Als James an diesem Abend heimkam, war das Haus nur schwach beleuchtet und ungewohnt still. Er hängte seinen Mantel auf und schnitt seinem Spiegelbild eine Grimasse, dann öffnete er geräuschlos die Küchentür. Auf dem Tisch herrschte noch immer ein wildes Durcheinander aus Adress- und Telefonbüchern, Namenslisten, Broschüren und Kaffeetassen; Olivia saß mit hängenden Schultern in der trüben Stille.
Einige Augenblicke bemerkte sie ihn nicht. Dann, als hätte er gesprochen, hob sie den Kopf. Sie schaute ihn mit ängstlichen Augen an, sah dann rasch wieder fort und hob die Hände abwehrend vors Gesicht. James, der sich wie ein Schuft vorkam, trat unbeholfen vor.
»Na?« Er stellte seine Aktentasche auf dem Stuhl ab. »Alles erledigt?« Er blickte sich um. »Du musst einen höllischen Tag hinter dir haben!«
»War gar nicht so schlimm«, erwiderte Olivia heiser. »Isobel war eine große Hilfe. Wir beide …« Sie brach ab. »Und dein Tag? Isobel hat mir erzählt, dass du Probleme in der Firma hast. Das … das habe ich gar nicht mitbekommen. Tut mir leid.«
»Wie solltest du auch. Ich hab’s dir ja nicht erzählt.«
»Erzähl’s mir jetzt.«
»Nicht jetzt«, meinte James matt. »Vielleicht später.«
»Ja, später«, sagte Olivia mit unsicherer Stimme. »Natürlich.« James sah sie an und entdeckte zu seiner Bestürzung Angst in ihren Augen. »Komm, ich mach dir eine Tasse Tee«, sagte sie.
»Danke«, erwiderte James. »Olivia …«
»Geht ganz schnell!« Sie erhob sich eilig, blieb dabei mit dem Ärmel an der Tischkante hängen und riss sich los, als wolle sie verzweifelt von ihm wegkommen, zur Spüle, zum Wasserkessel, vertrauten, unbelebten Gegenständen. James setzte sich an den Tisch und griff nach dem roten Buch. Er fing an, darin zu blättern. Seite für Seite voll Listen, Gedanken, Erinnerungshilfen, ja sogar kleiner Skizzen. Der Entwurf, wie ihm aufging, für etwas wirklich Spektakuläres.
»Schwäne«, sagte er, den Blick auf einen angekreuzten Eintrag gerichtet. »Du hattest doch nicht wirklich vor, für das Fest lebendige Schwäne zu mieten?«
»Schwäne aus Eis.« Olivias Gesicht erhellte sich ein wenig. »Sie sollten mit …« Sie brach ab. »Ach, egal.«
»Na, nun sag schon!« Es entstand eine Pause.
»Mit Austern gefüllt sein.«
»Ich mag Austern.«
»Ich weiß.« Mit ungeschickten Händen nahm sie die Teekanne, drehte sich, um sie auf den Tisch zu stellen, und rutschte dabei aus. Die Teekanne zerbrach unter lautem Geklirr auf den Schieferkacheln, und Olivia stieß einen Schrei aus.
»Olivia?« James sprang auf. »Alles in Ordnung?«
Porzellanscherben lagen in einer Teepfütze auf dem Boden; zwischen den Kacheln strömten Teeflüsschen auf ihn zu. Das gelbgeränderte Auge einer Ente starrte vorwurfsvoll zu ihm hoch.
»Sie ist kaputt!«, jammerte Olivia. »Dabei hatten wir diese Teekanne zweiunddreißig Jahre!« Sie ging in die Knie, hob eine Henkelscherbe auf und starrte sie ungläubig an.
»Wir kaufen uns eine neue.«
»Ich möchte keine neue«, erwiderte Olivia mit bebender Stimme. »Ich möchte die alte. Ich möchte …« Unvermittelt brach sie ab und wandte sich zu James um. »Du willst mich verlassen, nicht, James?«
»Was?« James starrte sie schockiert an.
»Du willst mich verlassen«, wiederholte Olivia ruhig. Sie sah auf die Teekannenscherbe und umklammerte sie fester. »Du willst ein neues Leben anfangen. Ein neues, aufregendes Leben.«
Kurze Zeit herrschte Stille, dann begriff James und atmete scharf aus.
»Du hast mich gehört.« Er versuchte, seine Gedanken zu sammeln. »Du hast mich gehört. Mir war nicht klar …«
»Ja, ich habe dich gehört«, erwiderte Olivia, ohne aufzusehen. »Das hast du doch auch gewollt, oder?«
»Olivia, ich wollte nicht …«
»Ich nehme an, du wolltest warten, bis die Hochzeit vorbei ist«, schnitt Olivia ihm das Wort ab, die das Teekannenstück immer wieder herumdrehte. »Vermutlich wolltest du den freudigen Anlass nicht zerstören. Nun, das ist auch so geschehen. Du brauchst also nicht länger zu warten. Du kannst gehen.« James blickte sie an.
»Du möchtest, dass ich gehe?«
»Das habe ich nicht gesagt.« Olivias Stimme wurde eine Spur rauer, den Kopf hielt sie weiterhin gesenkt. Lange Zeit herrschte Stille. Auf dem Boden kam das letzte braune Flüsschen Tee zum Stillstand.
