6. Kapitel


Rupert Carr saß am Kamin seines Hauses in Fulham und zitterte vor Angst. Francesca legte mit einem merkwürdigen Blick den Hörer auf, und Rupert wurde es flau im Magen. Was hatte Milly seiner Frau gesagt? Was genau hatte sie ihr gesagt?

»Wer ist Milly?« Francesca nahm ihr Weinglas und nippte daran. »Und warum wolltest du nicht mit ihr sprechen?«

»Nur ein verrücktes M-mädchen, das ich mal gekannt habe«, erwiderte Rupert und verfluchte sich für sein Stottern. Er versuchte, lässig mit den Achseln zu zucken, aber seine Lippen bebten, und ihm wurde heiß. »Keine Ahnung, was sie will. Ich rufe sie morgen vom Büro aus an.« Er zwang sich aufzusehen und dem Blick seiner Frau standzuhalten. »Aber jetzt möchte ich weiter an meiner Lesung feilen.«

»Okay«, erwiderte sie lächelnd. Sie kam und setzte sich zu ihm aufs Sofa – eine schicke Couch von Colefax and Fowler, die sie von einem ihrer reicheren Onkel zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Gegenüber stand das passende Gegenstück, das die beiden selbst erstanden hatten, darauf saßen Charlie und Sue Smith-Halliwell, ihre engsten Freunde. Die vier genossen noch schnell ein Glas Wein, ehe sie sich zum Abendgottesdienst in der St. Catherine’s Church aufmachten, bei der Rupert eine Lesung halten würde. Jetzt mied er ihren Blick und starrte auf seine Bibel. Aber die Worte verschwammen vor seinen Augen; seine Finger klebten schweißnass an den Seiten.

»Entschuldige, Charlie«, sagte Francesca. Sie griff hinter sich und drehte den Gesang Kiri te Kanawas geringfügig hinunter. »Was hast du gesagt?«

»Nichts sonderlich Tiefsinniges«, sagte Charlie und lachte. »Ich finde einfach, dass es an Leuten wie uns ist« – er machte eine Geste, die sie vier umfasste –, »junge Familien zum Kirchgang zu ermutigen.«

»Anstatt ihre Sonntagvormittage beim Homestore zu verbringen«, sagte Francesca und runzelte dann die Stirn. »Meine ich Homestore?«

»Schließlich«, sagte Charlie, »sind Familien das Kernstück der Gesellschaft.«

»Ja, aber Charlie, das ist es ja eben, sie sind es nicht!«, rief Sue sofort, und zwar auf eine Art, die darauf schließen ließ, dass der Streit nicht neu war. »Familien sind passé! Heutzutage gibt es doch nur noch Alleinerziehende und Lesbierinnen …«

»Habt ihr schon von der neuen Schwulenversion des Neuen Testaments gehört?«, warf Francesca ein. »Ich war ganz schön schockiert, das muss ich schon sagen.«

»Da kann einem wirklich übel werden.« Charlie umklammerte sein Weinglas fester. »Diese Typen sind doch Ungeheuer.«

»Ja, aber man kann sie nicht ignorieren«, warf Sue ein. »Oder? Man kann einen ganzen Gesellschaftsteil nicht einfach übergehen. Egal, wie fehlgeleitet sie auch sein mögen. Was meinst du dazu, Rupert?«

Rupert sah auf. Seine Kehle war wie zugeschnürt.

»Tut mir leid«, brachte er heraus. »Ich habe gerade nicht zugehört.«

»Oh, entschuldige. Du möchtest dich konzentrieren, stimmt’s?« Sue grinste ihn an. »Du machst das schon. Und ist es nicht lustig, dass du nie stotterst, wenn du eine Lesung hältst?«

»Ich würde sagen, kaum einer hält so gute Lesungen in der Kirche wie du, Rupe«, lobte Charlie ihn fröhlich. »Muss an deiner Universitätsausbildung liegen. In Sandhurst haben wir nicht viel Spracherziehung erhalten.«

»Das ist keine Entschuldigung!«, bemerkte Sue. »Gott hat uns alle mit Mund und Hirn bedacht, nicht wahr? Welchen Bibeltext liest du denn?«

»Matthäus, 26«, erwiderte Rupert. »Die Verleugnung des Petrus.« Es entstand eine kurze Stille.

