Die Frösche waren draußen. Bis vor kurzem hatte es geregnet, und als der Wagen jetzt im Dunkeln an den Sümpfen vorbeifuhr, ertönte ein ungeordneter Chor von Gequake. Benjamin saß auf dem Kutschbock, neben sich auf dem Boden eine schwankende Laterne. Tom saß neben ihm, und Dolly und die Jungen hockten hinten im Wagen und hielten sich an den Seiten fest, während sie durch die Löcher in der steinigen Straße holperten. Gegen ihrer aller Gewicht ankämpfend, quälte sich das Pferd durch die Nacht. Alle paar hundert Meter blieb es stehen, als wollte es endgültig aufgeben. Benjamin knallte mit der Peitsche, und die Stute trottete weiter.
»Wohin fahren wir?«, flüsterte Ichy.
Ren schaute kurz vor zu Benjamin und Tom, die mit hochgezogenen Schultern im Dunkeln saßen. »Zum Angeln«, sagte er.
Der Wagen fuhr über eine überdachte Brücke, die ächzte und knarzte und kein Ende nehmen wollte. Auf der anderen Seite schlugen sie den Weg nach Süden ein. Die Gegend hier war voller Sümpfe und Feuchtgebiete. Ren behielt Brom und Ichy im Auge, die halb ängstlich, halb erwartungsvoll dreinschauten, und dachte an den langen Weg, den sie von Saint Anthony bis hierher zurückgelegt hatten. Er steckte seine Hand in die Tasche und betastete den Rand seines Kragenstücks. Er trug es jetzt immer bei sich, als könnten ihn die drei blauen Buchstaben seines Namens vor dem Rest der Welt schützen.
Die Bäume am Flussufer wichen offenen, leicht hügeligen Feldern. Unterbrochene Zäune kennzeichneten die Grenzen zwischen den Farmen. Hin und wieder schien in einem Haus in der Nähe ein Licht. Brom und Ichy flüsterten miteinander und schielten zu Dolly hinüber, der neben ihnen hockte und döste. Tom lehnte mit bleichem, verkatertem Gesicht am Rand des Kutschbocks. Als der Wagen über eine Bodenwelle holperte, stöhnte er.
»Du bist selber schuld«, sagte Benjamin.
»Lass mich in Ruhe«, sagte Tom.
»Wegen dir kommen wir langsamer voran.«
»Ich werd schon wieder. Lass mich nur einfach in Ruhe.«
Tom hatte fast den ganzen Tag und die Nacht gebraucht, um wieder nüchtern zu werden. Er war in Mrs. Sands’ Garten hinausgetorkelt und verbrachte mehrere Stunden zusammengerollt neben einem riesigen Rosmarinstrauch. Die Zwillinge beobachteten ihn vom Fenster aus und bissen sich beunruhigt die Lippen auf. Ren blickte auf ihre abgewetzten Schuhe und ihre schlecht sitzenden, mit einer Schnur zusammengehaltenen Jacken. Sie wussten nicht, wo es hingehen sollte, und Ren würde sie auch nicht vorwarnen.
Als sie den Friedhof erreichten, gab es weder einen Wachturm noch ein eisernes Tor, noch ein Schloss, das man aufbrechen musste. Die Gräber lagen ungeschützt auf dem Feld, umgeben nur von einer niedrigen Steinmauer und einem einfachen Holzgatter, das die umherstreifenden Kühe fernhalten sollte.
Benjamin brachte den Wagen zum Stehen.
Der Wind frischte auf, das Laub über ihren Köpfen raschelte. Tom rutschte mit gequälter Miene seitlich vom Wagen herunter. Er nahm die Laterne und eine Schaufel, stieg über die Mauer und bahnte sich den Weg durch das feuchte Gras. Die Zwillinge kletterten hinten aus dem Wagen und standen dann am Straßenrand. Ihr Blick wanderte von Ren zum Friedhof und wieder zurück.
