An diesem Abend gingen die Männer fort. Sie ließen Ren in dem armseligen Kellerraum zurück und nahmen ihm das Versprechen ab, auf gar keinen Fall die Tür aufzumachen, egal wer anklopfte. Tom nahm die Laterne, und Benjamin griff nach der Schaufel mit dem Holzstiel, die er am Nachmittag gekauft hatte. Sie hatte fünf Cents gekostet, genauso viel, wie sie für Das Leben der Heiligen bekommen hatten.
Als die beiden fort und die Schlösser zugesperrt waren, tastete sich Ren die dunkle Treppe hinunter und setzte sich an den Tisch. Es waren noch ein paar Brocken Brot und Würste und gepökelter Kabeljau da, gekauft von dem Geld der Kirchgänger. Ren nahm ein Stück Brot und kaute darauf herum, obwohl er keinen Hunger mehr hatte. Das Brot war frisch und knusprig und innen weich.
Die Männer hatten nur eine Kerze brennen lassen, und das matte Licht zeichnete Schatten an die Wände. Es war ein eigenartiges Gefühl, allein hier zu sein. In Saint Anthony war Ren fast nie allein gewesen. Zum letzten Mal vor zwei Jahren, als die Zwillinge mit Masern im Bett lagen und dann nach und nach sämtliche kleinen Jungen krank wurden, alle bis auf Ren. Drei Kinder starben, bis endlich alles überstanden war. Die Mönche hatten Ren draußen in der Scheune einquartiert, damit er sich nicht ansteckte. Da war es einsam gewesen, und Ren war froh, als es vorbei war.
Auf dem Tisch stand der Whiskey, von dem die Männer getrunken hatten, bevor sie gegangen waren. Toms Stimmung hatte sich ständig verändert, war von fröhlicher Heiterkeit über die reichhaltige Mahlzeit in benommenes Schweigen übergegangen und dann wieder in den üblichen gereizten Zustand, so als hätte er überhaupt nichts getrunken. Ren nahm die Flasche und roch daran. Es kitzelte an den Härchen in der Nase, doch als er einen Schluck probierte, brannte der Whiskey so heftig in seiner Kehle, dass er den Rest, den er noch im Mund hatte, auf den Boden spuckte. Er hatte noch nie etwas so Abscheuliches gekostet, außer vielleicht den Wein, den sie in Saint Anthony gemacht hatten. Einmal hatte er eine Flasche geklaut und sie sich mit den Zwillingen geteilt. Sie hatten sich im Weingarten versteckt und die Flasche kreisen lassen, bis ihnen schwindelig wurde. Dann hatte Brom sich beim Radschlagen den Knöchel verstaucht, Ichy musste spucken, und Ren bekam einen Schluckauf, der erst nach zwei ganzen Tagen wieder aufhörte.
Als Ren so zurückdachte, merkte er, wie sehr ihm seine Freunde fehlten, und er beschloss, Brom und Ichy auf der Stelle einen Brief zu schreiben. Er durchsuchte die kleine Behausung und entdeckte einen Federhalter und ein Glas Tinte, aber kein Papier. Er suchte weiter, bis er schließlich einen Stapel gedruckter Werbezettel für Doktor Fausts medizinisches Salz für angenehme Träume fand. Die Rückseite war leer. Er hatte noch nie einen Brief geschrieben, ging aber davon aus, dass er freudige Nachrichten enthalten sollte.
Lieber Brom, lieber Ichy,
als Erstes muss ich Euch sagen, dass ich betrunken bin. Ich habe eine ganze Flasche Whiskey getrunken. Wahrscheinlich muss ich spucken, bevor ich fertig geschrieben habe.
Benjamin hat ein Pferd und einen Wagen gekauft, und wir
sind in eine Stadt mit lauter Schiffen und Matrosen aus fernen Ländern gefahren. Benjamin hat gesagt, mit einem dieser Schiffe fahren wir nach Indien, um die Elefanten zu sehen.
Ich habe ein eigenes Zimmer, und er verlangt nicht, dass ich in die Kirche gehe. Ich hoffe, Ihr beide bekommt bald eine Familie und müsst nicht zur Armee.
