2. Kapitel


Während er an diesem Abend auf dem Heimweg in einem Stau festsaß und den endlosen Schneefall und das Hin und Her der Scheibenwischer beobachtete, langte Simon nach seinem Telefon, um Milly anzurufen. Er gab die ersten beiden Nummern ein, besann sich dann eines anderen und schaltete das Telefon wieder aus. Er hatte nur ihre Stimme hören, sie zum Lachen bringen wollen. Doch sie könnte beschäftigt sein oder es lächerlich finden, dass er sie einfach aus einer Laune heraus und ohne eigentlichen Grund anrief. Und wenn sie noch immer unterwegs war, dann musste er sich am Ende noch mit Mrs. Havill unterhalten.

Ihre Mutter war das Einzige an Milly, das Simon, wenn möglich, geändert hätte. Gut, sie war noch immer attraktiv, charmant und amüsant; er verstand, warum sie bei gesellschaftlichen Anlässen so beliebt war. Aber es machte ihn rasend, wie sie Milly behandelte. Sie schien sie immer noch für eine Sechsjährige zu halten – erteilte ihr Ratschläge bei der Auswahl ihrer Kleider, sagte ihr, wie sie den Schal zu tragen habe, wollte genau wissen, was sie tat, und das jede Minute jedes Tages! Und das Schlimmste daran war, fand Simon, dass es Milly anscheinend nichts ausmachte! Sie ließ es zu, dass ihre Mutter ihr das Haar glättete und »braves, kleines Mädchen« sagte. Sie rief pflichtbewusst an, wenn sie zu spät nach Hause kam. Im Unterschied zu ihrer älteren Schwester Isobel, die sich schon vor langer Zeit eine eigene Wohnung gekauft hatte und ausgezogen war, schien Milly gar nicht den Wunsch zu haben, sich abzunabeln.

Infolgedessen behandelte ihre Mutter sie weiterhin wie ein Kind statt wie eine reife Erwachsene, die sie doch in Wirklichkeit war. Und Millys Vater und ihre Schwester Isobel verhielten sich keinen Deut besser. Sie lachten, wenn Milly etwas zu aktuellen Themen sagte, sie machten sich über ihre Berufswahl lustig, diskutierten wichtige Angelegenheiten, ohne sie zu Rate zu ziehen. Sie weigerten sich, die intelligente, leidenschaftliche Frau in ihr zu sehen, die er in ihr sah, weigerten sich, ihr einen Erwachsenenstatus einzuräumen.

Simon hatte versucht, mit Milly darüber zu sprechen, versucht, ihr klarzumachen, wie herablassend sie von ihrer Familie behandelt wurde. Aber sie hatte bloß mit den Achseln gezuckt und gesagt, so schlimm sei es auch wieder nicht, und war, als er deutlicher wurde, sogar wütend geworden. Sie war zu gutmütig und ihrer Familie zu sehr zugetan, als dass sie ihre Fehler gesehen hätte, dachte Simon, während er von der Ausfallstraße in Richtung Pinnacle Hall abbog. Und dafür liebte er sie. Aber nach ihrer Heirat, wenn sie ihren eigenen Haushalt gründeten, würde sich das ändern müssen. Milly würde ihre Schwerpunkte anders setzen müssen, und das hatte ihre Familie zu respektieren. Sie würde Ehefrau sein, eines Tages vielleicht Mutter. Und die Havills würden einsehen müssen, dass sie nicht länger ihr kleines Mädchen war.

Vor den Toren von Pinnacle Hall tippte er den Sicherheitscode auf seine Infrarot-Fernbedienung und wartete darauf, dass die Tore aufschwangen – schwere Eisentore, in die der Familienname geschmiedet war. Jedes Fenster des Hauses war hell erleuchtet; auf den ausgewiesenen Plätzen parkten Wagen, und im Bürotrakt herrschte noch immer reger Betrieb. Der rote Mercedes seines Vaters stand geradewegs vor dem Haus – ein großer, glänzender, arroganter Wagen. Simon verabscheute ihn.