»Das Problem in der Firma«, sagte James plötzlich und ging zum Fenster. »Das Problem, von dem Isobel gesprochen hat. Die Firma wird umstrukturiert. Drei der Abteilungen werden nach Edinburgh verlegt. Man hat mich gefragt, ob ich umziehen wollte. Und ich habe gesagt …« Er drehte sich zu ihr um. »Ich habe gesagt, ich würde darüber nachdenken.« Olivia sah auf.
»Davon hast du mir nichts erzählt.«
»Nein«, sagte James trotzig. »Habe ich nicht. Deine Antwort war mir klar.«
»So? Wie schlau von dir!«
»Du bist hier verwurzelt, Olivia. Hier hast du deine Arbeit und deine Freundinnen. Ich wusste, dass du das alles nicht verlassen willst. Aber ich hatte einfach das Gefühl, ich bräuchte etwas Neues!« Ein schmerzlicher Zug erschien auf James’ Gesicht. »Kannst du das verstehen? Hast du nie mal fliehen und neu anfangen wollen? Ich dachte, eine neue Stadt wäre die Antwort auf mein Unbehagen. Ein neuer Ausblick in der Früh. Eine andere Luft zum Atmen.«
Stille.
»Verstehe«, sagte Olivia schließlich mit brüchiger Stimme. »Na dann, ab mit dir. Ich will dich nicht aufhalten. Ich helf dir beim Packen, soll ich?«
»Olivia …«
»Vergiss nicht, mir eine Ansichtskarte zu schicken.«
»Olivia, komm, sei nicht so!«
»Wie, so? Wie meinst du denn, soll ich sonst reagieren? Immerhin planst du, mich zu verlassen!«
»Nun, was hätte ich denn tun sollen?«, entgegnete James zornig. »Auf der Stelle absagen? Mich für weitere zwanzig Jahre Bath festlegen?«
»Nein!«, schrie Olivia, in deren Augen plötzlich Tränen glitzerten. »Du hättest mich bitten sollen mitzukommen. Ich bin deine Frau, James. Du hättest mich darum bitten sollen!«
»Was hätte das gebracht? Du hättest gesagt …«
»Du weißt doch gar nicht, was ich gesagt hätte!« Olivias Stimme bebte, und sie reckte ihr Kinn. »Du weißt nicht, was ich gesagt hätte, James. Und du hast dir nicht mal die Mühe gemacht, es herauszufinden.«
»Ich …« James hielt inne.
»Du hast dir nicht mal die Mühe gemacht, es herauszufinden«, wiederholte Olivia, und ein Anflug von Verachtung schlich sich in ihre Stimme.
Lange Zeit herrschte Stille.
»Wie wäre deine Antwort ausgefallen?«, wollte James schließlich wissen. »Wenn ich dich gefragt hätte?« Er versuchte, Olivias Blick aufzufangen, aber sie starrte auf die Porzellanscherbe, die sie noch immer in den Händen hielt, und ihrer Miene war nichts abzulesen.
Es klingelte an der Tür. Keiner der beiden rührte sich.
»Was hättest du geantwortet, Olivia?«, fragte James.
»Ich weiß nicht«, sagte Olivia schließlich. Sie legte die Kannenscherbe auf den Tisch und sah ihn an. »Vermutlich hätte ich dich gefragt, ob du mit dem Leben hier wirklich so unzufrieden bist. Ich hätte dich gefragt, ob du wirklich glaubst, eine neue Stadt würde all deine Probleme lösen. Und wenn du das bejaht hättest …« Wieder klingelte es an der Tür, laut und beharrlich, und sie brach ab. »Geh mal lieber hin.« James starrte sie eine kurze Weile an, dann erhob er sich.
Er ging in die Diele, öffnete die Tür und machte dann vor Überraschung einen Schritt zurück. Alexander stand an der Türschwelle – unrasiert, umgeben von Taschen, mit argwöhnischem Blick.
»Hören Sie«, sagte er, als er James sah. »Es tut mir leid. Wirklich. Das müssen Sie mir glauben. Ich wollte das alles nicht auslösen.«
»Das spielt ja jetzt wohl keine Rolle mehr, oder?«, erwiderte James matt. »Der Schaden ist angerichtet. Ich an Ihrer Stelle würde einfach kehrtmachen und gehen.«
»Für mich spielt es eine Rolle. Außerdem …« Er machte eine Pause. »Außerdem habe ich noch immer Sachen hier. In meinem Zimmer. Ihre Tochter hat mich rausgeschmissen, ehe ich sie holen konnte.«
»Verstehe. Na, dann kommen Sie mal besser rein.«
Vorsichtig betrat Alexander das Haus. Er warf einen Blick auf die Hochzeitskuchenschachteln und zog eine Grimasse.
»Ist Milly da?«, erkundigte er sich.
»Nein. Sie ist bei ihrer Patentante.«
»Geht’s ihr einigermaßen?«
»Was glauben Sie denn?« James verschränkte die Arme. Alexander zuckte zusammen.