Benjamin band die Zügel des Pferdes um einen Baum und lud dann die Rupfensäcke vom Wagen. Er nickte in Dollys Richtung. »Weck ihn auf.«
Ren zwickte Dolly in die Hand. Er schlug die Augen auf und kletterte unbeholfen vom Wagen. Benjamin drückte ihm einen Spaten in die Hand.
»Zeit, sich zu revanchieren.«
Dolly runzelte die Stirn. In seiner Hand sah der Spaten aus wie ein Spielzeug.
»Bitte«, sagte Ren. »Du musst uns helfen.«
Sobald Ren ihn darum bat, wich Dollys Unentschlossenheit. Er packte den Spaten, als wollte er ihn entzweibrechen. »Zeig mir nur, wo.«
Die Männer stiegen über den Zauntritt, Benjamin als Erster. Als sie weg waren, hockte sich Ren neben den Wagen und tat, als müsste er etwas reparieren, nur um seinen Freunden nicht in die Augen sehen zu müssen.
»Was tun wir hier?«
»Du hast uns angelogen.«
Brom packte Ren, als könnte er eine Antwort erzwingen, aber Ren stieß ihn weg.
»Jetzt wisst ihr Bescheid«, sagte er.
Aus dem Friedhof hörte man jemanden schreien. Benjamin rief Rens Namen. Die Jungen wurden aus ihrem Wortwechsel gerissen und kletterten hastig über den Zauntritt. Die Schaufeln lagen auf dem Boden, und Dolly hatte Benjamin hochgehoben und drückte ihn an einen Baum.
»Herrgott noch mal.« Benjamin zappelte in seinem neuen blauen Mantel wie ein Käfer. Er trat um sich und schlug in die Luft.
»Lass ihn runter!«, schrie Ren.
»Ich grab keine Toten aus«, sagte Dolly. »Nicht für euch. Für niemand.«
Der Mantel rutschte, und Dolly drückte Benjamin fester an den Baum; seine Hände näherten sich seiner Kehle. Ren stürzte sich auf Dollys Arm. Er hängte sich mit seinem ganzen Gewicht daran, aber der Arm rührte sich so wenig wie ein Ast an einem Baum.
»Hör zu.« Benjamin konnte nur noch flüstern. »Hör mir zu.«
Aus dem Dunst tauchte Tom auf, den schweren Eisenspaten über der Schulter. Lautlos schlich er sich hinter Dolly an, holte weit aus und schlug ihm die Schippe über den Schädel. Dolly stand einen Moment lang da, zuckte leicht, dann sackte er zusammen und riss Benjamin mit sich; mit einem dumpfen Schlag knallte sein Körper auf den Boden.
»Schafft ihn runter.« Benjamin fluchte. Tom und die Jungen eilten zu ihm und rollten Dolly mühsam von Benjamins Beinen herunter.
Ren zwickte Dolly noch einmal in die Hand. Er rief ihn beim Namen. Als Dolly nicht reagierte, legte Ren ein Ohr an seinen Mund und horchte. Nach ein paar Sekunden hörte er einen schwachen Lufthauch, ein leises Geräusch, wie wenn der Wind vom Wasser her weht.
Tom beugte sich vor. »Der kriegt schlimmere Kopfschmerzen als ich.«
»Du hättest ihn nicht zu schlagen brauchen«, sagte Ren.
»Ach«, sagte Tom. »Hast du vielleicht eine bessere Idee, wie man ihn daran hindern kann, andere Leute zu erwürgen?«
In der Dunkelheit standen sie alle um Dolly herum und lauschten seinem schwerfälligen Atem. Mit vereinten Kräften schleiften sie ihn zum Baum, richteten seinen Oberkörper auf und lehnten ihn an den Stamm. Mit dem Kopf an der Rinde schlief Dolly weiter; unter seiner Kutte spitzten die Knie hervor.