Er parkte seinen Golf an einer unauffälligen Stelle und ging mit knirschenden Schritten über den schneebedeckten Kies Richtung Pinnacle Hall. Es war ein großes Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert, das in den achtziger Jahren ein Luxushotel mitsamt einem Freizeitpark und einen Anbau zusätzlicher Schlafzimmer beherbergt hatte. Als die Eigentümer Pleite gemacht hatten, erstand es Harry Pinnacle und baute es in ein Privathaus um, in dessen zusätzlichem Trakt seine Firmenzentrale untergebracht wurde. Ihm gefiel es, erzählte er Reportern, die ihn besuchten, außerhalb Londons zu wohnen. Schließlich wurde er alt und brauchte den ganzen Stadtrummel nicht mehr. Auf diese Worte trat immer kurze Zeit Stille ein – und dann lachten alle; und Harry grinste und drückte auf den Klingelknopf, um frischen Kaffee zu bestellen.

Die getäfelte Halle war leer und roch nach Bienenwachs. Unter der Tür des Arbeitszimmers seines Vaters drang Licht heraus; dahinter konnte Simon seine Stimme hören, dann leises Gelächter. Sofort richteten sich seine Nackenhaare auf, und seine Hände ballten sich in den Hosentaschen zur Faust.

Seit er sich erinnern konnte, hatte Simon seinen Vater gehasst. Harry Pinnacle hatte die Familie verlassen, als Simon drei war, und seine Frau den Sohn alleine großziehen lassen. Simons Mutter hatte sich nie genauer über die Gründe des Scheiterns ihrer Ehe geäußert, aber Simon wusste, es musste an seinem Vater gelegen haben. An seinem herrischen, arroganten, unausstehlichen Vater. Seinem getriebenen, kreativen, unglaublich erfolgreichen Vater. Der Erfolg war es, den Simon am meisten hasste.

Die Story war wohlbekannt. In dem Jahr, als Simon sieben geworden war, hatte Harry Pinnacle eine kleine Saftbar namens Fruit’n Smooth eröffnet. An Chromtresen konnte man dort gesunde Säfte kaufen, und die Bar war auf Anhieb ein Hit. Im Jahr darauf eröffnete er eine weitere, und eines darauf noch eine. Ein Jahr später lief das Ganze bereits auf Franchise-Basis. Mitte der achtziger Jahre gab es in jeder Stadt ein Fruit’n Smooth, und Harry Pinnacle war Multimillionär.

Während sein Vater seinen Reichtum ebenso mehrte wie seinen Umfang und den Sprung von den Innenseiten der Fachzeitschriften auf die Titelseiten schaffte, hatte der junge Simon seinen Erfolg mit Wut beobachtet. Allmonatlich trafen Schecks ein, und seine Mutter war stets ganz erstaunt über Harrys Großzügigkeit. Aber nie erschien Harry persönlich; und dafür hasste Simon ihn. Und dann, als Simon neunzehn wurde, starb seine Mutter, und Harry Pinnacle trat erneut in sein Leben.

Simon runzelte die Stirn und spürte, wie sich seine Fingernägel in seine Handflächen gruben, wenn er sich an den Augenblick vor zehn Jahren erinnerte, als er seinen Vater zum ersten Mal gesehen hatte. Er war vor dem Krankenhauszimmer seiner Mutter müde auf und ab gegangen, außer sich vor Verzweiflung und Wut. Plötzlich hörte er jemanden seinen Namen rufen, und er sah ein Gesicht, das ihm von tausenden Zeitschriftenfotos vertraut war. Vertraut – und doch fremd. Während er seinen Vater in stummer Erschütterung anstarrte, wurde ihm zum ersten Mal klar, dass er im Gesicht des älteren Mannes die eigenen Züge wiedererkannte. Und unwillkürlich spürte er, wie sich emotionale Tentakel ausstreckten, instinktive Fühler wie die eines Babys. Es wäre so einfach gewesen, seinem Vater um den Hals zu fallen, die Last zu teilen, auf seine Annäherungsversuche einzugehen und sich mit ihm anzufreunden. Doch diesem Impuls hatte er mit aller Macht widerstanden. Harry Pinnacle verdiente seine Liebe nicht; und er würde sie nie bekommen.

