Kapitel 17

Benjamin schlich sich nach Anbruch der Dämmerung ins Zimmer. Seine Kleidung roch eigenartig streng und süßlich, als hätte er sie in Alkohol getränkt.

»Wo ist der violette Anzug?«

»Unter dem Bett. Ich glaube, seine Augen tun ihm weh.«

Benjamin hob eine der Decken hoch. Als er sich davon überzeugt hatte, dass Dolly schlief, schlug er seinen Mantel zurück. »Sieh dir das an!« In den Innentaschen steckten haufenweise Geldscheine und Münzen. Es war mehr Geld, als sie mit den Opferstöcken in der Kirche oder mit dem gestohlenen Schmuck oder mit Mutter Jones’ Elixier für ungezogene Kinder verdient hatten. Es war mehr Geld, als Ren je im Leben gesehen hatte.

»Du hättest uns vor den Krankenhaustoren sehen sollen«, sagte Benjamin. »Tom hatte Muffensausen, und ich dachte, wir würden nie reinkommen. Aber der Doktor hat schon auf uns gewartet, wie du gesagt hast. Und das Geld hatte er abgezählt dabei.« Benjamin nahm eine Handvoll Münzen. »Du bringst mir Glück, weißt du das?«

Ren schüttelte den Kopf. Aber er war ein bisschen stolz.

»Ich hätte dich früher da rausholen sollen.«

Er breitete die Geldscheine auf dem Bett aus, und gemeinsam machten sie sich ans Zählen. Ren konnte mithilfe seiner Finger addieren; dabei wanderte sein Daumen über die anderen Fingerspitzen vor und zurück. »Fünfzehn. Sechsunddreißig. Zweiundvierzig. Siebenundsechzig. Fünfundsiebzig.« Er addierte die Zahlen, und Benjamin war sichtlich beeindruckt, als er das Geld ein zweites Mal zählte und auf dieselbe Summe kam. Als sie fertig waren, gab er Ren ein paar Dollar. Dann schraubte er den runden Knopf von einem der Bettpfosten ab, steckte das zusammengerollte restliche Geld hinein und schraubte ihn wieder fest.

»Ich werde mir ein Paar neue Stiefel kaufen.« Benjamin setzte sich aufs Bett. »Und wie steht’s mit dir? Noch eine Orange?«

Ren hielt die Geldscheine an die Nase und atmete ihren Geruch ein. Sie rochen nach schmutzigen Fingern. In seinem Kopf drehten sich all die Dinge, die damit gekauft und verkauft worden waren – neue Kleider und Pfirsiche und Hufeisen und Brennholz und Bücher und Bänder und Bratpfannen. Er schloss die Augen. Er war zu müde, um zu denken.

Benjamin zog sein Messer aus dem Stiefel. Er klappte es auf und wischte mit einem Hemdzipfel die Klinge ab. »Da«, sagte er. »Wie wär’s, wenn du das hier nimmst, bis dir etwas einfällt?«

Ren hatte das Messer schon einige Male gesehen, aber nie aus nächster Nähe. In den Griff war ein Bär geschnitzt; seine Pranken umschlossen das Holz wie einen Baumstamm, den er hinaufkletterte. Der Kopf des Bären ruhte mit schläfrigem Gesichtsausdruck am Griffende, seine Augen waren doppelt so groß wie die Nase. Ren berührte die Messerspitze mit dem Finger. Sie war scharf und glänzend und warf einen kleinen hellen Lichtfleck auf sein Gesicht.

»Jetzt sehe ich dich zum ersten Mal lächeln«, sagte Benjamin.

Ren lächelte tatsächlich. Er konnte gar nicht aufhören. Er spürte die kühle Morgenluft an seinen Zähnen, spürte, wie seine Wangen sich strafften, bis sie allmählich wehtaten. Das Messer lag in seiner flachen Hand, glänzend und gefährlich. Es war mehr als ein Geschenk – er hatte es sich verdient. Benjamin hatte darauf vertraut, dass er die ganze Nacht durchhielt, und er hatte es geschafft.