»Hören Sie, es war doch nicht meine Schuld!«
»Wie meinen Sie das, es war nicht Ihre Schuld!« Olivia erschien mit empörter Miene an der Küchentür. »Milly hat uns erzählt, wie Sie sie aufgezogen haben. Wie Sie ihr gedroht haben. Sie sind nichts weiter als ein mieser kleiner Fiesling!«
»Na, jetzt machen Sie mal halblang! Selbst ist sie ja wohl auch keine Heilige!«
»Alexander, vielleicht haben Sie ja gedacht, Sie würden der Welt einen Dienst erweisen, wenn Sie sie entlarven«, sagte James. »Vielleicht dachten Sie, Sie täten Ihre Pflicht. Aber Sie hätten sich zuerst an uns oder Simon wenden können, ehe Sie den Pfarrer informieren.«
»Herrgott noch mal, ich wollte sie nicht entlarven«, erwiderte Alexander ungeduldig. »Ich wollte sie bloß damit aufziehen.«
»Aufziehen?«
»Sie ein bisschen necken. Sie wissen schon. Und mehr habe ich auch nicht getan. Ich habe dem Pfarrer nichts erzählt! Warum sollte ich das?«
»Wer weiß schon, was in Ihrem schmutzigen kleinen Kopf vorgeht«, schimpfte Olivia.
»Ich weiß gar nicht, warum ich mir eigentlich die Mühe mache«, sagte Alexander. »Sie glauben mir ja eh nicht. Aber ich hab das nicht getan, okay? Warum sollte ich Millys Hochzeit zerstören? Schließlich bezahlen Sie mich dafür, den Scheiß zu fotografieren! Was hätte ich also davon?«
Stille trat ein. James sah zu Olivia.
»Ich weiß ja nicht mal, wie der Pfarrer heißt.« Alexander seufzte. »Hören Sie, ich habe versucht, es Isobel zu erklären, und sie wollte nicht hören, und nun versuche ich, es Ihnen zu erklären, und Sie hören auch nicht zu. Aber es ist wahr. Ich habe keiner Menschenseele von Milly erzählt. Wirklich nicht. Himmel, meinetwegen könnte sie sechs Ehemänner haben!«
»Na gut.« James atmete scharf aus. »Na gut, aber wenn Sie nichts verraten haben, wer dann?«
»Weiß der Himmel. Wer weiß denn noch davon?«
Schweigen.
»Sie hat es Esme erzählt«, meinte James schließlich. Er und Olivia sahen einander an. »Sie hat es Esme erzählt.«
Isobel saß in einer entlegenen Ecke der Auffahrt zur Pinnacle Hall und betrachtete durch ihre Windschutzscheibe Millys Zelt, das hinter der Hausecke gerade eben sichtbar war. Schon seit einer halben Stunde saß sie so da und sammelte still ihre Gedanken, schärfte ihre Konzentration wie für ein Examen. Sie würde Harry sagen, was sie zu sagen hatte, würde so wenig Einwände wie möglich dulden, dann gehen. Sie wäre freundlich, aber bestimmt. Wenn er ihren Vorschlag ablehnte, würde sie … Isobels Gedanken gerieten ins Stocken. Einen solch vernünftigen Plan konnte er nicht ablehnen. Unmöglich.
Sie blickte auf ihre Hände, die von der Schwangerschaft offenbar schon angeschwollen waren. Allein das Wort ließ sie wie einen Teenager erschauern. Schwangerschaft, so hatte man ihnen in der Schule beigebracht, kam einer Atombombe gleich – sie zerstörte alles, was ihr in den Weg kam, und das Leben, das ihre Opfer danach führten, war kaum noch lebenswert. Sie zerstörte Karrieren, Beziehungen, das Glück. Das Risiko war es einfach nicht wert, hatten die Lehrerinnen gepredigt, und die Schülerinnen der Oberstufe hatten gekichert und die Nummern von Abtreibungskliniken weitergereicht. Isobel schloss die Augen. Vielleicht hatten ihre Lehrerinnen recht. Ohne diese Schwangerschaft wäre ihre Beziehung zu Harry vielleicht zu etwas mehr als dem einen oder anderen Stelldichein herangereift. Allmählich war der Wunsch in ihr erwacht, öfter mit ihm zusammen zu sein, Augenblicke der Freude und des Leids mit ihm zu teilen, beim Aufwachen seine Stimme zu hören. Sie hatte ihm sagen wollen, dass sie ihn liebte.
Aber jetzt war da das Baby. Ein neues Element, eine neue Gangart: ein neuer Druck auf sie beide. Das Baby zu behalten hieße, Harrys Wünsche mit Füßen zu treten und das Ende ihrer Beziehung heraufzubeschwören. Und doch würde es sie zerstören, etwas anderes zu tun.
Mit blutendem Herzen griff sie in ihre Handtasche und kämmte sich noch einmal das Haar, dann öffnete sie die Wagentür und stieg aus. Es war überraschend mild und windig, fast frühlingshaft. Ruhig marschierte sie über den Kies zu der großen Eingangstür, ausnahmsweise einmal ohne Angst haben zu müssen, argwöhnisch beobachtet zu werden. Heute hatte sie allen Grund zu kommen.
Sie klingelte an der Tür und lächelte das rothaarige Mädchen an, das aufmachte.
»Ich hätte gern mit Harry Pinnacle gesprochen, bitte. Ich bin Isobel Havill. Die Schwester von Milly Havill.«
»Ich weiß, wer Sie sind«, erwiderte das Mädchen in nicht sehr freundlichem Ton. »Ich nehme an, es geht um die Hochzeit? Oder, besser gesagt, um die Hochzeit, die nun nicht stattfindet?« Sie starrte Isobel mit hervortretenden Augen an, als wäre alles ihre Schuld, und Isobel fragte sich erstmals, was die Leute jetzt wohl von Milly halten mochten.
»Stimmt. Wenn Sie ihm einfach nur sagen könnten, dass ich da bin.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er abkömmlich ist.«
»Vielleicht könnten Sie ihn fragen?«, schlug Isobel höflich vor.