Euer Freund,
Ren
Für den Brief brauchte er ein Kuvert. Und eine Briefmarke. Und beides kostete vermutlich Geld. Er faltete den Brief einmal und dann noch einmal. Mit jedem Falten schwand seine Lust, ihn abzuschicken. Bestimmt würden sie merken, dass er log. Dann wurde ihm klar, dass die Briefe von den Kindern, die eine Familie gefunden hatten, wahrscheinlich auch samt und sonders Lügen gewesen waren.
Ren hörte draußen vor der Tür ein Geräusch. Vorsichtig schlich er die Treppe hinauf und horchte, und bei jedem Schritt wünschte er sich, er wäre nicht allein gewesen. Noch einmal überprüfte er die Schlösser, legte ein Auge an eine Ritze im Holz und spähte hinaus. Er konnte einen kleinen Teil des Hofs überblicken, aber da war nichts. Er wartete, dann wartete er noch ein Weilchen, und schließlich ging er wieder hinunter und holte den Hirschtöter hervor.
Der Indianer auf dem Einband sah ihn an, unbewegt und fremdartig. Ren fuhr mit den Fingern über das Bild, rückte näher ans Licht heran, schlug das Buch auf und begann zu lesen. Als er in die Geschichte eintauchte, rauschten über seinem Kopf die Schierlingstannen und Kiefern; ein See lag vor ihm ausgebreitet wie ein Spiegel, in dem der Himmel badete, und in seinen Ohren hallte der Knall eines Gewehrs. Zusammen mit dem Hirschtöter bahnte sich Ren den Weg durch den dichten Wald, schlug Bäume und baute daraus Kanus, jagte und fischte und rettete indianische Jungfrauen. Dann gerieten sie in einen Hinterhalt, und der Hirschtöter erschoss einen Eingeborenen und erhielt dafür einen neuen Namen – Adlerauge den Namen ebenjenes Mannes, den er getötet hatte.
Das war besser als historische Schilderungen oder Psalmen, sogar besser als Das Leben der Heiligen. Zuweilen hatte Ren das Gefühl, Bruchstücke aus seinen eigenen Träumen zu lesen, in Worte gefasst, die an seinem Herzen zerrten. Es war, als wäre irgendwo in seinem Inneren eine Schnur festgebunden, die in das Buch hineinführte, dort mit den Gestalten verknüpft war und ihn auf diese Weise durch die Seiten zog. Ren las und las, bis seine Augen brannten und die Kerze erlosch, und selbst dann, im Dunkeln, sah er noch immer den Hirschtöter, der sich den Weg durch das dichte Buschwerk bahnte, sein Ziel ins Visier nahm, sein langes, schmales Gewehr an die Schulter legte und abdrückte.
Kurz vor dem Morgengrauen kehrten die Männer zurück. Ren hob den Kopf von der Tischplatte, als sie im Schein von Toms Laterne die Treppe herunterkamen. Sie waren verdreckt, ihre Hosen und Schuhe starrten vor Schmutz. Ren hatte mit Fischgestank gerechnet, aber jetzt roch es im Raum nur nach feuchter Erde. Tom stellte die Lampe ab, und Benjamin leerte nach und nach seine Taschen auf den Tisch aus.
Er zog ein Halsband aus Staubperlen hervor. Und eines aus Korallen, Türkisen und buntem Glas. Er holte eine Taschenuhr hervor und hielt sie kurz ans Ohr, ehe er sie hinlegte. Dann brachte er drei Paar Ohrringe zum Vorschein, eine Gürtelschnalle, mehrere dünne Goldketten, ein Bettelarmband mit winzigen Anhängern, ein paar zu Anstecknadeln verarbeitete Kameen, zwei Paar Lederhandschuhe und einige Ringe.
Tom entkorkte die Flasche, die auf dem Tisch stand. »Mann, war das eine gute Nacht!« Er ließ den Whiskey im Mund kreisen, bevor er ihn hinunterschluckte. »Wir dürfen zu Recht triumphieren wie Julius Cäsar. Veni, vidi, vici.«
Der Schmuck war völlig verstaubt und verschmutzt. Erde hatte sich in den Perlenfassungen und in den Ritzen der Gürtelschnalle festgesetzt. Die Kameen waren fleckig, die Taschenuhr schwarz gerändert. Nur die Ringe wirkten halbwegs sauber. Zumeist waren es einfache Goldreifen. Eheringe. Einige mit einer Gravur an der Innenseite. Mit Initialen. Oder auch etwas anderem. Einem Vers. Einem Versprechen.
»Sieht aus, als hättet ihr die Sachen ausgebuddelt«, sagte Ren.
»Haben wir auch«, sagte Tom. Er begann in seinen Taschen zu wühlen, stellte die Flasche ab, wühlte weiter und zog schließlich ein mehrfach verknotetes Taschentuch hervor. Er schüttelte es, so dass man es klacken hörte, dann warf er es vor Ren auf den Tisch. »Los«, sagte er schließlich. »Mach auf!«
Das Taschentuch war voller Zähne. Ren schüttete sie neben die Halsketten und die Ringe. Es mussten mehrere Dutzend sein, in unterschiedlichen Stadien des Verfalls, einige so groß wie Erbsen, andere voll ausgeformt und fast so groß wie Eicheln, mit spitz zulaufenden, zusammengedrehten Wurzeln. Die Zähne sahen aus wie winzige Porzellanpüppchen ohne Kopf, an denen seitlich noch Reste von rosafarbenem Fleisch hingen, so als hätten sie sich an Menschenfleisch gütlich getan. Blitzschnell zog Ren seine Hand zurück. Allmählich begriff er.
Die Eheringe, die schlaffen Handschuhpaare, die Zähne, die ausgebreitet auf dem Tisch lagen – all das hatten sie den Toten weggenommen. Ren war es, als schwankte der Boden unter ihm, und plötzlich überfiel ihn Angst, als er sich vorstellte, welche Strafe Gott für dieses Vergehen verhängen mochte. Er malte sich aus, wie seine Kumpane in einem Friedhof Gräber öffneten und Sargdeckel wegstemmten; wie ihre Hände die Taschen der Leichen durchwühlten; wie gierig und abscheulich ihre Gesichter dabei aussahen. Und dann gähnte Benjamin. Und Tom kratzte sich den Bart, und sie waren wieder die Alten.
»Es macht zu viel Arbeit, sie rauszuholen«, sagte Benjamin.
»Nicht wenn du bedenkst, für wie viel ich sie verkaufen kann«, sagte Tom. »Ich kenne einen Mann, der behauptet hat, ein gutes vollständiges Gebiss bringt zehn Dollar.« Er zog die Tischschublade auf und kramte darin herum. Schließlich nahm er eine kleine Bürste heraus. »Rutsch rüber«, sagte er zu Ren, setzte sich auf einen Stuhl und goss einen Schuss Whiskey in ein Glas. Er tunkte die Bürste hinein, dann machte er sich an die Arbeit und schrubbte die weichen Reste von den Zähnen.
»Ich habe bei einem Mann Latein gelernt, der überhaupt keine Zähne mehr hatte«, sagte Tom. »Er roch immer nach Lavendelseife. Ein kauziger alter Fuchs war das.«
»Und wie hast du bezahlt?«, fragte Benjamin.
»Meine Mutter hat sein Haus sauber gehalten«, sagte Tom. »Auf diese Weise hat sie meinen Unterricht bezahlt.«
»Zu dumm, dass sie nicht hier ist«, sagte Benjamin.
Tom hörte auf zu bürsten. Sein Mund wurde zu einem Strich. Dann legte er den Zahn weg und griff nach der Flasche.
Benjamin rief Ren zu sich. Er hielt ein Bettelarmband und die Taschenuhr hoch.
»Was, glaubst du, ist mehr wert?«
Die Uhr war aus Gold; in ihr Zifferblatt war ein Baum eingraviert. Das Armband war aus Silber und hatte lauter winzige Musikinstrumente als Anhänger. Ren fingerte an einem klitzekleinen Klavier herum. Er musste an den leblosen Arm denken, den es geschmückt hatte.
»Lass dich nicht ablenken«, sagte Benjamin. Er zog ein Messer aus seinem Stiefel, schob die Klinge in die Rückseite der Uhr und stemmte den Deckel auf. Darunter befanden sich unzählige Rädchen, die alle ineinandergriffen. »Bevor du entscheidest, solltest du dir sämtliche Bestandteile ansehen.« Er passte den Deckel wieder ein und ließ ihn zuschnappen. »Und dann nimmst du immer die Uhr.«
Die Ringe und Halsketten wurden ausgebreitet und begutachtet. Als die Kameen gesäubert waren, erkannte man die fein herausgearbeiteten Bilder – Feengesichter und die Profile wunderschöner junger Frauen. Ein Ohrringpaar funkelte, sobald Benjamin den schmutzigen Belag abrieb, und die Perlen schimmerten im Licht der Laterne wie frisch nachgewachsene Haut.
»Damit kommen wir bis zum Frühjahr über die Runden«, sagte Tom.
Benjamin nickte. Er war mit dem Säubern der Ohrringe fertig und legte sie beiseite. Dann bildete er aus dem restlichen Schmuck Häufchen, schätzte den Wert eines jeden ab und zählte die Beträge mit Hilfe seiner Finger zusammen. Als er ein Paar Handschuhe beiseiteschob, bemerkte er den Hirschtöter, der auf dem Tisch lag.
Tom hörte auf zu bürsten. »Hast du das heute Abend erbeutet?«
Der Indianer auf dem Einband blickte teilnahmslos, während Benjamin das Buch drehte, damit er den Titel auf dem Rücken lesen konnte. Er strich mit dem Finger über die Halskette aus Bärenklauen, dann sah er Ren mit zusammengekniffenen Augen an.
»Ich glaube, das hat ihm Mister Jefferson geborgt.« Benjamin presste die Lippen aufeinander, und Ren spürte, wie ihm flau im Magen wurde. Im Lauf der Jahre hatte er in Saint Anthony eine Menge gestohlen, aber jetzt hatte man ihn zum ersten Mal erwischt.
Toms Blick wanderte zwischen den beiden hin und her, dann wandte er sich grinsend an Ren.
»Wenn ich mir vorstelle, dass ich dich zurückschicken wollte …«
»Nicht zu fassen, dass ich nichts gemerkt habe.« Jetzt lächelte Benjamin. »Zeig mir, wie du es angestellt hast. Nimm etwas anderes.«
Ren ließ einen Moment verstreichen, angespannt und innerlich bereit; dann nahm er die Faust hinter dem Rücken hervor, öffnete sie und zeigte ihnen den Ring, den er zuvor vom Tisch stibitzt hatte. Es war ein goldener Ring mit einem zierlichen Blattmuster. In die Innenseite war ein Datum eingraviert, i83i, dazu die Worte Vergiss mich nicht. Tom und Benjamin beugten sich vor, um besser sehen zu können. Dann lehnten sie sich zurück und brachen in schallendes Gelächter aus.
Benjamin klappte seinen Kragen hoch und fuhrwerkte mit einem Lappen auf dem Buch herum, eine verblüffend präzise Nachahmung von Mr. Jefferson. Dann hetzte er Ren um den Tisch herum und schrie: »Haltet den Dieb!«, während der Junge unter den Stühlen durchkroch und hin und her flitzte, bis Tom sich die Tränen abwischen musste; auch Ren lachte, und es war, als hätte sich eine Spannung im Raum gelöst. Ihre Stimmen schwangen sich bis hinauf in die Ecken, und alle drei schnappten nach Luft.
Benjamin ließ sich auf einen Stuhl plumpsen und streckte beide Beine von sich. Er rieb sich die Nase und richtete seine blauen Augen unverwandt auf Ren, als wäre dieser imstande, die Welt zu erobern.
»Der muss wahrhaftig nichts mehr lernen«, sagte Tom.
»Nein«, sagte Benjamin. »Er ist schon einer von uns.«