Die Fabrikglocke läutete, dann die zweite. Ren hörte die Mausefallenmädchen aus dem Haus trappeln. Ein Stiefelpaar verharrte kurz vor ihrer Tür und lief dann weiter die Treppe hinunter. Ren schaute aus dem Fenster und sah mehrere Dutzend blau gekleidete Mädchen mit Tüchern auf den Köpfen die Straße entlanglaufen. Es regnete.

Unter der Matratze hörte man Dolly stöhnen. Plötzlich hob sich das Bett und schwebte kurz in der Luft, ehe es sich wieder auf den Boden senkte. Benjamin und Ren wichen an die Wand zurück und warteten, bis sie den Mann wieder schnarchen hörten.

»Was sollen wir mit ihm machen?«, flüsterte Ren.

»Tom hat seinen Anteil schnurstracks in die Taverne getragen. Er ist die nächsten paar Wochen auf Sauftour.« Benjamin setzte sich auf das andere Bett und knöpfte sein Hemd auf. »Wir brauchen ein zusätzliches Paar Hände.«

»Dann behalten wir ihn also?«

»Wenn es geht.«

»Ich glaube, das ist einer, der Leute umbringt«, sagte Ren.

»Das könnte von Nutzen sein.« Benjamin ließ sich in die Kissen zurücksinken. »Solange er nicht uns umbringt.«

Als Ren wieder aufwachte, schien die Sonne hell durch die Vorhänge. Er wusste nicht recht, ob inzwischen Tage oder Stunden vergangen waren. Neben sich auf dem Bett spürte er die Wärme von Benjamins Körper. In seiner Hand lag der Revolver. Benjamin hatte ihm aufgetragen, Dolly im Auge zu behalten, aber Ren war eingeschlafen. Jetzt war sein Nacken steif, weil er sich ans Kopfbrett gelehnt hatte, und seine Finger kribbelten wie von tausend Nadeln.

Ren drehte sich um. Die Matratze auf der anderen Seite des Zimmers war noch immer leer und wahrscheinlich noch immer voller Ungeziefer. Darunter, auf dem Boden, lag ein Haufen Decken. Die Tür stand offen, und Dolly war verschwunden.

Ren schob die Decken beiseite. Er sah im Schrank nach und schaute aus dem Fenster, stieß in panischer Angst den Schieberahmen hoch und beugte sich zur Straße hinaus. Dann riss er die Tür auf und rannte die Treppe hinunter. Er blieb erst stehen, als er aus der Küche leise Kratzgeräusche hörte. Auch rumpeln hörte er etwas. Dann ein paar dumpfe Schläge.

Langsam öffnete er die Küchentür. Dolly saß auf einer Truhe neben der Feuerstelle. Sein Jackett war oben zugeknöpft, unten hing sein Bauch heraus. Er aß eine Schüssel Porridge; der Löffel in seiner Hand wirkte winzig.

»Suchst du die Frau?«

Ren nickte.

Dolly schlug seitlich an die Truhe.

»Lass sie raus!«, schrie Ren. Er riss ihm die Schüssel aus der Hand und versuchte ihn von der Truhe zu schubsen. »Mrs. Sands!« Er drückte seinen Mund an das Schloss.

Dolly stand auf, und Ren hob den Deckel hoch. Drinnen lag Mrs. Sands mit angezogenen Knien und ohne Schuhe. Dolly hatte ihr eine Socke in den Mund gestopft. Ihre Haut war blass, aber ihre Augen blitzten; sie blinzelte, als es so plötzlich hell wurde und Ren ihr die feuchte Wolle zwischen den Zähnen hervorzog.