»Warten Sie hier.«
Nach ein paar Minuten kehrte das Mädchen zurück.
»Er kann Sie sehen«, sagte sie, als erwiese sie Isobel eine große Gnade. »Aber nicht lange.«
»Hat er das gesagt?« Ihr Gegenüber schwieg herausfordernd, und Isobel lächelte in sich hinein.
Sie erreichten die Tür zu Harrys Arbeitszimmer, und das Mädchen klopfte an.
»Ja!«, ertönte Harrys Stimme sofort. Sie öffnete die Tür, und Harry sah von seinem Schreibtisch hoch.
»Isobel Havill«, verkündete sie.
»Ja«, sagte Harry, und ihre Blicke trafen sich. »Ich weiß.«
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, legte er seinen Füllfederhalter ab und blickte Isobel schweigend an.
Isobel rührte sich nicht. Leicht zitternd stand sie da, spürte seinen Blick wie Sonnenschein auf der Haut und schloss die Augen, um ihre Gedanken sammeln zu können. Sie hörte, wie er aufstand, hörte, wie er auf sie zukam. Seine Hand ergriff ihre; er drückte die Lippen auf die zarte Haut ihres inneren Handgelenks, ehe sie die Augen öffnen und »Nein« sagen konnte.
Er sah auf, ihre Hand noch immer in seiner, und sie blickte verzweifelt in sein Gesicht, bemüht, ihm alles, was sie zu sagen hatte, mit einem einzigen Blick zu vermitteln. Aber in ihrer Miene spiegelten sich zu viele widerstreitende Wünsche und Gedanken, als dass er sie hätte lesen können. Etwas wie Enttäuschung huschte über sein Gesicht, und er ließ ihre Hand abrupt fallen.
»Etwas zu trinken?«
»Ich habe dir etwas zu sagen.«
»Aha. Möchtest du dich setzen?«
»Nein. Ich möchte es bloß sagen.«
»Okay, dann mal los!«
»Schön«, sagte Isobel. »Na denn!« Sie machte eine Pause und wappnete sich. »Ich bin schwanger«, sagte sie, hielt dann inne, und das unheilvolle Wort schien im Raum widerzuhallen. »Mit deinem Kind«, fügte sie hinzu. Harry zuckte leicht zusammen. »Was?«, meinte Isobel kratzbürstig. »Glaubst du mir nicht?«
»Verdammt, natürlich glaube ich dir«, sagte Harry. »Ich wollte sagen …« Er brach ab. »Ach, egal. Red weiter.«
»Du wirkst gar nicht überrascht?«
»Ist das ein Teil deiner kleinen Rede?«
»Oh, sei still!« Sie holte tief Luft, fixierte eine Ecke des Kaminsimses und versuchte nur mit Willenskraft, ihre Stimme ruhig zu halten. »Ich habe gründlich darüber nachgedacht«, sagte sie. »Ich habe alle Möglichkeiten erwogen und bin zu dem Entschluss gekommen, es zu behalten.« Sie machte eine Pause. »Ich habe ihn in dem Bewusstsein gefasst, dass du dieses Kind nicht möchtest. Sie wird also meinen Namen tragen, und ich werde die Verantwortung für sie übernehmen.«
»Du weißt, dass es ein Mädchen wird?«, unterbrach Harry sie.
»Nein«, erwiderte Isobel zittrig, aus dem Takt gebracht. »Ich … ich neige dazu, bei unbekanntem Geschlecht das weibliche Pronomen zu verwenden.«
»Aha«, meinte Harry. »Fahr fort.«
»Ich übernehme die Verantwortung«, redete Isobel, nun schneller, weiter. »In finanzieller wie auch in sonstiger Hinsicht. Aber ich finde, wenn irgend möglich, braucht jedes Kind einen Vater. Ich weiß, du hast dir das nicht ausgesucht – ich aber auch nicht und das Kind ebenso wenig.« Sie hielt inne und ballte die Hände zur Faust. »Und deshalb möchte ich dich bitten, etwas elterliche Verantwortung und Beteiligung zu übernehmen. Mein Vorschlag wäre ein regelmäßiges Treffen, vielleicht einmal im Monat, sodass das Kind seinen Vater kennt, wenn es aufwächst. Um mehr bitte ich nicht. Aber dieses Minimum verdient jedes Kind. Ich versuche lediglich, Vernunft walten zu lassen.« Sie sah auf und hatte unvermittelt Tränen in den Augen. »Ich versuche doch nur, Vernunft walten zu lassen, Harry!«
»Einmal im Monat.« Harry runzelte die Stirn.
»Ja!«, versetzte Isobel wütend. »Du kannst doch nicht erwarten, dass ein Kind eine Beziehung entwickelt, wenn es seinen Vater nur zweimal jährlich sieht.«
»Wohl kaum.« Harry schritt zum Fenster, und Isobel beobachtete ihn ängstlich. Plötzlich wandte er sich um.
»Wie wär’s mit zweimal im Monat? Würde das reichen?«
Isobel starrte ihn an.
»Ja. Natürlich …«
»Oder zweimal die Woche?«
»Ja. Aber …« Harry kam langsam auf sie zu, seinen warmen Blick auf sie geheftet.
»Wie wär’s mit zweimal täglich?«
»Harry …«
»Wie wär’s mit vormittags, nachmittags und die ganze Nacht hindurch?« Zart ergriff er ihre Hände; sie machte keine Anstalten, sich ihm zu entziehen.
