumen bewundert, aber kaum einer konnte sich damit brüsten, Esme gut zu kennen. Selbst Milly, die ihr von allen Havills am nächsten stand, hatte oft keine Ahnung, was sie gerade dachte oder was sie als Nächstes sagen würde.
Ebenso wenig war ihr klar, womit Esme eigentlich ihr Geld verdiente. Esmes Familienzweig war zwar vermögend, aber so weit, so die gängige Meinung, war es damit auch wieder nicht her, dass Esme davon all die Jahre ihren bequemen Lebensstil hätte bestreiten können. Die wenigen Gemälde, die sie gelegentlich verkaufte, reichten, wie Millys Vater es ausdrückte, nicht einmal, um damit ihre Samtschals zu bezahlen; ansonsten aber bezog sie offensichtlich kein Einkommen. Infolgedessen gab die Frage nach Esmes Geld Anlass zu so mancher Spekulation. Eines der letzten Gerüchte, die in Bath kursierten, war, dass sie einmal im Monat nach London reiste, um es dort gegen ein ansehnliches Taschengeld mit einem alternden Millionär ganz unbeschreiblich zu treiben. »Also, wirklich, was für ein Unsinn«, hatte Olivia gesagt, als sie davon gehört hatte – um dann im nächsten Atemzug einzuräumen: »Aber möglich wär’s wohl schon …«
»Nimm dir doch einen.« Esme reichte Milly einen Teller mit Gebäck, jedes einzelne eine wunderbare, einzigartige Kreation.
»Mhm, die sehen aber gut aus!« Milly schwankte, ob sie ein mit Kakaospiralen oder ein mit Mandelsplittern dekoriertes Plätzchen nehmen sollte. »Wo hast du die denn her?«
»Aus einem kleinen Laden, den ich kenne«, erklärte Esme. Milly nickte und biss in die Kakaospiralen: Ein himmlischer, schokoladiger Geschmack erfüllte sofort ihren Mund. Esme schien alles von winzigen, namenlosen Läden zu beziehen – im Gegensatz zu Olivia, die große Häuser mit wohl bekannten Namen vorzog. Fortnum and Mason. Harrods. John Lewis.
»Na, erzähl mal, wie geht’s mit den Hochzeitsvorbereitungen voran?«, erkundigte sich Esme, die sich vor dem Kamin auf den Boden gesetzt hatte und die Ärmel ihres grauen Kaschmirpullovers hochschob. Der Opalanhänger, den sie immer trug, schimmerte im Licht des Feuers.
»Gut«, sagte Milly. »Du weißt ja, wie das ist.« Esme zuckte unverbindlich die Achseln, und Milly registrierte, dass sie schon seit Wochen, wenn nicht Monaten, nicht mehr mit ihrer Patin gesprochen hatte. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Seit Millys Teenagertagen war ihre Beziehung immer in Phasen verlaufen. Wann immer zu Hause dicke Luft geherrscht hatte, war Milly umgehend zu Esme aufgebrochen. Esme verstand sie immer, Esme behandelte sie stets wie eine Erwachsene. Milly verbrachte dann Tage bei ihrer Tante, machte sich ihre Gedanken zu eigen, nahm ihre Ausdrucksweise an und half ihr, interessante Gerichte mit Zutaten zuzubereiten, von denen Olivia noch nie gehört hatte. Sie saßen in Esmes Wohnzimmer, tranken gekühlten Weißwein, lauschten Kammermusik. Milly fühlte sich erwachsen und kultiviert und schwor sich, künftig nach Esmes Fasson zu leben. Kaum war sie dann wieder ein oder zwei Tage zu Hause, nahm sie ihr Leben genau da wieder auf, wo sie es verlassen hatte – und Esmes Einfluss belief sich auf nicht mehr als das eine oder andere neue Wort oder eine Flasche kaltgepressten Olivenöls.