Nach der Beerdigung hatte Harry Simon zu sich geholt. Er hatte sein eigenes Zimmer bekommen, sein eigenes Auto; Harry machte teure Urlaube mit ihm. Simon akzeptierte alles höflich. Doch wenn Harry hoffte, er könne die Zuneigung seines Sohnes durch teure Geschenke erkaufen, dann hatte er sich geirrt. Zwar legte sich Simons pubertäre Wut bald, aber dafür reifte der Wunsch in ihm, seinem Vater in jeder Hinsicht den Rang abzulaufen. Er würde ein erfolgreiches Geschäft leiten und Geld machen – aber anders als sein Vater würde er auch glücklich verheiratet sein, Kinder großziehen, die ihn liebten, und die Galionsfigur einer zufriedenen, stabilen Familie sein. Er würde das Leben führen, das sein Vater nie hatte – und sein Vater würde ihn beneiden und ihn dafür hassen.

Also hatte er seinen eigenen kleinen Verlag gegründet. Er fing mit drei Infobroschüren für Spezialisten an, einem akzeptablen Profit und hohen Erwartungen. Doch die hatten sich nie erfüllt. Nach drei mühsamen Jahren warf der Verlag keinen Profit mehr ab. Am Ende des vierten liquidierte er.

Noch immer erfüllte ihn tiefe Demütigung, wenn er sich an den Tag erinnerte, an dem er seinem Vater gestehen musste, dass er Pleite gemacht hatte, an den Tag, an dem er das väterliche Angebot hatte annehmen müssen, seine Wohnung zu verkaufen und nach Pinnacle zurückzuziehen. Sein Vater hatte ihm ein großes Glas Whisky eingeschenkt, Klischees über das Auf und Ab des Lebens von sich gegeben, ihm einen Job bei Pinnacle Enterprises angeboten. Simon hatte das unverzüglich mit ein paar gemurmelten Worten abgelehnt. Er konnte seinem Vater kaum in die Augen schauen, konnte überhaupt kaum jemandem in die Augen sehen. An diesem Tiefpunkt verachtete er sich selbst fast so sehr wie seinen Vater. Seine Enttäuschung über sich war grenzenlos.

Schließlich fand er einen Job als Werbevertreter bei einer kleinen, wenig profilierten Fachzeitschrift. Er war zusammengezuckt, als Harry ihm gratulierte, zusammengezuckt, als er beobachtete, wie sein Vater durch die reizlose kleine Veröffentlichung blätterte und nach Worten des Lobes suchte. »Es ist kein großartiger Job«, hatte Simon eingeräumt. »Aber zumindest habe ich Arbeit.« Zumindest hatte er Arbeit, zumindest hatte er zu tun, zumindest konnte er anfangen, seine Schulden abzuzahlen.

Drei Monate darauf hatte er Milly kennen gelernt. Ein Jahr später hatte er um ihre Hand angehalten. Erneut hatte ihm sein Vater gratuliert, hatte ihm angeboten, ihm beim Verlobungsring unter die Arme zu greifen. Doch Simon lehnte ab. »Ich mach das auf meine Art«, hatte er gesagt und seinen Vater mit einem neuen Selbstvertrauen fast provokativ angesehen. Wenn er seinen Vater schon nicht beruflich schlagen konnte, dann eben in puncto Familienleben. Er und Milly würden eine vollkommene Ehe führen. Sie würden einander lieben, einander unterstützen, einander verstehen. Sorgen würden besprochen und Entscheidungen gemeinsam gefällt werden, aus ihrer Zuneigung würden sie keinen Hehl machen. Kinder würden das Glück steigern. Nichts durfte schiefgehen. Simon war einmal gescheitert; ein zweites Mal durfte das nicht geschehen.

Plötzlich riss ihn erneutes Gelächter aus dem Zimmer seines Vaters aus seinen Gedanken, eine gemurmelte Unterhaltung folgte und dann ein Bimmeln, das Signal, dass sein Vater den altmodischen Hörer seines Privattelefons aufgelegt hatte. Simon wartete noch eine Weile, holte tief Luft, ging auf die Tür zu und klopfte.

Als Harry Pinnacle das Klopfen an der Tür hörte, fuhr er zusammen, was gar nicht seine Art war. Rasch verstaute er die kleine Fotografie, die er in der Hand gehalten hatte, in der Schreibtischschublade vor sich und schob sie zu. Sicherheitshalber sperrte er sie dann auch noch ab. Ein paar Augenblicke saß er gedankenverloren da und starrte den Schubladenschlüssel an.

Es klopfte noch einmal, und er sah auf. Er drehte sich mit seinem Stuhl vom Schreibtisch fort und fuhr sich durch das ergrauende Haar.

»Ja?« Er beobachtete, wie die Tür aufging.

Simon kam herein, machte ein paar Schritte auf seinen Vater zu und sah ihn wütend an. Es war immer das Gleiche. Er klopfte an die Tür seines Vaters, und dieser ließ ihn warten wie einen Bediensteten. Nicht ein Mal hatte Harry ihn gebeten, das Klopfen sein zu lassen. Kein einziges Mal hatte er bei seinem Anblick erfreut gewirkt. Immer wirkte er ungeduldig, so, als würde Simon ihn bei einer entscheidenden geschäftlichen Transaktion stören. Aber das ist völliger Blödsinn, dachte Simon. Das stimmt überhaupt nicht. Du bist lediglich ein arroganter Scheißkerl.

Sein Herz schlug schnell; er steuerte auf Konfrontationskurs. Aber er brachte es nicht über sich, einen der hämischen Gedanken zu äußern, die ihm durch den Kopf gingen.

»Hi«, sagte er mit angespannter Stimme. Er umklammerte die Lehne eines Lederstuhls und starrte seinen Vater zornig an, in der vagen Hoffnung, auf diese Weise eine Reaktion provozieren zu können. Aber sein Vater starrte einfach nur zurück. Nach einer Weile legte er seufzend seinen Füller ab.

»Hallo«, sagte er. »Einen angenehmen Tag gehabt?« Simon zuckte mit den Achseln und sah fort. »Lust auf einen Whisky?«

»Nein, danke.«

»Tja, ich schon.«

Als Harry aufstand, um sich einen Drink einzuschenken, erhaschte er einen Blick vom unkontrollierten Gesicht seines Sohnes: angespannt, unglücklich, wütend. Der Junge war voller Zorn; ein Zorn, der in ihm steckte, seit Harry ihn zum ersten Mal im Krankenhaus vor dem Zimmer seiner Mutter gesehen hatte. An jenem Tag hatte er seinem Vater vor die Füße gespuckt und war davonstolziert, ehe Harry noch etwas sagen konnte. Ein entsetzliches Schuldgefühl hatte von ihm Besitz ergriffen, das ihm jedes Mal einen Stich versetzte, wenn der Junge ihn mit den verdammten Augen seiner Mutter ansah.

»Angenehmen Tag gehabt?«, fragte er und hob das Whiskyglas an seine Lippen.

»Das hast du mich schon gefragt.«

»Stimmt.« Harry trank einen Schluck der feurigen Flüssigkeit und fühlte sich ein wenig besser. Er trank noch einen.

»Ich bin gekommen«, sagte Simon, »um dich an das Dinner heute Abend zu erinnern. Die Havills kommen.«

»Weiß schon«, sagte Harry. Er stellte das Glas ab und sah auf. »Nicht mehr lange hin bis zum großen Tag. Bist du nervös?«

»Nein, keine Spur«, sagte Simon sofort.

Harry zuckte die Achseln.

»Es ist eine große Verpflichtung.«

Simon starrte seinen Vater an. Ihm lag eine Entgegnung auf der Zunge, aufgestaute Worte, die er seit Jahren wie eine ständige Last mit sich herumgeschleppt hatte.

»Tja«, brach es aus ihm hervor, »von Verpflichtungen hast du ja wenig Ahnung, oder?«

Ein zorniger Ausdruck huschte über das Gesicht seines Vaters, und Simon stockte der Atem. Er wartete darauf, dass er ihn anschrie, zu einer noch zornigeren Erwiderung ansetzte. Aber so plötzlich, wie er erschienen war, verschwand er wieder, und Harry ging zu den riesigen Schiebefenstern hinüber. Die Frustration in Simon wurde übermächtig.

»Was ist an einer Verpflichtung verkehrt?«, brüllte er. »Was ist daran verkehrt, jemanden sein ganzes Leben lang zu lieben?«

»Nichts«, erwiderte Harry, ohne sich umzudrehen.

»Warum hast du dann …«, begann Simon und verstummte. Eine lange Stille trat ein, unterbrochen nur vom Knistern des Feuers. Simon starrte den Rücken seines Vaters an. Sag etwas, dachte er verzweifelt. Sag etwas, du Arschloch.

»Wir sehen uns um acht«, meinte Harry.

»Gut.« Simon klang zutiefst verletzt. »Bis dann.«

Und er verließ schnurstracks den Raum.

Harry starrte auf das Glas in seiner Hand und verfluchte sich. Er hatte nicht die Absicht gehabt, den Jungen zu reizen. Oder vielleicht doch. Er konnte seinen eigenen Motiven nicht länger trauen, war nicht länger Herr über seine Empfindungen. Mitgefühl verwandelte sich so rasch in Irritation, Schuldgefühle in Zorn. Gute Absichten gegenüber seinem Sohn verschwanden, sobald er den Mund aufmachte. Ein Teil von ihm konnte es gar nicht erwarten, dass Simon endlich heiratete, sein Haus verließ und eine eigene Familie gründete, die ihm endlich Frieden gab. Und ein Teil von ihm fürchtete es, er wollte nicht einmal daran denken.

Stirnrunzelnd goss Harry sich noch einen Whisky ein und begab sich zurück an seinen Schreibtisch. Er griff nach dem Telefon, wählte eine Nummer, lauschte ungeduldig dem Klingelton und knallte den Hörer dann mit finsterem Blick wieder auf die Gabel.

Milly saß mit klopfendem Herzen am Küchentisch und wünschte sich, sie könnte das Weite suchen. Es war der Junge aus Oxford. Der Junge, der gesehen hatte, wie sie Allan geheiratet hatte; der ihren Hochzeitsschleier aufgehoben und ihn ihr wiedergegeben hatte. Er war nur älter. Seine Gesichtszüge waren kantiger, und er hatte Stoppeln auf dem Kinn. Aber seine Nickelbrille trug er immer noch, genauso den arroganten, fast verächtlichen Gesichtsausdruck. Gerade lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und sah sie neugierig an. Erinnere dich bloß nicht, dachte Milly, die seinen Blick nicht zu erwidern wagte. Erinnere dich um Himmels willen nicht daran, wer ich bin.

»So!« Olivia kam an den Tisch. »Ich habe die Blumen für dich arrangiert, Schatz. Du kannst sie doch nicht einfach fortlegen und vergessen!«

»Ich weiß«, murmelte Milly. »Danke.«

»Ja, und Sie, Alexander, noch etwas Tee?«

»Jepp«, sagte der junge Mann und hielt ihr seine Tasse hin. »Vielen Dank.« Olivia goss den Tee ein, dann setzte sie sich und lächelte in die Runde.

»Ach, ist es nicht schön«, meinte sie. »So allmählich habe ich das Gefühl, als ob die Hochzeit wirklich stattfindet!« Sie trank einen Schluck Tee und sah dann auf. »Milly, hast du Alexander deinen Verlobungsring gezeigt?«

Langsam zeigte Milly Alexander ihre linke Hand, und alles in ihr verkrampfte sich. Seine Augen glitten unergründlich über den alten Diamantring, dann hob er den Blick zu ihr.