»Ohne ihn werden wir nie fertig.« Benjamin hockte sich ins Gras. Er zupfte an seinen Haaren. Dann sah er die Jungen an, und sein ganzes Gesicht schien sich zu verhärten. Er nahm Dollys Spaten und drückte ihn Ren in die Hand. Der hölzerne Griff war aufgeraut, weil er bei Wind und Wetter im Freien gestanden hatte, und Ren spürte, wie sich ein winziger Span in seinen Handteller bohrte.
Benjamin schnappte sich die Zwillinge und schob sie in Richtung Gräber. »Achtet auf die Markierungen«, sagte er. »Bevor die Sonne aufgeht, müssen wir weg sein.«
Die Grabsteine in der Mitte des Friedhofs waren aus Schiefer. Längliche schwarze Platten, die aus dem Boden ragten. An der Seite standen ein paar Gedenksteine aus Marmor, mit Urnen und Engeln, die kummervoll auf die Gräber herabsahen oder weinend auf die Namen deuteten. Benjamin zeigte in die hinterste Ecke. »Ich habe bei allen weiße Steinchen ans Fußende gelegt«, sagte er. »Die müsstet ihr in der Dunkelheit sehen können.«
Tom machte sich weiter vorn in der Reihe ans Werk. Denn genau das war es, wie Ren jetzt erkannte – eine Reihe frisch zugeschütteter Gräber. Insgesamt vier. Zwei mittelgroße Kreuze und zwei kleinere. Der Schankkellner und seine Familie.
»Erst holst du den Alten raus.«
»Genau das tue ich.« Tom hatte bereits knöcheltief gegraben. Er atmete schwer, und während er grub, bekam sein Gesicht allmählich Farbe.
Benjamin führte die Jungen zu einem Kreuz weiter hinten. »Hebt nicht das ganze Grab aus. Wir müssen nur ans obere Sargende kommen.«
Benommen ging Ren zu dem Grab und schleifte den Spaten hinter sich her. Am Fuß des Kreuzes lag ein durchscheinender Quarzbrocken. Er hob ihn auf und strich mit dem Daumen darüber. Seine Kanten waren glatt und hatten winzige schimmernde Flecken, die in seiner Hand blitzten. Er schloss seine Finger um den Quarz. Dann wandte er sich den Zwillingen zu. »Wir müssen graben.«
Brom schüttelte den Kopf.
»Ich will das nicht«, flüsterte Ichy.
Ren stieß den Spaten in den Boden, hob einen kleinen Brocken Erdreich aus und stabilisierte den Griff mit seinem Armstumpf. Die Erde war schwer vom Regen, die Kruste oben hart und spröde. Er gab sich Mühe, weder auf den Markierungsstein noch auf den Namen zu schauen – Sarah, Ehefrau des Samuel –, der in das Holzkreuz eingekerbt war. Er dachte an das, was Dolly gesagt hatte. Dass er gehört hatte, wie sie nach ihm gruben. Dass er sie durchs Erdreich hatte kommen hören.
Tom verfluchte und beschimpfte die Zwillinge, bis sie endlich mithalfen. Brom und Ichy wechselten sich mit ihrer Schaufel ab, und Ren räumte immer wieder die Steine beiseite. Es kam ihnen vor, als würde die Arbeit kein Ende nehmen. Sie gruben immer tiefer, bis es plötzlich einen dumpfen Schlag tat und die Schaufel auf Holz traf. Ren hockte sich an den Rand der Grube. Weit unter sich sah er den bleichen Fichtensarg, dessen Ende aus der Erde hervorlugte wie ein Kopf unter einer Decke.
Benjamin kam mit einem langstieligen Spaten herbei. Er stieß die Jungen beiseite und schob ihn in die Grube. Drei Versuche waren nötig, bis das Blatt Halt gefunden hatte und man das Holz splittern hörte. Dann brachte Tom zwei Ketten mit großen Metallhaken an beiden Enden. Als sie in das Grab hinuntergelassen wurden, erkannte Ren, dass es sich um Fleischerhaken handelte, wie er sie im Metzgerladen gesehen hatte.