»Ich verstehe nicht«, sagte sie, um Fassung bemüht. »Ich verstehe …«
»Wie wär’s, wenn ich dich liebte? Wie wär’s, wenn ich die ganze Zeit über mit dir zusammen sein wollte? Und unserem Kind ein besserer Vater sein wollte, als ich es Simon je war?«
Isobel sah ihn mit großen Augen an. Eine unkontrollierbare Woge von Gefühlen erfasste sie.
»Aber das geht doch nicht! Du hast gesagt, du willst kein Kind!« Sie stieß die Worte in verletztem, anklagendem Ton hervor, Tränen sprangen ihr auf die Wangen, und sie zog ihre Hände weg. »Du hast gesagt …«
»Wann habe ich das gesagt?«, unterbrach sie Harry. »So was habe ich nie gesagt!«
»Na ja, vielleicht nicht direkt«, meinte Isobel nach einer Pause. »Aber du hast eine Grimasse gezogen.«
»Was habe ich?«
»Vor ein paar Monaten. Ich habe dir erzählt, dass eine Freundin von mir schwanger ist, und du hast eine … eine Grimasse gezogen.« Isobel schluckte. »Und ich habe gesagt, oh, du magst wohl keine Kinder? Und da hast du das Thema gewechselt.« Harry sah sie ungläubig an.
»Das ist alles?«
»Ja, reicht das nicht? Für mich war damit auf jeden Fall alles klar.«
»Und deswegen hättest du beinahe dein Kind abgetrieben?«
»Ich wusste nicht, was ich tun soll«, verteidigte sich Isobel. »Ich dachte …«
Harry schüttelte den Kopf.
»Du denkst zu viel. Das ist dein Problem.«
»Das stimmt doch gar nicht!«
»Du glaubst, ich mag keine Babys. Hast du mich je mit welchen gesehen?«
»Nein«, schluckte Isobel.
»Na, siehst du!«
Er umarmte sie fest, und sie schloss die Augen. Nach einer Weile spürte sie, wie die Anspannung in ihr nachließ. In ihrem Kopf schwirrten Tausende von Fragen herum, aber für den Augenblick war das egal.
»Ich mag Babys«, sagte Harry ruhig. »Solange sie nicht schreien.«
»Alle Babys schreien!«, protestierte sie. »Du kannst nicht erwarten …« Als sie sein Gesicht sah, verstummte sie. »Oh, du nimmst mich auf den Arm.«
»Natürlich.« Harry hob eine Augenbraue. »Triffst du beim Dolmetschen auch immer so den Kern der Aussagen deiner Diplomaten? Kein Wunder, dass überall Krieg herrscht – Isobel Havill hat die Verhandlungen geleitet. Sie hat gedacht, sie wollten keinen Frieden, weil sie eine scheußliche Grimasse gezogen haben.«
Isobel fing halb zu kichern, halb zu schluchzen an und schmiegte sich an seine Brust.
»Du willst dieses Kind wirklich haben? Im Ernst?«
»Im Ernst.« Harry streichelte ihr übers Haar. »Und selbst wenn ich es nicht wollte«, fügte er mit unbewegter Stimme hinzu, »solltest du es trotzdem bekommen. Wer weiß, vielleicht ist das deine einzige Chance.«
»Na, herzlichen Dank.«
»Keine Ursache.«
Eine Weile standen sie schweigend da, dann entzog Isobel sich ihm widerstrebend.
»Ich muss gehen.«
»Wieso?«
»Vielleicht brauchen sie mich zu Hause.«
»Die brauchen dich nicht«, entgegnete Harry. »Ich brauche dich. Bleib heute Nacht hier.«
»Wirklich?« Isobel spannte sich an. »Aber was, wenn jemand mich sieht?« Harry lachte.
»Isobel, hast du es immer noch nicht begriffen? Ich möchte, dass dich jeder sieht! Ich möchte …« Er brach ab und sah sie mit veränderter Miene an. »Versuchen wir’s mal damit. Was würdest du davon halten … dem Baby meinen Namen zu geben?«
»Du meinst doch nicht …« Isobel blickte zu ihm auf, und ein Schauer überlief sie.
»Weiß nicht«, sagte Harry. »Hängt davon ab. Hast du schon einen Mann, von dem ich wissen sollte?«
»Schuft!« Isobel trat ihm gegen das Schienbein.
»Ist das ein Ja?«, fragte Harry und lachte. »Oder ein Nein?«
»Schuft!«
James und Alexander saßen bei einem Brandy am Küchentisch und warteten, dass Olivia vom Telefon zurückkam.
»Die hier habe ich übrigens entwickeln lassen«, sagte Alexander unvermittelt und zog einen braunen Umschlag aus seiner Tasche hervor.
»Was ist drauf?«, erkundigte sich James.
»Schauen Sie sich’s an.«
James stellte sein Glas ab, öffnete den Umschlag und nahm ein Bündel schwarzweißer Fotografien heraus. Schweigend starrte er die oberste an, dann blätterte er langsam die anderen durch. Immer wieder blickte ihm Milly entgegen, die Augen weit geöffnet und leuchtend, die Kurven ihres Gesichtes in weiche Schatten getaucht. Der Verlobungsring schimmerte diskret am Bildrand.