»Wer ist das?«, brüllte sie. Ihr Hals war voll roter Flecken. Ren hatte sie noch nie so laut schreien gehört. Mrs. Sands stemmte sich in der Truhe hoch und ließ sich über den Rand auf den Boden rollen. Dann begann sie zu husten. Es war ein tiefer, aufwühlender Husten, der etwas Feuchtes, Schweres in ihrer Brust umwälzte. Auf Händen und Knien griff sie nach dem Schürhaken und schlug damit auf Dollys Bein ein.

Der tote Mann sah ihr dabei zu, rührte sich aber nicht.

»Ihr dürft ihn nicht so fest schlagen!« Ren packte den Eisenhaken und wollte ihn ihr aus der Hand reißen, aber Mrs. Sands hustete und schlug weiter zu. Dolly hielt mühelos ihre beiden Arme fest und legte ihr die Hand auf den Mund, die quer übers Gesicht von einem Ohr zum anderen reichte.

»Deshalb hab ich sie in die Kiste gesperrt.«

Mrs. Sands trat nach ihm.

»Lass sie los!«

Ren versuchte, Dollys Finger von ihrem Mund loszueisen, doch kaum hatte er den Daumen gelöst, stürzte Benjamin herein, in der Hand eine Bibel. Er warf das Buch nach Dolly, der Mrs. Sands überrascht losließ.

»Das ist unsere Hauswirtin«, sagte Benjamin. »Rühr sie ja nicht an.« Dann schimpfte er Dolly aus wie ein kleines Kind.

Dolly wich an die Feuerstelle zurück. »Ich wollte doch nur was essen«, sagte er.

Ren half Mrs. Sands auf die Bank; ihr Körper fühlte sich mager an. Als sie endlich wieder Luft bekam, begann sie aufs Neue heftig zu husten. Benjamin holte ihr ein Glas Wasser und stand dann mit besorgter Miene neben ihr.

»Dieser Mörder hat mich in die Truhe gestopft!«

»Meine liebe Mrs. Sands«, sagte Benjamin. »Es gibt einen ausgesprochen guten Grund, weshalb er das getan hat.«

Alle wandten sich ihm zu, gespannt auf seine Erklärung. Dolly umklammerte die Bibel. Ren biss sich auf die Unterlippe, und die Hauswirtin schaute Benjamin an, als hätte er den Verstand verloren.

»Dieser Mann ist unser Vetter und ein Wanderprediger«, sagte Benjamin. »Er hat vom Tod meiner Schwester erfahren und sich auf die Suche nach uns gemacht.«

Mrs. Sands roch an dem violetten Anzug, dann wedelte sie mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. »Er stinkt wie eine Fuhre Mist.«

»Interessant, dass Ihr das sagt«, meinte Benjamin. »Denn in der Tat ist er mit jeder Art von Mist in Berührung gekommen, tierischem wie menschlichem, als er diese Bibel durchs Land getragen und die Heiden im Wald bekehrt hat. Und just dort im Wald begegnete ihm eine indianische Prinzessin namens Happy Feather, die Christin und schließlich seine Frau wurde. Aber Happy Feather konnte mit Jesus nicht viel anfangen, und so kam es, dass sie, während unser Vetter unterwegs war und das Wort Gottes predigte, mit einem Medizinmann von einem anderen Stamm durchbrannte.«

Dolly betrachtete die Bibel, die Benjamin ihm gegeben hatte, von allen Seiten. Ren beobachtete Mrs. Sands und fragte sich, ob sie merkte, dass Dolly das Buch verkehrt herum hielt. Die Hauswirtin angelte auf dem Boden nach ihren Schuhen, doch den Kopf hatte sie schräg nach oben auf Benjamins Gesicht gerichtet und hörte ihm mit einer Mischung aus Unmut und Ungeduld aufmerksam zu.

»Seitdem sucht unser Vetter nach ihr, lebt von der Hand in den Mund und ist halb verrückt geworden. Und dann sah er Euch heute Morgen am Herd stehen, und weil Ihr so wunderschön ausgesehen habt, genau wie Happy Feather, hat er für einen Moment den Verstand verloren. Er hatte Angst, seine Frau könnte ihm wieder davonlaufen. Und deshalb hat er Euch in die Truhe gesperrt. Er hat es aus Liebe getan.« Mit einer Hand zog Benjamin Dollys Jackett zurecht, und mit der anderen wischte er ihm Porridgereste von der Brust. »Habt Erbarmen, Mrs. Sands.«

»Gebt her«, sagte die Hauswirtin. Sie riss Dolly die Bibel aus der Hand. Sie betrachtete die mit Goldschnitt versehenen Seiten, die an den Ecken abgegriffen waren. Die winzigen Buchstaben waren von Hand geschrieben, und sie beäugte erst diese stirnrunzelnd und dann Dolly. Schließlich legte sie die Bibel auf den Tisch, packte ihren Besen und schlug auf alle drei ein. Benjamin traf sie einmal ins Gesicht und Dolly auf die Schultern. Ren duckte sich, aber sie erwischte mit dem Besenstiel seine Beine. »Ihr seid das schlimmste Pack, das mir je untergekommen ist!«

So schnell es ging, verzogen sie sich, Ren taumelnd voraus und ein verblüffter Dolly als Schlusslicht. Sie liefen zur Tür und stolperten hinaus auf die Straße, Mrs. Sands mit dem Besen in der Hand hinterher. »Ich lasse mich nicht in eine Kiste sperren!«, schrie sie. Dabei knallte sie die Tür so heftig zu, dass der Klopfer von selbst anschlug.

Nun standen alle drei draußen in der Gosse. Ren rieb sich die Beine. Dolly spreizte und streckte seine riesigen Finger. Benjamin zupfte sich ein paar Strohhalme aus den Haaren.

»Na«, sagte er. »Das war vielleicht ein Anfang.« Er streckte die Hand aus und stellte sich Dolly vor. »Willkommen aufs Neue in der Welt.«

Seine Hand verschwand bis hinauf zum Handgelenk. Als Dolly ihn endlich losließ, bewegte Benjamin die Finger, damit wieder Blut hineinkam. Trotz des späten Nachmittags schien die Sonne hell, und Dolly musste blinzeln. Die vielen Passanten und das hektische Hin und Her der Kutschen auf der Straße schienen ihn zu verwirren. Er zog die Schultern hoch und schob sich näher an Ren heran.

»Sieht aus, als hätte er dich ins Herz geschlossen«, sagte Benjamin und hob eine Augenbraue.

Ren wurde verlegen. »Kann schon sein.«

Benjamin klopfte seinen Mantel ab, als wäre ihm das egal. Er zupfte sich das letzte Stück Strohhalm vom Kragen. »Es wird Zeit, dass wir Tom aus der Taverne holen.«

Der Markttag neigte sich dem Ende zu, die Lebensmittel-Händlerinnen legten ihr Obst und Gemüse so hin, dass man die fauligen Stellen nicht sah. Die Bäckerin schnitt das hart gewordene Brot zu Toastscheiben. Die Fleischerin an der Ecke kochte übrig gebliebene Knochen aus.

»Ich hab Hunger«, sagte Dolly.

»Du hast gerade was gegessen«, sagte Ren.

»Stimmt«, sagte Benjamin. »Und wir hatten nichts.«

Dolly hockte sich auf den Gehweg und vergrub den Kopf in den Händen. Die Leute begannen zu glotzen, und auf einmal merkte Ren, wie fehl am Platz Dolly war. Eine alte Frau in Lumpen hielt sich im Vorbeigehen die Nase zu. Ein Junge beugte sich aus einer vorbeifahrenden Kutsche und zeigte auf den violetten Anzug. Weiter vorn an der Straßenecke standen ein paar Soldaten und rauchten. Einer von ihnen hielt inne, als er sich seine Zigarre anzündete. Er deutete mit dem Kinn auf sie. Dann ließ er das Streichholz fallen.

»Nichts wie weg hier«, sagte Benjamin.

»Ich rühr mich nicht von der Stelle«, sagte Dolly.

»Musst du aber«, sagte Benjamin. Sein Gesicht blieb von den Soldaten abgewandt. Ren sah, dass er sich in Bewegung setzte, erst einen Fuß auf dem Gehsteig nach vorn schob, dann den anderen. Gleich würde er sie beide hier zurücklassen.

»Bitte«, flehte Ren. »Bitte, Dolly.« Er griff nach dem violetten Jackett und schlang beide Arme um Dollys Schultern. Er vergrub sein Gesicht in dem durchnässten Samt, bis ihm jemand auf den Rücken klopfte.

»Schon gut«, sagte Dolly. »Mach dir keine Sorgen.«

In einer Seitengasse hinter einer Kirchenruine säuberten sie Dolly. Übergossen ihn eimerweise mit Regenwasser und warfen seinen Anzug in den Müll. Dolly wehrte sich nicht. Er schickte dem violetten Anzug einen traurigen Blick hinterher und hielt dann sein Gesicht zum Rasieren hin. Benjamin ließ sich von Ren das Bärenmesser geben und machte sich ans Werk, fast ohne die Haut zu ritzen. Nachdem die Koteletten verschwunden waren, sah Dolly in seiner langen Unterhose viel besser aus als zuvor. Seine Wangen waren rosig, der kahle Schädel glänzte. Es war, als wäre er nie tot gewesen.

Sie fanden, dass Dolly unbedingt eine Verkleidung brauchte, zumindest solange sie sich in North Umbrage aufhielten. Benjamin hob Ren durch das zerbrochene Fenster der aufgelassenen Kirche, wo er etwas zum Anziehen suchen sollte. Man hatte die Kirchenbänke aus dem Innenraum entfernt und die Buntglasfenster ausgehängt, aber das Lesepult war noch da, ebenso ein Stapel Gebetbücher. Ren durchstöberte einen Schrank hinter dem Altar. In einer Truhe entdeckte er allerlei Zubehör für ein Krippenspiel: einen staubigen Eselskopf, eine winzige Puppe mit einem Heiligenschein aus Draht um den Kopf und ganz unten ein grobes braunes Schäfergewand.

»Ein Predigerkragen wäre besser gewesen«, sagte Benjamin, sobald sie Dolly eingekleidet hatten.

»Er ist kein Prediger«, sagte Ren, »er ist ein Mönch.« Und irgendwie passte das. Ren musste an eine Schar Kapuziner denken, die eines Tages in Saint Anthony aufgetaucht und bis zum nächsten Morgen geblieben waren. Sonderbare, abgehärtete Männer waren das gewesen. Sie aßen nichts, und sie schliefen ohne Decken auf dem Steinpflaster draußen im Hof. Ren hatte sie durch das Fester im Schlafsaal der kleinen Jungen beobachtet. Ihre Körper waren zusammengerollt, die Kutten auf dem Boden ausgebreitet. Im Mondlicht hatten sie ausgesehen wie gefallene Engel.

Ren gab sich große Mühe, Dolly den Unterschied zwischen Gott und dem Heiligen Geist zu erklären, zwischen dem Vaterunser und »Ehre sei Gott in der Höhe«. Sie hatten keinen Rosenkranz zum Üben, aber Benjamin förderte eine Halskette aus gebrannten Perlen zutage, und mithilfe dieses wertlosen Schmuckstücks brachte Ren Dolly bei, das »Gegrüßet seist du, Maria« zu beten, sich den Weg durch die Gesätze des Rosenkranzes zu bahnen und die Geheimnisse des freudenreichen, des schmerzhaften und des glorreichen Rosenkranzes zu unterscheiden.

Dolly hielt eine Perle zwischen seinen riesigen Fingern. Mit ausdruckslosem Gesicht wandte er sich Ren zu. »Das werde ich mir nie merken können.«

»Denk dir nichts«, sagte Benjamin. »Mach einfach das da.« Mit zwei Fingern zeichnete er ein unsichtbares Kreuz in die Luft. »Dann brauchst du gar nichts zu sagen.«

Dolly machte ein Kreuzzeichen.

»Gut«, sagte Benjamin.

Er machte es noch einmal.

»Ganz genau!«, rief Ren.

Derart ermutigt, machte Dolly weiterhin Kreuzzeichen, einmal mit leichter Hand, dann wild, eins nach dem anderen, bis Ren überzeugt war, dass er mithilfe seiner Finger jedes nur vorstellbare Gefühl ausgedrückt hatte.

»Nur gut, dass wir rechtzeitig vorbeigekommen sind«, sagte Benjamin und wischte das Bärenmesser mit einem Mantelzipfel ab. »Sonst würdest du immer noch unter der Erde liegen.«

Dollys Finger verharrten in der Luft, und er taxierte Benjamin mit kühlem Blick. Dann ließ er die Hände sinken und spreizte seine Finger – auf und zu, auf und zu. »Willst du was dafür?«

»Aber nein«, sagte Benjamin und begab sich vorsorglich außer Reichweite. »Aber ich glaube, dass du uns in gewisser Weise was schuldest. Nicht dass ich einer von der Sorte wäre, die Schulden eintreiben.« Er räusperte sich. »Trotzdem denke ich, es ist an der Zeit, dass wir übers Geschäft reden.«

»Du willst, dass ich einen umbringe?«, fragte Dolly.

Benjamin schien verblüfft. »Aber nicht doch.«

»Dann kann ich dir nicht helfen.«

Benjamin biss die Zähne zusammen und rieb sich die Hände, wie immer, wenn er jemanden dazu überredete, gegen seine innere Überzeugung zu handeln. »Wir brauchen noch einen Mann«, sagte er. »Jemand, der uns beim Graben hilft.«

»Ich arbeite allein.«

»Es bringt Geld. Wahrscheinlich mehr, als du sonst in einem Jahr zu Gesicht bekommst.«

Dolly rieb den Ärmel seiner Kutte unter dem Kinn hin und her und überlegte.

Benjamin gab Ren das Messer zurück. »Komm, ich spendier dir was zu trinken«, sagte er zu Dolly und knipste sein Lächeln an, heiter und strahlend und wunderschön. Ren sah zu, wie Dolly langsam kapitulierte und selbst ein schiefes Grinsen aufsetzte. Benjamin gab Dolly die Hand und schüttelte seine Wurstfinger. »Ich kenne auch genau den richtigen Ort dafür.«

Er geleitete sie über den Gemeindeanger vor der Kirche; mit einem Arm schob er Ren vorwärts, den anderen hatte er über Dollys massige Schulter gehängt. Sie kamen an einem baufälligen Musikpavillon vorbei und an einem mit Unkraut überwucherten Teich. Benjamin zeigte hinüber zur Straße. Dort, gegenüber dem Anger, war eine belebte Taverne. Doch als sie darauf zugingen, zögerte Dolly.

»Diese Leute«, sagte er, »die kenn ich.«

Vor der Taverne standen zwei junge Männer und rauchten Pfeife. Der eine trug einen schwarzen flachen Filzhut, der andere, ein unangenehm aussehender Kerl, geknöpfte Gamaschen, die bis zu den Knien hinaufreichten.

»Wer ist das?«, fragte Benjamin.

»Hutmänner«, sagte Dolly.

»Und? Sind die gefährlich?«

»Wenn sie mich sehen, gibt’s Ärger.«

Benjamin sog die Luft durch die Zähne ein. »Dann werden sie dich eben nicht sehen.« Er zog Dolly die Kapuze übers Gesicht und führte ihn hinter eine gewaltige Eiche. »Warte hier«, sagte er. »Bleib außer Sichtweite.« Dann nahm er Ren am Arm und ging an den Hutmännern vorbei in O’Sullivans Taverne.

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