»Hast du ihn?«, fragte Benjamin.
»Gleich«, sagte Tom. »Hier rüber. Ja. Ich hab ihn.«
Sie hakten den Leichnam unter den Armen ein und zogen ihn heraus.
Sarah, die Ehefrau des Samuel, war in ihrem Hochzeitskleid begraben worden. Es war nicht aus Seide, sondern aus steifem, hartem Leinen, das an Hals und Schultern mit rosaroten Blumen bestickt war. Vom Kragen bis zur Taille verlief eine Reihe Perlmuttknöpfe, und die Hände der Toten steckten in gehäkelten Handschuhen.
Ren gab sich Mühe, auf das Kleid zu schauen und nicht in ihr Gesicht – ihre Haut war starr und kalt wie Wachs, das Haar strohig. Benjamin entfernte die Metallhaken und schleifte die Frau zu einem Grasflecken; ihr Kleid fegte über den Boden, und unter ihrem Rock kamen kleine weiße Lederstiefel zum Vorschein, die aussahen wie zwei weiß gestrichene Ästchen. Ihre Lippen waren tiefrot und leicht geöffnet.
»Gib mir das Messer«, sagte Benjamin.
Es dauerte einen Moment, ehe Ren begriff. Er schob die Hand in die Tasche, holte das Messer mit dem Bären heraus, und mit einem mulmigen Gefühl gab er es ihm. Benjamin schob die Klinge unter den Kragen des Hochzeitskleides und schnitt mit einem einzigen Ruck die Knöpfe ab. Die runden Perlen sprangen wie Reiskörner in die Luft, verteilten sich im Gras und wurden im Mondlicht zu glitzernden Tupfen.
Benjamin gab Ren das Messer zurück. »Zieht ihr die restlichen Sachen aus. Das Kleid ist mindestens fünf Dollar wert.« Damit ließ er die Jungen stehen und ging hinüber zu Tom, und gemeinsam machten sich die beiden Männer daran, das nächste Grab auszuheben.
Ren wandte sich seinen Freunden zu, das Messer noch in der Hand.
»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Brom.
»Ich möchte nach Hause«, heulte Ichy.
Ren hätte ihm am liebsten einen Tritt gegeben. »Wir gehen nirgendwohin.«
Er versuchte der Frau das Kleid von den Schultern zu ziehen, aber ihre Arme ließen sich nicht beugen. Er drohte Brom und Ichy, bis sie sich hinknieten und mithalfen. Sie waren zu verängstigt, um etwas anderes zu tun, als zu gehorchen. Am Ende rollten sie die Frau auf den Bauch, schnitten die Schnürung im Rücken durch und zogen ihr das Kleid von hinten ab, nachdem Ren die Nähte aufgetrennt hatte. Darunter trug sie einen schlichten weißen Unterrock und ein Mieder. Im Nacken hatte sie ein Muttermal, zwei kleine braune Flecken, zusammengehalten von etwas, das aussah wie ein klitzekleiner Mund.
Die Jungen standen neben der Toten, zitternd und schuldbewusst. Ichy fing leise an zu beten, und Brom fiel bald ein. »Vater unser, der du bist im Himmel.« Ren drehte sich zu dem Nachbargrab um und sah auf dem Boden den nackten Körper eines alten Mannes liegen; sein Penis sah aus wie ein weiches Seilende, seine Augen waren geöffnet, der Blick starr.
Sie brauchten Stunden, bis sie fertig waren. Die Jungen schaufelten, bis ihnen die Arme wehtaten; ihr Rücken schmerzte, und auf ihren Fingern wölbten sich Blasen. Benjamin ging zwischen Friedhof und Straße hin und her, hielt Ausschau, lauschte. Jedes Mal, wenn er zurückkam, wirkte er noch nervöser und drängte die anderen zur Eile.