»Sehr nett«, sagte er und trank einen Schluck Tee. »Sie sind mit Harry Pinnacles Sohn verlobt. Dem Erben von Fruit’n Smooth, stimmt’s?«

»Ja«, sagte Milly widerstrebend.

»Kein schlechter Fang.«

»Er ist ein süßer Junge«, sagte Olivia auf der Stelle, wie sie das immer tat, wenn jemand von Simons finanziellem oder familiärem Hintergrund sprach. »Gehört schon richtig zu uns.«

»Und was tut er?« In Alexanders Stimme schwang leichter Spott mit. »Arbeitet er für seinen Vater?«

»Nein«, sagte Milly unsicher. »Er ist Werbevertreter.«

»Ah so«, meinte Alexander. Es entstand eine Pause. Er trank noch einen Schluck Tee und sah Milly stirnrunzelnd an. »Ich glaube immer noch, Sie von irgendwoher zu kennen.«

»Ach, wirklich?«, sagte Olivia. »Wie lustig!«

»Tja, ich wüsste nicht woher«, sagte Milly in betont lockerem Ton.

»Ja, Schatz«, wandte Olivia ein. »Aber mit Gesichtern hast du’s auch nicht so, nicht?« Sie wandte sich an Alexander. »Mir geht’s genauso wie Ihnen. Ein Gesicht vergesse ich nie.«

»Gesichter sind mein Job«, sagte Alexander. »Ich verbringe mein Leben damit, sie mir anzuschauen.« Sein Blick glitt über Millys Gesicht, und sie zuckte zusammen.

»Tragen Sie Ihre Haare immer schon so?«, fragte er unvermittelt. Milly wurde starr vor Schreck.

»Nicht immer«, erwiderte sie und umklammerte ihre Tasse fest. »Ich … ich hatte sie mal rot gefärbt.«

»Kein Erfolg«, erklärte Olivia mit Nachdruck. »Ich habe ihr gesagt, sie solle zu meinem Friseur gehen, aber sie wollte ja nicht hören. Und dann natürlich …«

»Das meinte ich nicht«, schnitt Alexander Olivia das Wort ab. Wieder musterte er Milly stirnrunzelnd. »Sie waren nicht mal in Cambridge, oder?«

»Nein«, sagte Milly.

»Isobel aber!«, meinte Olivia triumphierend. »Vielleicht denken Sie an sie!«

»Wer ist Isobel?«

»Meine Schwester.« Milly schöpfte Hoffnung. »Sie … sie sieht genau wie ich aus.«

»Sie hat neuere Sprachen studiert«, erklärte Olivia. »Und nun hat sie unheimlichen Erfolg. Fliegt um die ganze Welt und dolmetscht bei Konferenzen. Wissen Sie, sie ist schon sämtlichen Weltgrößen begegnet. Oder zumindest …«

»Wie sieht sie aus?«, wollte Alexander wissen.

»Dort ist ein Foto von ihr.« Olivia deutete auf eine Fotografie auf dem Kaminsims. »Sie sollten sie wirklich noch vor der Hochzeit kennen lernen«, fügte sie beiläufig hinzu und beobachtete, wie Alexander das Foto musterte. »Ich bin mir sicher, Sie hätten viel gemein!«

»Sie war’s nicht«, sagte Alexander und wandte sich wieder Milly zu. »Sie sieht ganz anders aus als Sie.«

»Sie ist größer als Milly«, sagte Olivia und fügte dann nachdenklich hinzu: »Sie sind recht groß, nicht wahr, Alexander?«

Er zuckte mit den Achseln und erhob sich.

»Ich muss los. Bin in der Stadt mit einem Freund verabredet.«

»Mit einem Freund?«, sagte Olivia. »Wie nett. Jemand Besonderes?«

»Ein alter Schulkamerad.« Alexander betrachtete Olivia, als hätte sie nicht alle Tassen im Schrank.