»Tja, Schatz«, sagte Esme gerade. »Wenn es nicht die Hochzeit ist, was ist es dann?«
»Es ist die Hochzeit«, erwiderte Milly. »Aber es ist ein bisschen kompliziert.«
»Simon? Habt ihr euch gestritten?«
»Nein«, sagte Milly sofort. »Nein. Es ist nur …« Sie stieß scharf den Atem aus und legte ihr Plätzchen fort. »Ich brauche bloß einen Rat. Einen … hypothetischen Rat.«
»Einen hypothetischen Rat?«
»Ja«, versetzte Milly verzweifelt. »Einen hypothetischen.«
Es trat eine kleine Pause ein, dann sagte Esme: »Ich verstehe.« Sie schenkte Milly ein katzenähnliches Lächeln. »Erzähl weiter.«
Um ein Uhr wurde Simon ein Anruf aus Paris durchgestellt.
»Simon? Ich bin’s, Isobel.«
»Isobel! Wie geht’s dir?«
»Hast du eine Ahnung, wo Milly steckt? Ich habe sie zu erreichen versucht.« Isobels Stimme klang lächerlich fern und blechern, fand Simon. Herrje, sie war doch nur in Paris.
»Ist sie denn nicht in der Arbeit?«, fragte Simon.
»Anscheinend nicht. Hör mal, hattet ihr beide Streit miteinander? Sie hat schon mehrfach versucht, mich zu erreichen.«
»Nein«, meinte Simon überrascht. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Dann muss es etwas anderes sein«, sagte Isobel. »Ich versuch’s mal zu Hause. Also, wir sehen uns, wenn ich wieder da bin.«
»Warte«, sagte Simon unvermittelt. »Isobel – ich möchte dich um etwas bitten.«
»Ja?« Sie klang argwöhnisch. Oder vielleicht war das auch nur seine Paranoia. Simon empfand Isobel immer als etwas schwierig. Sie sagte immer so wenig. Wann immer er mit ihr sprach, wurde er unter ihrem musternden Blick grundsätzlich unsicher und fragte sich, was im Himmel sie von ihm hielt. Natürlich mochte er sie – aber er fand sie auch ein kleines bisschen Furcht einflößend.
»Es ging tatsächlich um einen Gefallen«, sagte er. »Ich habe mich gefragt, ob du mir für Milly ein Geschenk besorgen könntest.«
»Was soll’s denn sein?«
Milly an ihrer Stelle, dachte Simon, hätte sofort gerufen »Ja, klar!« – und sich erst dann nach Einzelheiten erkundigt.
»Ich möchte ihr eine große Chaneltasche schenken.« Er schluckte. »Könntest du also vielleicht eine für sie aussuchen?«
»Eine Chaneltasche?«, fragte Isobel ungläubig. »Ja, hast du denn eine Ahnung, wie viel die kostet?«
»Ja.«
»Hunderte.«
»Schon klar.«
»Simon, du bist verrückt. Milly möchte keine Chaneltasche.«
»Doch, möchte sie schon!«
»Das ist doch gar nicht ihr Stil.«
»Aber natürlich«, versetzte Simon. »Milly mag elegante, klassische Stücke.«
»Na, wenn du meinst«, erwiderte sie trocken. Dann seufzte sie. »Simon, ist es, weil dein Vater euch eine Wohnung kauft?«
»Nein«, sagte Simon. »Natürlich nicht.« Er zögerte. »Woher weißt du davon?«
»Mummy hat’s mir erzählt. Und von den Ohrringen auch.« Isobels Stimme wurde weich. »Schau, ich kann mir schon vorstellen, dass der Augenblick nicht einfach für dich war. Aber das ist noch lange kein Grund, dass du jetzt all dein Geld für eine teure Tasche rauswirfst.«
»Milly verdient das Beste.«
»Sie hat das Beste. Sie hat dich!«
»Aber …«
»Jetzt hör mal, Simon. Wenn du Milly wirklich etwas kaufen willst, dann kauf etwas für die Wohnung. Ein Sofa. Oder einen Teppich. Darüber würde sie sich freuen.«
Stille.
»Du hast recht«, meinte Simon schließlich.
»Na klar.«
»Es ist bloß …« Simon atmete aus. »Mein Scheißvater!«
»Ich weiß«, sagte Isobel. »Aber was willst du machen? Er ist ein großzügiger Millionär. So ’ne Scheiße.« Simon zuckte zusammen.
»Gott, du bist hart, nicht? Ich glaube, ich ziehe deine Schwester vor.«
»Mir recht. Du, ich muss los. Ich muss einen Flieger erreichen.«
»Okay. Hör zu, Isobel, danke. Ich bin dir wirklich dankbar.«
»Ja, ja. Ich weiß. Bye.« Und bevor Simon noch etwas sagen konnte, hatte sie aufgelegt.
»Also gut.« Milly zog die Schultern hoch und sah von Esme fort ins flackernde Feuer. »Angenommen, es gibt da eine Person. Und diese Person hat ein Geheimnis.«
»Eine Person«, sagte Esme und sah sie fragend an. »Und ein Geheimnis?«
»Ja.« Milly starrte noch immer ins Feuer. »Und angenommen, sie hat noch keiner Menschenseele davon erzählt. Noch nicht einmal dem Mann, den sie liebt.«
»Warum nicht?«
»Weil er es nicht zu wissen braucht«, meinte Milly trotzig. »Weil es nur eine dumme, bedeutungslose Sache ist, die vor zehn Jahren geschah. Und wenn es herauskäme, würde es alles kaputtmachen. Nicht nur für sie. Für alle.«
»Aha«, sagte Esme. »So ein Geheimnis!«
»Ja«, erwiderte Milly. »So eines.« Sie holte tief Luft. »Und angenommen …« Sie biss sich auf die Lippen. »Angenommen, da kommt jemand, der weiß davon. Und er fängt zu drohen an.«
Esme atmete sacht aus.
»Verstehe.«
»Aber es ist unklar, ob es ihm ernst damit ist oder nicht. Er kann auch nur scherzen.«
Esme nickte.
»Tja«, sagte Milly. »Was soll sie deiner Meinung nach tun?« Sie sah auf. »Soll sie es ihrem … Partner sagen? Oder soll sie einfach den Mund halten und hoffen, dass sie damit durchkommt?«
Esme griff nach ihrer Zigarettendose. »Lohnt es sich denn wirklich, dieses Geheimnis zu bewahren?«, wollte sie wissen. »Oder ist es lediglich eine kleine Unbedachtheit, die niemanden stören würde? Könnte diese Person vielleicht überreagieren?«
»Nein«, sagte Milly, »auf keinen Fall. Es ist ein sehr großes Geheimnis. Wie eine …« Sie hielt inne. »Wie eine vorangegangene Ehe. Oder so was in der Art.«
Esme zog die Augenbrauen hoch.
»Das ist ein großes Geheimnis.«
»Oder so was«, wiederholte Milly. »Es ist egal, was es ist.« Sie hielt Esmes Blick stand. »Die Sache ist die, dass sie es zehn Jahre lang geheim gehalten hat. Niemand hat je davon erfahren. Und niemand braucht davon zu erfahren.«
»Aha«, sagte Esme. »Verstehe.« Sie zündete sich eine neue Zigarette an und inhalierte einen tiefen Lungenzug.
»Ja, was würdest du an ihrer Stelle tun?«, fragte Milly. Esme blies nachdenklich eine Rauchwolke aus.
»Welches Risiko geht die andere Person ein, wenn sie sie verrät?«
»Kein großes«, sagte Milly. »Kein großes, denk ich.«
»Dann würde ich nichts sagen«, riet Esme. »Augenblicklich zumindest. Und ich würde mir überlegen, wie ich den anderen dazu bringe, den Mund zu halten.« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht verläuft das Ganze im Sande.«
»Glaubst du?« Milly sah auf. »Glaubst du wirklich?«
Esme lächelte.
»Schatz, wie oft hast du dich nachts schon hin und her gewälzt und dir Sorgen um etwas gemacht, nur um morgens dann zu entdecken, dass die ganze Angst völlig unbegründet war? Wie viele Male bist du mit einer Entschuldigung für irgendein Fehlverhalten hereingeeilt, nur um zu erkennen, dass es keinem überhaupt aufgefallen ist?« Sie zog tief an ihrer Zigarette. »Neun von zehn Malen ist es besser, mit gesenktem Kopf den Mund zu halten und zu hoffen, dass alles glatt geht. Und niemand braucht je davon zu erfahren.« Sie hielt inne. »Rein hypothetisch gesprochen, natürlich.«
»Ja, natürlich.«
Stille trat ein, unterbrochen nur durch das Knistern und Prasseln des Feuers. Draußen schneite es wieder in dicken Flocken.
»Trink noch etwas Glühwein«, schlug Esme vor. »Ehe er kalt wird. Und nimm dir noch ein Plätzchen.«
»Danke«, murmelte Milly. Sie nahm sich noch eines und starrte sie an. »Du glaubst also nicht, ich … die Person sollte ehrlich zu ihrem Partner sein?«
»Warum sollte sie?«
»Weil … weil sie ihn heiratet!« Esme lächelte.
»Schatz, an sich ist das ja ein netter Gedanke. Aber eine Frau sollte nie versuchen, ehrlich zu einem Mann zu sein. Das ist so gut wie unmöglich.«
Milly schaute auf. »Wie meinst du das, unmöglich?«
»Versuchen kann man’s natürlich«, meinte Esme. »Aber im Grunde sprechen Frauen und Männer nicht dieselbe Sprache. Sie haben … verschiedene Sinne. Versetze einen Mann und eine Frau in genau die gleiche Situation, und sie werden sie total unterschiedlich wahrnehmen.«
»Und daraus folgt?«
»Daraus folgt, dass sie einander fremd sind«, erklärte Esme. »Und du kannst mit niemandem vollkommen ehrlich sein, den du nicht richtig verstehst.«
Milly dachte eine Weile nach.
»Menschen, die seit Jahren glücklich verheiratet sind, verstehen einander«, sagte sie schließlich.
»Sie wursteln sich durch«, versetzte Esme, »mit einer Mischung aus Zeichensprache und Goodwill und dem einen oder anderen Satz, den sie im Laufe der Jahre aufgeschnappt haben. Zu den wahren Tiefen der Seele des anderen stoßen sie aber nicht vor. Dafür fehlt ganz einfach die gemeinsame Sprache.« Wieder zog sie an ihrer Zigarette. »Und Dolmetscher gibt es keine. Oder zumindest nur sehr wenige.«
Milly schaute sie mit großen Augen an. »Du willst also sagen, so etwas wie eine glückliche Ehe gibt es gar nicht?«
»Damit will ich sagen, so etwas wie eine ehrliche Ehe gibt es nicht«, erwiderte Esme. »Glück ist etwas anderes.«
»Ich schätze, du hast recht«, meinte Milly verzweifelt und warf einen Blick auf ihre Uhr. »Esme, ich muss los.«
»Schon?«
»In Simons Büro bekommen wir ein Hochzeitsgeschenk überreicht.«
»Ah so.« Esme strich die Zigarettenasche in einem Perlmuttbehälter ab. »Nun, hoffentlich habe ich dir bei deinem kleinen Problem etwas helfen können.«
»Eigentlich nicht«, sagte Milly geradeheraus. »Wenn überhaupt, dann bin ich jetzt noch verwirrter als zuvor.« Esme lächelte amüsiert.
»O je. Das tut mir leid.« Sie musterte Millys Gesicht. »Ja, und was meinst du, was wird deine …hypothetische Person nun tun?«
Stille.
»Ich weiß nicht«, meinte Milly schließlich. »Ich weiß es wirklich nicht.«
James Havill hatte mittags das Büro verlassen und sich auf den Heimweg gemacht. Bei seiner Ankunft war das Haus bis auf das eine oder andere Knarzen in mittägliche Stille gehüllt. Er stand eine Weile in der Diele und lauschte. Aber sein Heim schien so leer zu sein, wie er es sich erhofft hatte. Zu dieser Tageszeit waren die Gäste auf Sightseeingtour. Milly arbeitete noch, die Putzfrau war fertig. Die Einzige im Haus wäre Olivia.
So leise wie möglich erklomm er die Treppe. Als er im zweiten Stock um die Ecke bog, begann sein Herz erwartungsvoll zu pochen. Er hatte diese Begegnung den ganzen Vormittag geplant; er hatte in Besprechungen gesessen und an nichts anderes gedacht als daran, was er seiner Frau sagen würde – und wie.
Ihre Zimmertür war geschlossen. Bevor er anklopfte, starrte James einen Augenblick auf das Porzellanschild, auf dem das Wort PRIVAT stand.
»Ja?« Ihre Stimme klang erschrocken.
»Ich bin’s nur«, sagte er und machte die Tür auf. Im Zimmer war es warm von dem elektrischen Ofen, zu warm für seinen Geschmack. Olivia saß in ihrem verblichenen Chintzsessel vor dem Fernseher. Ihre Füße ruhten auf der Fußbank, die sie selbst mit Gobelinstoff bezogen hatte. Neben ihr stand eine Tasse Tee, und in den Händen hielt sie einen blassrosa Seidenstoff.
»Hallo.« James blickte zum Fernseher, wo eine schwarzweiße Bette Davis sich frostig mit einem Mann mit kantigem Kinn unterhielt. »Ich wollte dich nicht stören.«
»Tust du auch nicht«, sagte Olivia. Sie ergriff die Fernbedienung und verringerte Bette Davis’ Stimme zu einem fast unhörbaren Murmeln. »Was hältst du davon?«
»Was meinst du?«, fragte James überrascht.
»Isobels Kleid!«, erwiderte Olivia und hielt die rosa Seide hoch. »Ich fand es ein bisschen schlicht, deshalb besetze ich es mit ein paar Rosen.«
»Sehr hübsch«, sagte James, den Blick immer noch auf den Bildschirm gerichtet. Er konnte nicht ganz verstehen, was Bette Davis sagte. Sie hatte ihre Handschuhe aufgeknöpft; wollte sie den Mann mit dem kantigen Kinn zu einem Kampf herausfordern? Er sah auf. »Ich wollte mit dir reden.«
»Und ich mit dir«, sagte Olivia. Sie nahm ein rotes Heft zur Hand, das neben dem Sessel lag, und las darin nach. »Also das Erste: Hast du die Strecke zur Kirche mit der Stadtverwaltung abgeklärt?«
»Ich kenne die Strecke«, sagte James. Olivia seufzte verzweifelt auf.
»Schon klar! Aber weißt du, ob am Samstag irgendwelche Straßenarbeiten oder Demonstrationen durchgeführt werden? Nein! Deshalb müssen wir bei der Stadt anrufen. Erinnerst du dich nicht?« Sie schrieb etwas in das Heft hinein. »Schon gut, dann erledige ich es halt selbst.«
James schwieg. Er sah sich nach einer Sitzgelegenheit um, aber einen weiteren Stuhl gab es nicht. Schließlich setzte er sich auf die Bettkante. Olivias Bettdecke war weich und roch schwach nach ihrem Parfüm. Sie war gleichmäßig über ihr Bett ausgebreitet, drapiert mit Spitzenkissen, adrett und sauber, als würde sie nie darin schlafen. Soweit er wusste, tat sie es auch nicht. Seit sechs Jahren hatte James die Unterseite von Olivias Bettdecke nicht mehr zu Gesicht bekommen.
»Und dann«, meinte Olivia, »ist da noch die Frage nach den Geschenken für die Gäste.«
»Geschenke für die Gäste?«
»Ja, James«, sagte Olivia ungeduldig. »Geschenke für die Gäste. Heutzutage ist das so üblich.«
»Ich dachte, es wäre andersherum.«
»So rum und so rum. Die Gäste geben Milly und Simon ein Geschenk, und wir schenken den Gästen was.«
»Und wer schenkt uns was?«, wollte James wissen. Olivia verdrehte die Augen.
»Also, du bist wirklich keine Hilfe, James. Milly und ich haben bereits organisiert, dass jeder Gast eine Sektflöte bekommt.«
»Na, das ist doch in Ordnung.« James holte Luft. »Olivia …«
»Aber ich habe mich gefragt, ob ein blühender Rosenbusch nicht origineller wäre? Schau!« Sie deutete auf eine aufgeschlagene Zeitschrift auf dem Boden. »Ist das nicht hübsch?«
»Einen blühenden Rosenbusch für jeden Gast? Das Haus wird aussehen wie ein Wald.«
»Einen Minirosenbusch«, versetzte Olivia ungeduldig. »Zwergrosen nennt man die.«
»Olivia, hast du nicht schon genug zu tun, ohne noch in letzter Minute Zwergrosen zu organisieren?«
»Na, vielleicht hast du recht.« Bedauernd ergriff Olivia ihren Füller und strich einen Eintrag in ihrem Heft durch. »So, was hätten wir noch?«
»Olivia, hör mir mal einen Augenblick zu«, sagte James. Er räusperte sich. »Ich wollte mit dir darüber … darüber sprechen, wie es weitergeht. Nach der Hochzeit.«
»Du meine Güte, James! Lass uns doch erst mal die Hochzeit über die Bühne bringen. Danach sehen wir weiter. Als hätten wir nicht genug, worüber wir uns den Kopf zerbrechen müssten!«
»Hör mich doch nur mal fertig an!« James schloss die Augen und holte tief Luft. »Ich denke, uns ist beiden klar, dass sich einiges ändern wird, wenn Milly fort ist, oder? Wenn nur noch wir beide hier im Haus leben.«
»Gagen für den Chor …«, murmelte Olivia und zählte an ihren Fingern ab. »Knopflöcher …«
»Es bringt nichts, so zu tun, als könnte alles so bleiben wie bisher.«
»Kuchenständer …«
»Schon seit Jahren haben wir uns auseinandergelebt. Du führst dein Leben, ich meines …«
»Die Rede!« Olivia sah triumphierend auf. »Hast du deine Rede schon verfasst?«
»Ja.« James starrte sie an. »Aber niemand scheint zuzuhören.«
»Ich würde nämlich vorschlagen, du schreibst sie zweimal ab. Dann kann ich eine behalten, für alle Fälle.« Sie strahlte ihn an.
»Olivia …«
»Und das Gleiche möchte ich auch Simon vorschlagen. Lass mich das nur schnell aufschreiben.«
Sie machte sich eine Notiz, und James’ Blick glitt zum Fernseher. Bette Davis sank in die Arme des Mannes mit dem kantigen Kinn, auf ihren Wimpern glitzerten Tränen.
»Gut«, sagte Olivia. »Nun, das wär’s.« Sie sah auf ihre Uhr und erhob sich. »Und jetzt muss ich mich schleunigst zum Chorleiter aufmachen. War sonst noch was?«
»Nun …«
»Ich bin nämlich schon etwas spät dran. Entschuldige mich.« Sie machte James ein Zeichen aufzustehen und legte die rosa Seide vorsichtig auf das Bett. »Bis später!«
»Ja«, meinte James. »Bis später.«
Die Tür schloss sich hinter ihm, und er ertappte sich dabei, wie er Olivias kleines Schild anstarrte.
»Was ich damit sagen will«, sagte er zur Tür, »ist, dass ich nach der Hochzeit ausziehen möchte. Ich möchte ein neues Leben beginnen. Verstehst du?«
Stille. James zuckte mit den Achseln, machte auf dem Absatz kehrt und ging davon.