Als sie den letzten Sack auf den Wagen geladen hatten, deckte Tom die Toten mit einer Decke zu, dann holte er den Flachmann aus seiner Tasche und begann zu trinken. Die Zwillinge kletterten hinten auf den Wagen, wo sie erschöpft zusammensackten, und Benjamin setzte sich auf den Kutschbock.
»Was ist mit Dolly?«, fragte Ren.
Benjamins Miene war entschlossen. »Steig ein.«
Das Pferd trat unruhig auf der Stelle. Für kurze Zeit war sein Atem das einzige Geräusch in der dunklen Nacht. Dann begannen sich Rens Füße zu bewegen, erst der eine, dann der andere, und dann liefen sie vom Wagen weg, über den Zauntritt, zu Dolly, und dann hörte er andere Schritte, Schritte, die immer schneller kamen, hinter ihm her. Benjamin hob Ren hoch und hielt ihn fest.
»Er ist uns keine Hilfe.«
Ren wehrte sich, um freizukommen.
»Willst du bei ihm bleiben? Willst du, dass ich dich hierlasse?«
Ren konnte mit Mühe Dollys Umrisse erkennen, einen am falschen Fleck aufgeschütteten Erdhaufen. Er schlief noch immer unter dem Baum. Ren wollte seinen Freund nicht im Stich lassen. Aber die Vorstellung, hier auf dem Friedhof zurückzubleiben, war schlimmer. Er hörte auf, sich zu wehren, hatte keine Kraft mehr. Benjamin lockerte seinen Griff und setzte ihn wieder ab, dann führte er ihn zurück zum Wagen.
»Ich habe dich gewarnt«, sagte Benjamin.
Ren schaute sich nach Dollys Baum um, als sie davonführen. Er stellte sich vor, wie sein Freund in der Dunkelheit nach ihm rief und in der Nähe nur stumme Kreuze und Grabsteine standen. Nach einer Straßenbiegung verschwand der Friedhof hinter ihnen, und Ren vergrub das Gesicht in seiner Jacke.
»Na, komm schon«, sagte Tom. »Was soll das? Du hast doch deine Kameraden.«
Brom und Ichy hockten reglos da wie Puppen, den Blick auf den Haufen Leiber neben ihnen auf dem Wagen gerichtet. Tom hustete, holte eine Flasche unter seinem Mantel hervor und nahm einen langen, langsamen Schluck. Als er fertig war, leckte er sich die Lippen.
»Lasst uns was singen.«
Die Waisenjungen reagierten nicht.
»Kennt ihr denn kein Lied? Haben sie euch nicht beigebracht, was zu singen?«
»Wir kennen ein paar Kirchenlieder«, sagte Brom mutig. »Die sind auf Latein«, sagte Ichy.
»Klingt nicht, als würde man davon gute Laune kriegen. Wie wär’s mit ›Hey Nonny No‹? Oder ›Bonnie My Bonnie‹?« »Kennen wir nicht.«
»Dann wird’s aber höchste Zeit.« Tom trank noch einen Schluck aus der Flasche. Er räusperte sich und begann zu singen, mit hoher und erstaunlich wohltönender Stimme.
Lavender’s blue, diddle diddle
Lavender’s green,
When I am king, diddle diddle
You shall he queen.
»Aber du kennst es«, sagte Tom und warf Benjamin die Flasche zu.
A brisk young man, diddle diddle
Met with a maid,
And laid her down, diddle diddle
Under the shade.
Benjamin trank einen Schluck, dann warf er die Flasche zurück.
»Da«, sagte Tom und reichte sie Brom. »Singt. Ihr braucht nicht mehr zu können, als den Diddle-diddle-Teil.«
Brom trank zögernd ein Schlückchen aus der Flasche und verzog das Gesicht. Ichy tat es ihm nach, musste husten und spuckte aus, was er im Mund hatte, aber als Tom zu der Diddle- diddle-Stelle kam, fielen sie mit ihren leisen Stimmen ein.
For you and I, diddle diddle
Now all are one,
And we will lie, diddle diddle
No more alone.
Ren beobachtete seine Freunde. Das Lied hatte sie aufgeheitert. Aber in der Luft über ihm hallten die Worte nach wie eine Warnung. Kein Rascheln in den Baumwipfeln. Kein Wind im Geäst. Es war, als hielten die Bäume allesamt still und lauschten. Ren schaute hinauf zu Benjamin auf dem Kutschbock. Er ließ die Schultern hängen und sang nicht mit. Sein Blick war nach vorn gerichtet, auf die Kreuzung.
Ein gewisses Unbehagen breitete sich im Wagen aus, und als sie sich dem Wegweiser näherten, beugte sich Ren seitlich über den Rand. Weiter vorn an der Straße bemerkte er ein paar Gestalten. Reisende, die ihnen entgegenkamen. Benjamin fluchte und richtete sich auf dem Kutschbock auf, und Tom warf noch eine Decke über die Toten.
Es waren fünf Männer zu Pferd. Mit dem Mond im Rücken und den lang gezogenen Schatten, die sie warfen, sahen sie beinahe selbst aus wie Bäume. Die Männer trugen unterschiedlich große und unterschiedlich geformte Hüte. Eine Melone, einen Strohhut, eine Wachmannmütze, einen Zylinder und einen mit einer blutroten Hutschnur. Die Gestalt in der Mitte trug einen langen schwarzen Reitermantel. Die Pferde wirkten unruhig, so als hätten sie schon eine ganze Weile gewartet, warfen die Köpfe hin und her und zerrten an den Zügeln.
»Mister Nab«, rief der Mann im Reitermantel.
Benjamin brachte den Wagen zum Stehen. Er betrachtete die Männer flüchtig. »Ich kenne Euch nicht«, sagte er.
Der Reiter schlug seinen Mantelkragen zurück. Es war der Mann mit den roten Handschuhen, der dem Schankkellner aus O’Sullivans Taverne die Hand abgeschnitten hatte. Neben dem Sattel hielt er ein langes Gewehr, machte jedoch keine Anstalten, es hochzuheben.
Benjamin lächelte. »Hier muss es sich wohl um ein Missverständnis handeln.«
»Kein Missverständnis.« Der Mann mit den roten Handschuhen zeigte auf den Wagen, und die Melone und der Strohhut lenkten ihre Pferde rechts und links daneben. Der Strohhut beugte sich über den Wagen, schlug mit seinem Gewehr die Decken zur Seite und stocherte damit in den Rupfensäcken herum. Dann schob er das obere Ende von einem so weit nach unten, dass das Gesicht von Sarah, der Ehefrau des Samuel, zum Vorschein kam.
»Wartet!« Benjamin hob beide Hände. »Diese Leute, das sind lauter Verwandte von mir. Die einzigen, die mir noch geblieben sind. Und man hätte sie bei meiner Familie beerdigen sollen und nicht irgendwo draußen auf dem Land in ein Armengrab werfen. Und deshalb bringe ich sie nach Hause, um sie anständig zu begraben. So einfach ist das.«
Ren beobachtete, wie der Mann mit den roten Handschuhen sein Gewicht im Sattel verlagerte. Er kaute auf einem Stück Tabak herum und wickelte ein ums andere Mal die Zügel um seine Finger.
»Uns interessiert nicht, wer sie sind und wo Ihr sie herhabt«, sagte der Mann ruhig. »Aber Ihr werdet keinen Meter weiter mit ihnen fahren.«
Benjamin behielt die Hände oben und zuckte die Achseln. Dann beugte er sich plötzlich vor und ließ die Peitsche in seiner Hand kräftig knallen. »Ha!« – und die Stute durchbrach die Mauer der Reiter.
»Festhalten!«, schrie Tom.