»Die sind unglaublich«, sagte er schließlich. »Absolut außergewöhnlich.«
»Danke«, erwiderte Alexander leichthin. »Ich bin zufrieden damit.«
»Schön sieht sie aus«, sagte James. »Sie sieht immer schön aus. Aber es ist nicht nur das.« Wieder starrte er das oberste Bild an. »Sie haben eine Tiefe in Milly eingefangen, die ich noch nie gesehen habe. Plötzlich sieht sie … faszinierend aus.«
»Sie sieht wie eine Frau mit einem Geheimnis aus.« Alexander trank einen Schluck Brandy. »Und genau das war sie ja auch.«
James sah zu ihm auf.
»Ist das der Grund, warum Sie sie geneckt haben? Um diese Bilder zu bekommen?«
»Zum Teil. Und zum Teil auch …«, er zuckte mit den Achseln, »… ich greife manchmal zu einem Trick, und so etwas verschafft mir einen Kick.«
»Egal, was für Folgen das hat?«
»Ich wusste ja nicht, dass es Folgen haben würde«, erwiderte Alexander. »Ich hätte nie gedacht, dass sie in Panik geraten würde, wirklich. Sie schien so …« Er überlegte. »… schien sich ihrer selbst so sicher.«
»Sie mag stark wirken«, sagte James. »Aber eigentlich ist sie sehr dünnhäutig.« Er machte eine Pause. »Genau wie ihre Mutter.«
Beide sahen auf, als Olivia in der Küche erschien.
»Na«, meinte James grimmig. »Hast du mit Lytton gesprochen? War’s Esme, die es ihm erzählt hat?«
»Dieser dumme junge Vikar wollte es mir nicht sagen!«, antwortete Olivia mit einem Funken ihrer alten Leidenschaft. »Ist das zu fassen? Er meinte, das wäre Vertrauensbruch, und Lytton selbst war zu beschäftigt, um ans Telefon zu kommen. Zu beschäftigt!«
»Womit denn?«
Olivia atmete scharf aus, und ein merkwürdiger Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.
»Probt gerade eine Trauung. Mit dem anderen Paar, das morgen heiratet.« Es entstand eine gedämpfte kleine Pause. »Schätze, viel können wir da nicht machen«, setzte sie hinzu und goss sich einen Brandy ein.
»Doch«, entgegnete James. »Wir können hingehen und uns eine Antwort holen.«
»Was, und die Trauungsprobe unterbrechen?« Olivia starrte ihn an. »James, ist das dein Ernst?«
»Ja. Wenn meine Kusine Millys Vertrauen missbraucht und vorsätzlich ihre Hochzeit kaputtgemacht hat, dann möchte ich das wissen.« Er stellte sein Glas ab. »Komm, Olivia! Wo bleibt dein Kampfgeist?«
»Ist das dein Ernst?«, wiederholte sie.
»Ja. Und außerdem …«, er warf Alexander einen Blick zu, »könnte es ganz amüsant werden.«
Simon saß am Fenster seines Zimmers und versuchte zu lesen, als die Hausglocke ertönte. Nervös stand er auf und legte sein Buch fort. Das war Milly. Es musste Milly sein.
Von Esme war er in erwartungsvoller Freude zurück nach Pinnacle Hall gekommen. Nach dem Schock und der Wut des Vorabends war es ihm, als sei sein Leben wieder auf Kurs. Er hatte den ersten Schritt zu einer Versöhnung mit Milly gemacht; sobald sie reagierte, würde er seine Entschuldigung wiederholen und versuchen, die Wunden zwischen ihnen, so gut es ging, verheilen zu lassen. Geduldig würden sie warten, bis Millys Scheidung ausgesprochen war, eine weitere Hochzeitsfeier anberaumen, das Leben von neuem beginnen.
Und hier war sie nun. Er stieg die breite Treppe hinunter und durchquerte mit einem törichten Lächeln flott die Halle. Aber ehe er sie halb durchquert hatte, öffnete sich die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters, und Harry erschien. Er lachte und gestikulierte zu irgendjemandem im Raum, ein Whiskyglas in der Hand.
»Oh, hallo«, sagte er. »Erwartest du jemanden?«
»Weiß nicht«, erwiderte Simon verlegen. »Milly vielleicht.«
»Ah. Dann verschwinde ich besser.«
Simon grinste seinen Vater an und ließ seinen Blick gedankenlos durch die offene Tür ins Arbeitszimmer schweifen. Zu seinem Erstaunen erhaschte er einen Blick auf ein weibliches Bein am Kamin. Neugierig sah er seinen Vater an. Harry schien kurz zu überlegen, dann schwang er die Arbeitszimmertür weit auf.
Am Kamin saß Isobel Havill. Sie riss den Kopf ruckartig hoch, ein schockierter Ausdruck trat auf ihr Gesicht, und Simon starrte sie überrascht an.
»Simon, du kennst Isobel doch?«, fragte Harry fröhlich.
»Ja, natürlich. Hi, Isobel. Was machst du denn hier?«
»Ich bin hier, um über die Hochzeit zu reden«, sagte sie nach einer Pause.
»Na, das stimmt doch gar nicht«, sagte Harry. »Lüg den Jungen nicht an.«
»Oh«, erwiderte Simon verwirrt. »Nun, das macht doch …«
»Simon, wir müssen dir etwas sagen«, meinte Harry. »Wenngleich das vielleicht nicht gerade der günstigste Zeitpunkt ist …«
»Allerdings«, unterbrach ihn Isobel in entschiedenem Ton. »Wieso geht denn keiner von euch an die Tür?«
»Was habt ihr mir zu sagen?« Simons Herz begann zu hämmern. »Geht’s um Milly?«
Isobel seufzte. »Nein.«
»Nicht direkt«, sagte Harry.
»Harry!« Isobels Stimme klang leicht gereizt. »Simon möchte das jetzt gar nicht hören!«
»Was hören?«, wollte Simon wissen, während die Hausglocke erneut ertönte. Er blickte von einem zum anderen. Isobel sah seinen Vater beschwörend an; Harry grinste augenzwinkernd zurück. Simon starrte die beiden an, die in einer wortlosen, intimen Sprache miteinander kommunizierten, und plötzlich ging ihm ein Licht auf.
»Jetzt geht endlich an die Tür. Egal, wer!«, sagte Isobel.
»Ich gehe schon«, meinte Simon mit erstickter Stimme. Isobel warf seinem Vater einen wütenden Blick zu.
»Simon, alles okay?«, fragte Harry bedauernd. »Hör mal, ich wollte nicht …«
»Schon okay.« Simon sah nicht zurück. »Schon okay.«
Er ging an die Haustür und riss sie mit bebender Hand ungeschickt auf. Ein Fremder stand davor. Ein hoch gewachsener, gut gebauter Mann mit blondem Haar, das unter der Lampe wie ein Heiligenschein leuchtete, und blutunterlaufenen blauen Augen voll Kummer.
Simon sah den Fremden enttäuscht an, von den Ereignissen zu verblüfft, um zu sprechen. Er musste erst noch verdauen, was er gerade erfahren hatte. Wie oft hatte er seinen Vater und Isobel zusammen gesehen? Fast nie. Aber vielleicht hätte allein das schon ein Hinweis sein müssen. Wenn er besser aufgepasst hätte, wäre ihm dann etwas aufgefallen? Wie lange hatten sie überhaupt schon eine Affäre miteinander? Und wo zum Teufel war Milly?
»Ich bin auf der Suche nach Simon Pinnacle«, sagte der Fremde schließlich. In seiner Stimme schwang ein merkwürdiger Trotz mit. »Sind Sie das zufällig?«
»Ja.« Simon riss sich mit aller Gewalt zusammen. »Das bin ich. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Sie werden mich nicht kennen.«
»Aber ich, glaube ich«, sagte Isobel, die hinter Simon erschien. »Ich glaube, ich weiß genau, wer Sie sind.« Ein ungläubiger Ton stahl sich in ihre Stimme, als sie ihn ansah. »Sie sind Rupert, stimmt’s?«
Giles Claybrook und Eleanor Smith standen am Altar der St. Edward’s Church und blickten einander wortlos an.
»Nun.« Pfarrer Lytton lächelte die beiden wohlwollend an. »Gibt es einen Ring oder zwei?«
»Einen.« Giles sah auf.
»Giles möchte keinen Ehering tragen«, erklärte Eleanor, und ein Anflug von Verärgerung zeigte sich auf ihrem Gesicht. »Ich habe versucht, ihn umzustimmen.«
»Ellie, Liebes«, meldete sich Eleanors Onkel, der sie von hinten mit einer Videokamera filmte. »Könntest du ein Stück nach rechts gehen? Super.«
»Ein Ring.« Lytton machte sich eine Notiz auf dem Programm. »Nun, in diesem Fall …«
Jemand rüttelte an den Hintertüren der Kirche, und er wandte sich überrascht um.
Die Tür schwang auf, und James, Olivia und Alexander kamen herein.
»Verzeihen Sie«, sagte James und marschierte flott den Mittelgang entlang. »Wir müssen uns nur kurz mit Pfarrer Lytton unterhalten.«
»Dauert nicht lang«, meinte Olivia.
»Tut uns leid, wenn wir stören«, setzte Alexander fröhlich hinzu.
»Was soll das?«, fragte Giles und blickte den Gang entlang.
»Mrs. Havill, ich habe zu tun!«, donnerte Lytton. »Warten Sie freundlicherweise hinten!«
»Nur eine Minute«, sagte James. »Wir müssen bloß eines wissen – wer hat Ihnen von Millys erster Hochzeit erzählt?«
»Wenn Sie versuchen wollen, mich zu diesem späten Zeitpunkt noch davon zu überzeugen, dass die Information unwahr ist …«, begann Lytton.
»Haben wir nicht vor«, meinte James ungeduldig. »Wir müssen es nur wissen.«
»War er es?« Olivia deutete auf Alexander.
»Nein«, erwiderte der Pfarrer. »Und wenn Sie jetzt bitte so freundlich wären …«
»War es meine Kusine Esme Ormerod?«, fragte James.
Schweigen.
»Es wurde mir vertraulich erzählt«, erklärte der Pfarrer schließlich etwas gezwungen. »Und ich fürchte …«
»Ich betrachte das als Bestätigung, dass sie es war.« James ließ sich auf die nächste Kirchenbank fallen. »Ich kann’s nicht fassen. Wie konnte sie? Und dabei ist sie Millys Patentante! Da, um ihr zu helfen und sie zu beschützen!«
»Allerdings«, bemerkte Lytton streng. »Und hätte es Ihrer Tochter etwa geholfen, wenn ihre Patentante tatenlos zugesehen hätte, wie sie vorsätzlich eine Ehe eingeht, die auf Lügen und Unaufrichtigkeit gründet?«
»Was sagen Sie da?«, meinte Olivia ungläubig. »Dass Esme versucht hat, in Millys bestem Interesse zu handeln?«
Pfarrer Lytton deutete mit einer kleinen Geste seine Zustimmung an.
»Nun, dann sind Sie verrückt!«, schrie Olivia. »Sie hat aus Boshaftigkeit gehandelt, und das wissen Sie auch! Eine infame Unruhestifterin ist sie, nichts weiter! Wissen Sie, ich habe diese Frau nie leiden können. Ich habe sie durchschaut, von Anfang an.« Sie nickte zu James. »Von Anfang an.«
Lytton hatte sich Giles und Eleanor zugewandt.
»Verzeihen Sie diese ungebührliche Unterbrechung. Nun lassen Sie uns endlich fortfahren. Das Geben und Entgegennehmen des Ringes.«
»Momentchen«, meldete sich Eleanors Onkel. »Ich spule das Video zurück, ja? Oder soll ich das alles drauflassen?« Er machte eine Geste zu James und Olivia. »Wir könnten es an eine TV-Show schicken.«
»Nein, verflixt, das könnten wir nicht«, brauste Eleanor auf. »Fahren Sie fort, Pfarrer.« Sie warf Olivia einen boshaften Blick zu. »Wir ignorieren diese unverschämten Leute.«
»Nun gut«, meinte Lytton. »Giles, nun werden Sie den Ring auf Eleanors Finger stecken und mir nachsprechen.« Er hob seine Stimme. »Mit diesem Ring nehme ich dich zur Frau.«
»Mit meinem Leib verehre ich dich.«
Als die altehrwürdigen Worte ertönten, schienen sich alle zu entspannen. Olivia hob den Blick zur Gewölbedecke und sah dann zu James. Ein wehmütiger Ausdruck trat auf ihr Gesicht, und sie setzte sich neben ihn. Beide beobachteten, wie Alexander nach vorn schlich und ein diskretes Foto von Lytton schoss, der versuchte, die Videokamera zu ignorieren.
»Erinnerst du dich an unsere Hochzeit?«, fragte sie ihn leise.
»Ja.« Vorsichtig erwiderte er ihren Blick. »Was ist damit?«
»Nichts. Ich habe mich bloß gerade … daran erinnert. Wie nervös ich war.«
»Nervös, du?« James lächelte leicht.
»Ja«, erwiderte Olivia. »Nervös.« Eine lange Pause entstand, dann sagte sie, ohne ihn anzusehen: »Wenn du Lust hast, dann können wir nächste Woche ja vielleicht mal nach Edinburgh fahren. Als kleine Unterbrechung. Wir könnten uns umsehen. In einem Hotel übernachten. Und … und mal über alles reden.«
Stille.
»Gern«, meinte James schließlich. »Sehr gern sogar.« Er machte eine Pause. »Und was ist mit dem Bed and Breakfast?«
»Ich könnte ein Weilchen dichtmachen.« Olivia errötete zart. »Es gibt Wichtigeres in meinem Leben, weißt du.«
James sah sie wortlos an. Vorsichtig bewegte er seine Hand auf ihre zu. Olivia rührte sich nicht. Dann hörten sie plötzlich ein Rütteln an der Tür, und sie fuhren wie von der Tarantel gestochen auseinander. Der junge Vikar der Gemeinde schritt den Gang entlang, ein Handy in der Hand.
»Pfarrer Lytton«, sagte er in aufgeregtem Ton. »Ein äußerst dringender Anruf von Miss Havill. Normalerweise würde ich Sie ja nicht unterbrechen, aber …«
»Von Milly?«, sagte Olivia überrascht. »Lassen Sie mich mit ihr sprechen!«
»Von Isobel Havill«, sagte der Vikar, ohne sich um Olivia zu kümmern. »Sie ruft von Pinnacle Hall aus an.« Mit glänzenden Augen reichte er Lytton das Telefon. »Offensichtlich gibt es recht bestürzende Neuigkeiten.«
Isobel legte den Hörer auf und sah die anderen an.
»Ich habe in der Kirche gerade mit Mummy gesprochen«, sagte sie. »Wisst ihr was, es war gar nicht Alexander, der dem Pfarrer von Milly erzählt hat.«
»Wer dann?«, wollte Simon wissen.
»Ihr werdet’s nicht glauben.« Isobel machte eine Kunstpause. »Es war Esme!«
»Das überrascht mich gar nicht«, bemerkte Harry.
»Kennst du sie?« Isobel sah ihn verblüfft an.
»Von früher. Jetzt nicht mehr. Schon lange nicht«, setzte er hastig hinzu. Isobel warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, runzelte die Stirn und klopfte mit den Fingernägeln auf das Telefon.
»Und Milly hat nicht die geringste Ahnung! Ich muss sie anrufen.«
»Kein Wunder, dass sie mich nicht reinlassen wollte«, sagte Simon, als Isobel erneut den Hörer abnahm. »Diese Frau hat sie doch nicht mehr alle.«
Angespannte Stille trat ein, während Isobel darauf wartete, dass am anderen Ende der Leitung jemand abhob. Unvermittelt änderte sich ihr Gesichtsausdruck, und sie bedeutete den anderen, still zu sein.
»Hi, Esme«, sagte sie in lockerem Ton. »Ist Milly zufällig da? Oh, aha. Könntest du sie vielleicht aufwecken?« Sie machte eine Grimasse zu Simon hin, der ebenfalls das Gesicht verzog. »Oh, verstehe. Okay, tja, da kann man nichts machen. Dann grüß sie von mir.«
Sie legte den Hörer auf und sah in die Runde.
»Wisst ihr was, ich traue dieser Frau einfach nicht«, sagte sie. »Da fahr ich lieber mal selbst hin.«