»Na, dann viel Spaß!«, wünschte Olivia.

»Danke.« An der Tür blieb Alexander stehen. »Wir sehen uns morgen, Milly. Ich mache ein paar zwanglose Fotos, und wir können uns ein bisschen darüber unterhalten, was Sie sich so vorstellen.« Er nickte ihr zu und verschwand.

»Tja!«, rief Olivia aus, sobald er fort war. »Was für ein interessanter junger Mann!«

Milly rührte sich nicht. Sie starrte auf den Tisch, umklammerte noch immer ihre Tasse, und ihr Herz schlug wie wild.

»Ist dir nicht wohl, Schatz?« Olivia sah sie neugierig an.

»Doch, alles in Ordnung.« Milly zwang sich, ihre Mutter anzulächeln und einen Schluck Tee zu trinken. Es war okay, sagte sie sich. Nichts war geschehen. Nichts würde geschehen.

»Ich habe vorhin seine Mappe angeschaut«, erzählte Olivia. »Er ist wirklich sehr talentiert. Er hat schon Preise gewonnen und so was!«

»Ach, tatsächlich«, meinte Milly trocken. Sie nahm einen Keks, sah ihn an und legte ihn wieder fort. Eine plötzliche Furcht überfiel sie. Was, wenn es ihm wieder einfiel? Was, wenn er sich erinnerte – und jemandem erzählte, bei welchem Anlass er sie vor zehn Jahren gesehen hatte? Was, wenn alles ans Licht kam? Bei dem Gedanken krampfte sich ihr Magen zusammen; mit einem Mal fühlte sie sich elend vor Panik.

»Er und Isobel sollten einander wirklich kennen lernen«, sagte Olivia gerade. »Sobald sie aus Paris zurück ist.«

»Was?« Milly war kurzzeitig abgelenkt. »Wieso?« Sie sah Olivia mit großen Augen an, die leicht mit den Achseln zuckte. »Mummy, nein! Das ist doch wohl nicht dein Ernst!«

»Nur so ein Gedanke«, verteidigte sich Olivia. »Was hat Isobel denn schon für eine Chance, Männer kennen zu lernen, wenn sie den ganzen Tag in langweiligen Konferenzräumen steckt?«

»Sie will gar keine Männer kennen lernen. Nicht deine Männer!« Milly erschauerte leicht. »Und ihn schon gleich gar nicht!«

»Was hast du gegen ihn?«

»Nichts«, beeilte Milly sich zu sagen. »Er ist bloß …«

Das Bild ihrer Schwester stieg vor Milly hoch – die kluge, vernünftige Isobel. Plötzlich überkam sie eine Woge der Erleichterung. Sie würde mit Isobel sprechen. Isobel wusste immer, was zu tun war. Milly sah auf ihre Uhr.

»Wie viel Uhr ist es in Paris?«

»Warum? Willst du anrufen?«

»Ja«, meinte Milly. »Ich möchte mit Isobel reden.«Verzweiflung ergriff sie. »Ich muss mit Isobel reden.«

Als Isobel Havill um zwanzig Uhr wieder in ihr Hotelzimmer kam, blinkte die Anzeige des Anrufbeantworters wild. Sie zog die Stirn kraus, rieb mit einer müden Geste darüber und öffnete die Minibar. Der Tag war noch anstrengender gewesen als sonst. Die klimatisierte Luft im Konferenzraum hatte ihre Haut völlig ausgetrocknet. Im Mund hatte sie den Geschmack von Kaffee und Zigaretten. Den ganzen Tag über hatte sie zugehört, gedolmetscht und in dem leisen, gemessenen Ton, der sie so begehrt machte, ins Mikrofon gesprochen. Nun hatte sie Halsschmerzen und das Gefühl, keinen Ton mehr herausbringen zu können.

Mit einem Glas Wodka in der Hand ging sie gemächlich in das weiße Badezimmer aus Marmor, schaltete das Licht an und sah eine Weile stumm in ihre rot umränderten Augen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn dann wieder. Sie fühlte sich nicht mehr imstande, einen logischen Gedanken hervorzubringen. Zu viele Stunden hatte ihr Gehirn ausschließlich als hoch intellektuelles Informationsmedium gearbeitet. Sie war noch immer darauf eingestellt, Worte hin- und herzuleiten, den Fluss nicht durch eigene Gedanken zu unterbrechen, die Übersetzung nicht durch eigene Ansichten zu verfälschen. Den ganzen Tag hatte sie mustergültig gehandelt, nie nachgelassen, war immer sachlich geblieben. Und nun fühlte sie sich wie eine ausgetrocknete, tote Hülse.

Sie leerte ihr Wodkaglas und stellte es auf das gläserne Badezimmerbord. Das klirrende Geräusch ließ sie zusammenzucken. Ihr Spiegelbild starrte sie mit ängstlicher Miene an. Den ganzen Tag über hatte sie es geschafft, diesen Augenblick aus ihren Gedanken zu verdrängen. Aber nun war sie allein, die Arbeit getan, und es gab keine Ausrede mehr. Mit zitternder Hand griff sie in ihre Tasche, holte eine knisternde Apothekentüte heraus und zog eine kleine, längliche Schachtel hervor. Darin befand sich ein Informationsblatt mit Anweisungen auf Französisch, Deutsch, Spanisch und Englisch. Ungeduldig überflog sie jede davon und bemerkte dabei, dass der spanische Abschnitt armselig konstruiert war und in einiger Diskrepanz zur deutschen Version stand. Aber alle schienen übereinzustimmen, was die kurze Zeitspanne des Tests anbelangte. Nur eine Minute. Une minute. Un minuto.

Sie führte den Test durch, kaum glaubend, was sie da tat, legte dann den kleinen Papierstreifen am Badewannenrand ab und ging zurück ins Zimmer. Ihre Jacke lag noch immer auf dem riesigen Hotelbett; der Anrufbeantworter blinkte noch immer wild. Sie drückte auf den Wiedergabeknopf der Nachrichten, ging zur Minibar und goss sich einen weiteren Wodka ein. Noch dreißig Sekunden.

»Hi, Isobel. Ich bin’s.« Die leise Stimme eines Mannes erfüllte den Raum, und Isobel fuhr zusammen. »Ruf mich an, wenn du Zeit hast. Bye.«

Isobel sah auf ihre Uhr. Noch fünfzehn Sekunden.

»Isobel, hier Milly. Hör mal, ich muss unbedingt mit dir reden. Kannst du mich bitte, bitte sofort zurückrufen? Es ist wirklich, wirklich wichtig!«

»Ist es das nicht immer?«, sagte Isobel laut.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, holte tief Luft und ging zum Badezimmer. Der kleine blaue Streifen war schon sichtbar, bevor sie die Tür erreicht hatte. Plötzlich wurde ihr übel.

»Nein«, flüsterte sie. »Das kann nicht sein.« Sie wich vor dem Schwangerschaftstest wie vor etwas Giftigem zurück und schloss die Tür. Nach einem tiefen Atemzug griff sie automatisch nach ihrem Wodkaglas. Dann hielt ihre Hand in plötzlicher Erkenntnis inne.

»Isobel?«, meldete sich der Anrufbeantworter gerade fröhlich. »Hier noch mal Milly. Ich bin heute Abend bei Simon, könntest du mich also bitte dort anrufen?«

»Nein!«, brüllte Isobel und spürte, wie ihr die Tränen kamen. »Kann ich nicht, okay?« Sie nahm das Wodkaglas, leerte es in einem Zug und knallte es trotzig auf den Nachttisch. Doch plötzlich traten weitere Tränen in ihre Augen, plötzlich konnte sie ihren Atem nicht mehr kontrollieren. Wie ein verwundetes Tier krabbelte sie ins Bett und vergrub den Kopf im Kissen. Und als das Telefon abermals klingelte, fing sie lautlos zu weinen an.

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