Der Wagen holperte die Straße entlang, und als sie in ein Schlagloch knallten, wurde Ren beinahe hinausgeschleudert. Er hielt sich seitlich an dem dahinrasenden Karren fest. Wieder gerieten sie in eine tiefe Fahrrinne, und Brom und Ichy wurden nahe an den Rand geschleudert. Ren packte Brom am Hemd, verrenkte sich die Finger, stemmte sich mit angewinkeltem Arm gegen sein Gewicht. Tom streckte ein Bein aus und fing Ichy, kurz bevor er hinten hinausrutschte, mit dem Fuß auf.
Benjamin war aufgestanden. Wieder und wieder ließ er die Peitsche knallen. Die Reiter hatten sich von dem Schreck erholt und verfolgten sie. Ren drehte sich um und sah durch den aufgewirbelten Staub, wie sie ihren Pferden die Sporen gaben. Ein Ast schlug Ren seitlich ins Gesicht, und das Rattern des Karrens und das Hufgetrappel dröhnten in seinen Ohren. Zwei der Männer hielten Pistolen in der Hand. Im Nu waren sie neben dem Wagen. Sprengten nach vorn, fielen dann wieder zurück, als die Straße schmaler wurde.
Tom griff nach einem der Säcke. Er nickte Ren zu, und gemeinsam zogen sie ihn ans Ende des Wagens. Es war schwierig, den Sack zu halten. Ren schmeckte Staub hinten im Rachen. Tom stieß den Toten aus dem Wagen, und Ren sah, wie er dem Wachmann vor die Füße fiel. Sein Pferd strauchelte, und er wurde abgeworfen.
Sie ergriffen den nächsten Sack und zerrten ihn nach hinten. Da knallte ein Schuss über ihre Köpfe hinweg. Tom duckte sich und trat den Sack mit den Füßen weiter. Er rutschte über die Kante, doch diesmal gaben die Männer ihren Pferden die Sporen, als er zu Boden plumpste, und sprangen darüber hinweg.
Mit ratternden Rädern bog der Wagen um eine Kurve, so dass Brom und Ichy quer über die Bretter rutschten. Sie landeten neben Ren und klammerten sich an ihn; ihre Handflächen waren glitschig vor Schweiß, ihre Fingernägel schrammten seine Haut auf.
Zwei Reiter lösten sich aus der Gruppe und sprengten in den Wald. Wenige Augenblicke später tauchten sie auf der Straße vor ihnen auf. Einer war der Mann mit den roten Handschuhen, der andere der mit dem Strohhut. Nun waren sie auf Höhe des Kutschbocks, nahe genug, um Benjamin berühren zu können, wenn sie wollten. Sie hoben ihre Gewehre.
»Pass auf.«, schrie Ren.
Sie schossen auf das Pferd. Ein Schuss, ein zweiter in den Hals des Tieres und dann ein dritter durchs Bein. Die Stute schwankte nach links und nach rechts, taumelte, versuchte sich zu fangen, stürzte schließlich. Der Wagen rollte über sie hinweg, die Deichselstangen bohrten sich in den Boden und brachen ab, Ren sah Benjamin herunterfallen, und dann kippte der Wagen um, überschlug sich, und es war, als bräche der Erdboden unter ihnen ein, und sie würden in einen Abgrund fallen, und dann schlug Ren mit dem Gesicht irgendwo auf und spürte ein schweres Gewicht auf dem Rücken.
In der Stille, die folgte, hatte Ren das Gefühl, dass die Bäume ihn holen wollten. Er konnte sie unter ihrer Rinde ächzend sprechen hören. Ihre Zweige griffen nach ihm. Er versuchte die anderen zu warnen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Dann spürte er, dass er getragen wurde, und bei jeder Bewegung kam es ihm vor, als würde er von Stiefeln zermalmt.
»Ist er tot?«
Noch mehr Stiefel. Stiefel mit Krallen. Ren wollte um Hilfe rufen. Er spürte einen winzigen Lufthauch nach unten dringen. Er sog ihn ein, und dann folgte noch ein kleiner Atemzug und noch einer. Seine Brust brannte wie Feuer.
Sie waren in einem Sumpf gelandet. Der Wagen war umgekippt und zur Hälfte eingesunken, so dass die geborstenen Räder tropfend aus dem Dreck ragten. Daneben standen Brom und Ichy. Der Mann mit der Wachmannmütze hatte eine Pistole auf sie gerichtet. Tom lag unter dem Wagen; man sah gerade noch die untere Hälfte seines Mantels und hörte seine erstickten Schreie. Die Melone und der Strohhut gruben ihn aus.
Der Mann mit dem Zylinder trug Ren auf dem Arm. Die Hutkrempe war breit, der Rand aus Satin, und an einer Stelle hatte er einen dunkelroten Fleck. Ebendiesen Hut hatte der Mann getragen, den Dolly getötet hatte. Da war Ren ganz sicher. Aber der Mann, der ihn jetzt aufhatte, war älter, hatte ein Erwachsenengesicht mit einem Bart.
»Pilot«, sagte der neue Zylinder. »Ich habe noch einen gefunden.«
Der Mann mit den roten Handschuhen beäugte Ren aus einiger Entfernung.
»Bring ihn zu den anderen.«
Die Stute lebte noch. Durch ihre Nüstern blies sie die Luft in harten Stößen aus. Sie blinzelte heftig, als wollte sie einen Schwarm Fliegen verscheuchen. Ren musste an den Farmer denken, der sie auf die Nase geküsst hatte, und bekam heftige Schuldgefühle. Pilot lud sein Gewehr nach. Als er damit fertig war, ließ er es zuschnappen, setzte den Lauf an den Kopf des Pferdes, knapp unterm Ohr, und drückte ab. Der Knall hallte über das Sumpfland.
»Eigentlich hätte es dich treffen sollen«, sagte Pilot, und erst jetzt bemerkte Ren Benjamin, der zusammengerollt am Boden lag. Sein blauer Mantel war zerrissen, die Haut über dem Auge aufgeplatzt, und seine rechte Wange schwoll bereits an.
Unter dem Wagen ertönte ein Schrei. Das war Tom. Er verfluchte die Männer, die ihn ausgruben. Dann begann er zu heulen und zu brüllen; seine Schreie hallten über das Sumpfland. Der Mann mit der Melone kam zurück.
»Sein Bein ist gebrochen.«
»Sag ihm, er soll still sein«, sagte Pilot.
Der Zylinder durchsuchte Rens Taschen und nahm ihm das Bärenmesser ab. Dann trug er ihn zu den Zwillingen hinüber und setzte ihn zwischen den beiden auf dem Boden ab. Die Jungen waren von Kopf bis Fuß voller Schlamm. Kleider wie Gesichter waren schmutzig braun. Zum allerersten Mal konnte Ren sie nicht voneinander unterscheiden.
»Ich habe Wasser in den Ohren.«
»Bringen sie uns jetzt um?«
Ren versuchte zu antworten, aber seine Rippen taten ihm weh. Er sah Benjamin mit Pilot reden. Er wusste, dass es schon eine grandiose Geschichte sein musste, wenn sie da wieder rauskommen wollten. Er stellte sich vor, Benjamins Worte kämen eins nach dem anderen angeflogen wie die Perlen eines Rosenkranzes, und mit diesem Bild im Kopf begann er zu beten. Mit jeder Wiederholung gewann das Gebet an Kraft und Intensität, bis der Zyklus vollendet war.
Nun setzte Benjamin seine Hände ein und untermalte Teile seiner Erzählung mit Gesten. Pilot hörte aufmerksam zu und nickte, dann hob er den Gewehrkolben und schlug ihn Benjamin ins Gesicht. Blut strömte aus Benjamins Nase. Pilot trat einen Schritt zurück, damit sein Mantel keine Flecken bekam. Dann sagte er etwas zur Melone und dem Zylinder, und die beiden Männer traten vor und prügelten auf Benjamin ein, bis er zu Boden sackte; er versuchte seinen Kopf mit den Händen zu schützen und flehte sie an, von ihm abzulassen. