Pater Johns Arbeitszimmer lag im dritten Stock des Klosters. Aus diesem kleinen Raum kamen Anweisungen und Segenswünsche, Angaben für die Portionsgrößen bei Tisch und Regularien fürs Zubettgehen, Gebetslisten, Sündenregister, die turnusmäßige Einteilung des Toilettendienstes und die Geräusche, mit denen diese Richtlinien durchgesetzt wurden. Ren hatte dort dreimal den Rohrstock bekommen, weil er Essen gehortet hatte, sechsmal, weil er nachts sein Bett verlassen hatte, fünfzehnmal, weil er ohne Erlaubnis aufs Dach geklettert war, und siebenundzwanzigmal, weil er geflucht hatte. Er kannte dieses Zimmer gut und war überzeugt, dass Pater John ihn weniger kräftig züchtigte; bei anderen hatte er zentimetertiefe Striemen gesehen.
Pater John zog einen dicken Wälzer aus einem Regal an der Wand: Das Leben der Heiligen. Er ging an den Schreibtisch und begann zu lesen, während Ren in der Ecke stand, ihn beobachtete und wartete. Eine halbe Stunde verging. Manchmal ließ Pater John die Jungen stundenlang warten. Das war jedes Mal noch schlimmer als die eigentliche Strafe.
Ren war auf seine Art gläubig. Für ihn war das so selbstverständlich wie atmen. Im Wald hinter dem Waisenhaus floss ein Bach. Ren hielt gern die Hand ins Wasser, um zu spüren, wie es durch seine Finger rann. Er schaute den Blättern und den Ästchen nach, die den Bach hinuntertrieben, und er spürte, wie die Strömung an seinem Handgelenk zog. Denselben Sog spürte er manchmal auch beim Beten – jenes Gefühl, fortgetragen zu werden in größere Tiefen. Doch nie fand er den Mut, dem nachzugeben. Sobald er den Drang verspürte loszulassen, zog er seine Hand aus dem Wasser.
Pater John blätterte eine Seite in seinem Buch um. Er fuhr mit dem Finger den Falz in der Mitte entlang und las vor: »In Padua versetzte ein junger Mann namens Leonardo in einem Anfall von Zorn seiner Mutter einen Tritt. Danach war er so voller Reue, dass er es dem heiligen Antonius beichtete. Der Heilige sagte dem jungen Mann, er müsse den Teil seiner selbst, der die Sünde begangen hatte, entfernen. Leonardo ging nach Hause und schnitt sich den Fuß ab. Als der heilige Antonius dies hörte, suchte er den verstümmelten Mann auf. Und mit einer einzigen Berührung fügte er den Fuß wieder an.« Pater John klappte das Buch zu, behielt aber einen Finger zwischen den Seiten. »Ich dachte, diese Geschichte interessiert dich vielleicht.«
Ren hatte gelernt, nicht zu antworten. Sein linkes Auge war geschwollen, sein Gesicht dreckverschmiert, nachdem Brom es auf den Erdboden gedrückt hatte. Die Zwillinge hatten ihn an den Haaren gezogen, bis er ihnen verriet, wo er seine Steinsammlung versteckt hatte, und dann waren sie mit all seinen gehorteten Schätzen abgehauen und hatten sich in die Scheune zurückgeschlichen, ehe Bruder Joseph sich wieder regte. Pater John hatte die Rauferei von seinem Arbeitszimmer aus beobachtet und Ren allein am Brunnen angetroffen, blau geschlagen und blutend und heulend über seine verlorenen Schätze.
»Die Sünde wohnt nicht nur dem Fleisch inne.« Pater John stand auf und durchquerte den Raum. »Sie ist ein unauslöschlicher Teil deiner Seele. Jede Missetat ist ein schwarzer Fleck, der nicht getilgt werden kann, außer durch die heilige Beichte und das geheiligte Feuer des Gottesgerichts.« Er klappte das Buch zu und stellte es wieder an seinen Platz im Regal. »Die Heiligen sind Vorbilder für uns gewöhnliche Menschen. Wenn du das nächste Mal in Versuchung gerätst, solltest du an sie denken.« Der Mönch zog die Gerte aus seinem Ärmel, betrachtete sie prüfend und zupfte ein kurzes Haar von der Rinde. »Das jedenfalls tue ich immer.« Er deutete auf den Prügelschemel, und Ren ging hinüber und ließ die Hose herunter.
Der Prügelschemel hatte im Lauf vieler Jahre Rens Gewicht und das zahlreicher anderer Jungen getragen. Ren erinnerte sich noch daran, wie er sich das erste Mal darübergebeugt hatte, nachdem Bruder Peter ihn bei einer Lüge ertappt hatte. Inzwischen waren noch mehr Schrammen im Holz, Stellen, an denen die Fugen nachgaben. Bald würde er auseinanderfallen.
»Wer hat dich geschlagen?«
Der erste Hieb war immer erschreckend. Ren gab sich Mühe, stillzuhalten, als die Gerte brennend in seine Haut schnitt. Schweiß sammelte sich in seinem Kreuz, zwischen den Beinen.
»Wer hat dich geschlagen?«
Ren versuchte, an etwas anderes zu denken. Er spürte, wie die Schnittränder langsam aufbrachen, wie der stechende Schmerz sich den Weg in seinen Körper bahnte. Speichel tropfte aus seinem Mund und bildete eine Pfütze auf dem Boden.
»Dein Essen wird rationiert, bis du die Namen angibst. Schuhe und Decken für den Winter sind gestrichen.«
Ren umklammerte den Schemel. Er wartete darauf, dass er zusammenkrachte. Jedes Jahr war die Rede von neuen Schuhen und Decken. Und jedes Jahr blieben sie aus.
Der Schlafsaal der kleinen Jungen war eine lang gestreckte, schmale Mansarde, gesäumt von Bettgestellen mit spärlichem Bettzeug, schrägen Wänden und einem schmalen Streifen Decke. Es gab zwei kleine Fenster mit Schnappriegeln, eines neben der Tür und eines am dunklen Ende der Reihe, und unter diesem Fenster versuchte Ren zu schlafen, obwohl die Rückseiten seiner Oberschenkel noch brannten.
Der Raum roch nach gekochtem Fisch. Es war derselbe tranige Geruch, der das ganze Waisenhaus durchzog. Er stammte von den Körpern der Kinder und sickerte in die Tische und Stühle, in die steinernen Mauern des Gebäudes. Zweimal im Monat wurden die Jungen mitsamt ihrer Unterwäsche von einer Truppe mildtätiger Großmütter gewaschen. An diesen Tagen stemmten die Klosterbrüder Türen und Fenster auf, um das Gemäuer durchzulüften, aber es nützte wenig. Kaum war die erste Nacht um, kehrte der Geruch zurück – eine Mischung aus genässten Betten, Kummer und Krankheit.
Brom und Ichy schliefen im Bett neben Ren, wie schon seit der ersten Nacht, nachdem man sie in Saint Anthony abgegeben hatte. Ren konnte sich noch daran erinnern, wie Bruder Joseph hereingeschlurft war, die Zwillinge wie zwei Bündel auf dem Arm. Die kleinen Jungen trieften vor Nässe und zitterten am ganzen Körper. Ren hatte zugesehen, wie Bruder Joseph sie aufs Bett legte und aus ihren Decken schälte.
»Ihre Mutter hat sich ertränkt«, murmelte Bruder Joseph ins Dunkel, während er die nassen Kleidungsstücke auf den Boden warf. »Was für ein Unglück! Die wird niemand haben wollen.« Er rieb die Arme und Beine der Jungen. »Sie müssen wieder warm werden.« Und damit schob er erst den einen, dann den anderen in Rens Bett und eilte hinunter in die Kleiderkammer, um etwas Trockenes zum Anziehen für sie zu suchen.
Die Jungen schmiegten sich unter der Decke an Ren. Sie mochten ein Jahr jünger sein als er, nahmen aber doppelt so viel Platz ein, so dass er versucht war, sie auf den Boden zu schubsen. Als hätte Ichy das geahnt, packte er Rens Nachthemd und stopfte sich einen Stoffzipfel in den Mund. Brom schluchzte vor Zorn. Ren musste an die Mutter der beiden denken, die im Fluss dahintrieb. Er hätte gern gewusst, welche Farbe ihr Haar hatte. Es war blond, entschied er. Er entschied über die Farbe ihrer Augen (blau) und ihrer Haut (blass) und ihres Kleides (grün), bis er sie triefend nass vor sich stehen sah. Ihre Schuhe waren schlammverkrustet, in ihrem Haar hatten sich Zweige verfangen. Sie verschränkte die Arme, als würde sie frieren, und es dauerte ein paar Sekunden, ehe Ren begriff, dass sie darauf wartete, dass er etwas unternahm.
»Was willst du?«, fragte er. Aber sie gab ihm keine Antwort. Und so begann er zu pfeifen, nur um irgendein Geräusch im Raum zu hören … Die Zwillinge neben ihm hörten auf zu weinen und wurden still. Sie wurden so still, dass Ren befürchtete, sie könnten tot sein. Er setzte sich auf und betrachtete ihre schlafenden Gesichter, bis er sicher war, dass sie atmeten. Als er sich umdrehte, war ihre Mutter verschwunden.
Jetzt bewegte Ren unter der Decke seine brennenden Beine und versuchte dabei, nicht auf den Schmerz zu achten. Pater John war Rechtshänder, und deshalb bekam die linke Seite mehr Striemen ab. Ren drehte sich auf eine Seite, dann auf die andere. Die Haut rings um das Auge pulsierte, und der Arm, den Brom ihm verdreht hatte, schmerzte. Ren zupfte an dem Schorf, der sich auf seinem Knie gebildet hatte, und sog die Luft durch die Zähne ein, als er sich löste.
»Tut es weh?«, flüsterte Ichy aus dem Bett nebenan.
Ren wollte nicht als Feigling dastehen. »Nein.«
»Du hättest mich nicht boxen sollen«, sagte Brom.
Ren wandte sich ab und schaute zum Fenster hinaus. Noch war er nicht bereit, wieder gut Freund mit ihnen zu sein.
»Glaubst du, William ist inzwischen zu Hause?«, fragte Ichy.
»Bestimmt«, sagte Brom.
»Außer er wurde von Piraten gefangen genommen«, sagte Ichy.
Danach verstummten die Zwillinge, und schließlich wurde ihr Atem flach. Ren lag auf der Seite und dachte daran, wie der heilige Antonius Leonardos Fuß wieder angefügt hatte. Er fragte sich, oh auf der Haut eine Narbe zurückgeblieben war oder ob es dem Heiligen gelungen war, den Knöchel wieder völlig glatt zu machen. Er schob seine Hand unter die Decke und holte Das Leben der Heiligen hervor.
Nachdem Pater John die Strafe vollstreckt und sich abgewandt hatte, um die Gerte wieder in seinen Ärmel zu schieben, zog Ren rasch das Buch aus dem Regal. Er versteckte es unter seinem Hemd und umschloss es, über den Prügelschemel gebeugt, mit seinem ganzen Körper, bis er sich entfernen durfte. Er hatte den Ledereinband an der Haut getragen, und nun war er warm wie ein lebendiges Wesen.
Ren hielt das offene Buch so mit dem Ellbogen fest, dass das Mondlicht zum Lesen ausreichte. Er schlug es beim Namenstag des heiligen Antonius auf, dem 13. Juni, und erfuhr, dass der Heilige nicht nur das Wunder mit Leonardos Fuß vollbracht hatte. Er wohnte außerdem in einem Walnussbaum und konnte sich wie durch Zauberei von einem Land in ein anderes versetzen. Er predigte den Fischen, schickte Dieben Engel hinterher und brachte Maultiere dazu, statt Heu geweihte Hostien zu fressen. Er rettete Fischer aus Stürmen, bekehrte Tausende von Ketzern, geleitete Nonnen durch Marokko und holte einen Jungen von den Toten zurück.
Der Junge war umgebracht worden, und man fand ihn vergraben im Garten des Vaters des heiligen Antonius. Der Vater des Heiligen wurde verhaftet und des Verbrechens angeklagt. Doch dann kam der heilige Antonius, berührte den toten Jungen und erweckte ihn wieder zum Leben. Das Kind schlug die Augen auf und benannte den wahren Mörder. Wie es weiterging, stand nicht in dem Buch, so dass Ren sich fragte, ob der Junge wieder in sein Grab zurückgekehrt war. Das Ganze erschien ihm ungerecht. Wenn man schon sterben musste, dachte Ren, sollte man nur einmal sterben müssen.
Am anderen Ende des Schlafsaals der Kleinen weinte ein Junge. Ren horchte kurz und schob sein Buch behutsam unter die Decke. Nach und nach regten sich die anderen Jungen; ein oder zwei murmelten im Halbschlaf. Brom setzte sich auf und rief: »Ruhe!« Ein anderer Junge fluchte. Dann kroch jemand unter seiner Decke hervor. Ren konnte die Schritte auf dem Boden hören. Es kam der Moment, in dem alle Kinder die Luft anhielten, und dann ein lauter, kräftiger Schlag. Das Weinen hörte auf, und die Schritte kehrten zum Bett zurück.
Nun waren alle wach, starrten hinauf ins dunkle Dachgebälk und lauschten. Nachts weinten die Kinder immer abwechselnd. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein anderer Junge anfing. Und wenn dieses leise Schluchzen begann, wusste Ren, dass es Stunden dauern würde, bis er wieder lesen konnte.
Er klappte das Buch zu und schloss die Augen. Er stellte sich den Wunschstein vor, der auf dem Grund des Brunnens lag. Er hatte ihn in der Hand gehalten, wenn auch nur kurz. Ren ballte seine Hand zur Faust und versuchte, sich an seine Form zu erinnern. Er konnte spüren, wie sein Blut unter der Haut pulsierte, fühlte sogar die Wärme des Steins wieder an den Fingerspitzen, und alle nur denkbaren Wünsche lagen deutlich vor ihm. Ren schob seine Hand ins Mondlicht und öffnete langsam die Faust – in der leisen Hoffnung, der Stein könnte wieder da sein. Aber kein Wunder geschah in jener Nacht im Schlafsaal der kleinen Jungen. Da war nur Rens geöffnete Hand, leer und kalt im Dunkeln. Ein paar Reihen weiter begann ein anderer Junge zu weinen, und Ren drückte sein Gesicht ins Kissen. Er war froh, dass er den Stein weggeworfen hatte. Jetzt konnte sich niemand mehr einen Wunsch damit erfüllen.