»Petrus«, echote Charlie ernst. »Wie mag es wohl gewesen sein, Petrus zu sein?«

»Nicht!«, bat Francesca und erschauerte. »Wenn ich daran denke, wie knapp ich daran war, meinen Glauben völlig zu verlieren …«

»Schon, aber du hast Jesus nie verleugnet, oder?«, warf Sue ein. Sie ergriff Francescas Hand. »Selbst am Tag danach, als ich dich im Krankenhaus besucht habe.«

»Ich war so zornig«, sagte Francesca. »Und beschämt. Es kam mir vor, als hätte ich das Kind irgendwie nicht verdient.«

»Aber das tust du«, sagte Charlie. »Ihr beide verdient es. Und ihr bekommt eins. Denkt dran, Gott steht euch zur Seite.«

Doch Gott stand ihm nicht zur Seite. Das wusste er. Als sie das Haus verließen und sich zur St. Catherine’s Church aufmachten, blieb Rupert nach zehn Minuten auf einem kleinen Platz in Chelsea hinter den anderen zurück. Am liebsten hätte er den Anschluss ganz verloren. Er wollte übersehen werden, vergessen. Aber das war unmöglich. Niemand in der St. Catherine’s Church wurde je vergessen. Jeder, der sich durch ihre Portale wagte, gehörte umgehend zur Familie. Die meisten der zufälligen Besucher wurden mit lächelndem Enthusiasmus begrüßt, es wurde ihnen das Gefühl vermittelt, bedeutend zu sein und geliebt zu werden, sie wurden ermahnt wiederzukommen. Die meisten taten es. Diejenigen, die nicht wieder erschienen, wurden fröhlich angerufen – »Wollte nur wissen, ob es dir gut geht. Weißt du, du liegst uns am Herzen. Wirklich.« Skeptiker wurden fast noch begeisterter begrüßt als Gläubige. Sie wurden ermutigt, aufzustehen und ihre Vorbehalte zu äußern; je überzeugender ihre Argumente, umso breiter das Lächeln ringsum. Die Mitglieder der St. Catherine’s lächelten eine Menge. Sie trugen ihr Glück sichtbar zur Schau; sie wandelten mit einem leuchtenden Heiligenschein der Gewissheit umher.

Eben diese Gewissheit hatte Rupert an der St. Catherine’s Church so angezogen. Während seiner ersten Jahre als Anwalt, in denen er von Selbstzweifeln geplagt worden war, hatte er Tom Innes kennen gelernt, der ebenfalls als Rechtsanwalt am Obergericht arbeitete. Tom war freundlich und kontaktfreudig. Er hatte sich um die St. Catherine’s Church herum ein sicheres gesellschaftliches Leben aufgebaut. Er hatte für alles eine Antwort parat – und wenn nicht, dann wusste er, wo er nachschauen musste. Er war der glücklichste Mensch, den Rupert je kennen gelernt hatte. Und Rupert, der damals überzeugt war, nie mehr glücklich werden zu können, war mit einem fast verzweifelten Eifer in Toms Leben getreten, in das Christentum, in die Ehe. Nun besaß sein Leben ein geregeltes Muster, eine Bedeutung, die er genoss. Seit drei zufriedenen Jahren war er mit Francesca verheiratet, sein Haus war gemütlich, beruflich ging es voran.

Niemand wusste von seinem Vorleben. Von Allan. Er hatte niemandem etwas davon erzählt. Nicht Francesca, nicht Tom, nicht dem Pfarrer. Nein, nicht einmal Gott.

Bei ihrer Ankunft wartete Tom schon an der Tür. Wie Rupert und Charlie trug er seine Arbeitskleidung – einen gut geschnittenen Anzug, ein Hemd von Thomas Pink, eine Seidenkrawatte. Alle Männer der St.-Catherine’s-Gemeinde waren im gleichen Stil gekleidet, bevorzugten die gleichen Haarschnitte, dieselben goldenen Siegelringe. An Wochenenden trugen sie alle Chinos und Hemden von Ralph Lauren oder aber Tweedanzüge für die Jagd.

»Rupert! Schön, dich zu sehen. Alles für die Lesung bereit?«

»Selbstredend!«, erwiderte Rupert.

»Brav.« Tom lächelte Rupert an, und Rupert spürte ein leichtes Kribbeln. Das gleiche Kribbeln, das er schon bei ihrer ersten Begegnung empfunden hatte. »Ich hoffe, du wirst bei der nächsten Bibelstunde der Kollegen auch eine Lesung halten, wenn’s recht ist?«

»Natürlich«, sagte Rupert. »Was soll ich machen?«

»Darüber reden wir später«, sagte Tom. Wieder lächelte er und ging dann weiter – und lächerlicherweise verspürte Rupert einen leichten Stich der Enttäuschung.

Vor ihm begrüßten Francesca und Sue Freundinnen mit herzlichen Umarmungen; Charlie schüttelte einem alten Schulfreund kräftig die Hand. Wohin er auch blickte, von überall strömten gut gekleidete Angehörige der höheren Berufsklassen herbei.

»Ich habe einfach Jesus gefragt«, hörte er eine Stimme hinter sich. »Ich habe Jesus gefragt, und tags darauf bin ich aufgewacht und hatte die Antwort fertig ausformuliert im Kopf. Also bin ich zurück zu meinem Mandanten gegangen und habe …«

»Ich weiß einfach nicht, warum diese Leute sich nicht beherrschen können!«, rief Francesca gerade aus. Ihre Stimme klang scharf, und ihre Augen glänzten leicht. »Die vielen allein erziehenden Mütter, die nicht die Mittel haben, sich allein durchzubringen …«

»Andererseits musst du auch mal an die Verhältnisse denken, aus denen sie stammen«, erwiderte eine blonde Frau in einem Armani-Blazer. Sie lächelte Francesca kühl an. »Sie brauchen unsere Unterstützung und unsere Führung. Nicht unsere Verdammung.«

»Ich weiß«, murmelte Francesca. »Aber leicht fällt mir das nicht.« Unbewusst fuhr sie sich über den flachen Bauch, und Rupert wurde von einer Woge des Mitleids für sie erfasst. Er eilte vor und küsste sie auf den Nacken.

»Keine Sorge«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wir bekommen schon noch ein Kind, wart’s nur ab.«

»Aber was ist, wenn Gott nicht möchte, dass ich eines bekomme?« Francesca wandte sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. »Was dann?«

»Er möchte es.« Er versuchte, selbstsicher zu klingen. »Davon bin ich überzeugt.«

Francesca seufzte und wandte sich wieder ab, und in Rupert stieg leichte Panik auf. Er kannte die Antworten nicht. Wie konnte er? Er war weniger lange wiedergeborener Christ als Francesca, war weniger bibelfest als sie und besaß nicht so einen hohen Universitätsabschluss wie sie. Ja, verdiente sogar weniger als sie. Und dennoch beugte sie sich ständig seinen Wünschen. Bei der Trauungszeremonie hatte sie auf ihrem Versprechen bestanden, ihm zu gehorchen; sie wandte sich in allem Rat suchend an ihn.

Allmählich zerstreute sich die Menschenmenge und nahm auf den Kirchenbänken Platz. Einige knieten, einige blickten erwartungsvoll nach vorn, einige plauderten noch. Viele hielten für die Kollekte schon brandneue Banknoten in der Hand. So viel Geld, wie bei jedem Gottesdienst in der St. Catherine’s Church zusammenkam, nahmen sie in der kleinen Kirche in Cornwall, die Rupert als Junge besucht hatte, im ganzen Jahr nicht ein. Die Gemeindemitglieder hier konnten sich Großzügigkeit leisten, ohne sich in ihrem Lebensstil einschränken zu müssen. Sie fuhren immer noch teure Autos, aßen in den besten Restaurants, gönnten sich kostspielige Urlaubsreisen. Sie waren die Traumkundschaft der Werbebranche schlechthin, dachte Rupert. Wenn die Kirche ihnen Wandflächen für Werbezwecke verkaufen würde, könnte sie damit ein Vermögen machen. Unwillkürlich musste er grinsen. Diese Bemerkung hätte auch von Allan stammen können.

»Rupert!« Toms Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Komm und setz dich mit nach vorn.«

»Hast recht«, erwiderte Rupert. Er setzte sich auf den für ihn vorgesehenen Stuhl und sah auf die Gemeinde ihm gegenüber. Vertraute Gesichter erwiderten seinen Blick, ein paar lächelten freundlich. Rupert versuchte, ihr Lächeln zu erwidern. Aber mit einem Mal fühlte er sich den musternden Blicken von fünfhundert christlichen Augen ausgesetzt. Was sahen sie? Für wen hielten sie ihn? Eine kindliche Panik stieg in ihm auf. Plötzlich ertappte er sich bei dem Gedanken, dass sie alle dachten, er sei wie sie. Aber er war es nicht. Er war anders.

Musik erklang, und alle erhoben sich. Rupert stand ebenfalls auf und schaute gehorsam auf sein gelbes Gesangsblatt. Die Melodie des Kirchenliedes war schwungvoll, der Text frohsinnig und erbaulich. Doch er fühlte sich nicht erbaut, er fühlte sich vergiftet. Er konnte nicht singen, konnte sich nicht von dem einen Gedanken losmachen. Alle denken sie, ich bin wie sie, dachte er immerzu. Aber das bin ich nicht. Ich bin anders.

Er war immer anders gewesen. Als Kind in Cornwall war er der Sohn des Schulleiters, hatte sich von den anderen abgehoben, bevor er überhaupt eine Chance hatte. Während die Väter der anderen Jungen Traktor fuhren und Bier tranken, las sein Vater griechische Lyrik und ließ Ruperts Freunde nachsitzen. Mr. Carr war ein beliebter Schulleiter gewesen – der beliebteste, den die Schule je hatte –, aber das hatte Rupert nichts genützt, der von Natur aus intellektuell und gleichzeitig unsportlich und schüchtern war. Die Jungs hatten ihn verachtet, die Mädchen hatten ihn ignoriert. Allmählich hatte Rupert ein defensives Stottern und eine Vorliebe fürs Alleinsein entwickelt.

Dann, mit ungefähr dreizehn, hatte er sich zu einem hübschen Jungen entwickelt, und damit war alles nur noch schlimmer geworden. Plötzlich stiegen ihm die Mädchen nach und machten ihm kichernd unsittliche Anträge; mit einem Mal starrten die anderen Jungs ihn neidvoll an. Aufgrund seines guten Aussehens ging man davon aus, dass er mit jedem Mädchen schlafen konnte, das er haben wollte, dass er das tatsächlich bereits tat. Fast jeden Samstagabend ging Rupert mit irgendeinem Mädchen ins Kino, saß mit ihr hinten und legte für alle sichtbar den Arm um sie. Am Montag darauf kicherte sie dann hysterisch mit ihren Freundinnen, klimperte mit den Wimpern und ließ Andeutungen fallen. Ruperts Ruf wuchs und wuchs. Zu seinem Erstaunen verriet keines der Mädchen je, dass über einen Gutenachtkuss hinaus nie etwas lief. Mit achtzehn hatte er sämtliche Mädchen der Schule ausgeführt und war noch immer Jungfrau.

Er hatte gehofft, in Oxford würde sich alles ändern. Er würde sich einfügen. Eine andere Art von Mädchen kennen lernen, alles würde gut. Nach einem Sommer am Strand war er gebräunt und fit dort eingetroffen und hatte sofort Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Mädchen hatten sich um ihn geschart, intelligent, charmant. Eben die Art von Mädchen, nach denen er sich immer gesehnt hatte.

Bloß, dass er sie nun, da er sie haben konnte, nicht mehr wollte. Er fühlte sich zu all den Mädchen mit ihrer hohen Stirn, ihrer wippenden Frisur und ihren intellektuellen Neigungen einfach nicht hingezogen. Die Männer waren es, die ihn in Oxford faszinierten. Die Männer. In den Vorlesungen starrte er sie verstohlen an, beobachtete sie auf der Straße, rückte in Pubs näher an sie heran. An geschniegelte Jurastudenten in Westen, französische Studenten in Doc Martens mit Kurzhaarschnitten. Mitglieder der Dramagruppe, die nach der Vorführung in den Pub drängten, Make-up trugen und einander spielerisch auf die Lippen küssten.

Gelegentlich sah einer dieser Männer auf, bemerkte Ruperts Blick und lud ihn ein, sich dazuzugesellen. Ein paarmal wurde er sogar offen angemacht. Aber jedes Mal wich er voller Entsetzen zurück. Er konnte doch nicht schwul sein. Das war unmöglich.

Doch am Ende seines ersten Jahres in Oxford war er noch immer Jungfrau und einsamer denn je. Er hatte sich keiner speziellen Clique angeschlossen, er hatte keine Freundin, keinen Freund. Auf Grund seines Aussehens hielten seine Kommilitonen seine Schüchternheit für Unnahbarkeit. Sie setzten bei ihm ein Selbstvertrauen und eine Arroganz voraus, die er nicht besaß, nahmen an, sein gesellschaftliches Leben fände außerhalb des Colleges statt, ließen ihn in Ruhe. Am Ende des Sommertrimesters verbrachte er die meisten Abende damit, alleine auf seinem Zimmer Whisky zu trinken.

Und dann schickte man ihn für einen Tutorenkurs zu Allan Kepinski, einem amerikanischen Gastdozenten am Keble College. Sie diskutierten Paradise Lost und redeten sich im Laufe des Nachmittags immer heißer. Am Ende der Unterrichtsstunde war Ruperts Gesicht gerötet. Er war völlig gefangen von der Debatte und der geladenen Atmosphäre zwischen ihnen. Allan beugte sich auf seinem Stuhl vor, nahe zu Rupert hin, ihre Gesichter berührten sich fast.

Dann hatte sich Allan wortlos ein wenig weiter vorgebeugt und mit seinen Lippen zart die Ruperts gestreift. Rupert war wie elektrisiert. Er hatte die Augen geschlossen und Allan durch schiere Willenskraft dazu gebracht, ihn wieder zu küssen, ihm noch näher zu kommen. Und langsam, sanft, hatte Allan seine Arme um Rupert gelegt und ihn heruntergezogen, von seinem Sessel auf den Teppich, in ein neues Leben.

Danach hatte Allan Rupert genauestens erklärt, welches Risiko er dabei eingegangen war, den ersten Schritt zu wagen.

»Du hättest mich ins Gefängnis bringen können«, hatte er auf seine trockene Art gesagt und dabei Ruperts zerzaustes Haar gestreichelt. »Oder mich zumindest ins erste Flugzeug nach Hause verfrachten können. Studenten anzumachen gilt nämlich nicht direkt als moralisch.«

»Ich scheiß auf die Moral«, hatte Rupert erwidert und sich zurückplumpsen lassen. Ihm fiel eine Zentnerlast von der Seele, er fühlte sich befreit. »Herrje, ich fühle mich unglaublich, ich habe ja nie gewusst …« Er brach den Satz ab.

»Nein«, hatte Allan amüsiert gesagt. »Das dachte ich mir.«

Dieser Sommer war in Ruperts Gedächtnis eingegraben wie ein einziger großer Rausch. Er hatte sich Allan ganz und gar hingegeben, hatte die ganzen Sommerferien mit ihm verbracht. Er hatte mit ihm gegessen, mit ihm geschlafen, hatte ihn respektiert und geliebt. Niemand sonst schien zu zählen oder überhaupt zu existieren.

Für das Mädchen Milly hatte er sich nicht im Geringsten interessiert. Allan war ziemlich von ihr eingenommen gewesen, hatte ihre Naivität bezaubernd gefunden, sich über ihr unschuldiges Geplapper amüsiert. Aber in Ruperts Augen war sie lediglich ein weiteres oberflächliches, albernes Geschöpf. Eine Zeitverschwendung, eine Rivalin, was Allans Aufmerksamkeit anbelangte.

»Rupert?« Die Frau neben ihm stupste ihn an, und Rupert merkte, dass das Lied zu Ende war. Er setzte sich rasch und versuchte, seine Gedanken zu sammeln.

Aber der Gedanke an Milly hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, er konnte an nichts anderes mehr denken. »Milly aus Oxford« hatte sie sich am Telefon genannt. Wut und Angst überkamen Rupert, als er daran dachte, wie seine Frau ihren Namen ausgesprochen hatte. Was dachte Milly sich eigentlich dabei, ihn nach zehn Jahren anzurufen? Wie war sie an seine Nummer gekommen? War ihr nicht klar, dass sich alles geändert hatte? Dass er nicht schwul war? Dass alles ein schrecklicher Fehler gewesen war?

»Rupert! Du bist mit der Lesung dran!«, zischte die Frau ihm zu, und Rupert kam abrupt zu sich. Er legte seinen Liedertext sorgfältig fort, nahm seine Bibel und stand auf. Langsam schritt er zum Pult, legte seine Bibel darauf und blickte seine Zuhörer an.

»Ich werde aus dem Matthäusevangelium lesen«, verkündete er. »Das Thema lautet Verleugnung. Wie können wir mit uns selbst leben, wenn wir den verleugnen, den wir wahrhaftig lieben?«

Mit zitternden Händen öffnete er die Bibel und holte tief Luft. Ich lese dies für Gott, sagte er sich – wie alle Leser in der St. Catherine’s Church das taten. Ich lese es für Jesus. Das Bild eines ernsten, verratenen Gesichts stieg vor ihm auf, und er verspürte ein vertrautes Schuldgefühl. Aber nicht das Antlitz Jesu sah er vor sich, sondern Allans Gesicht.

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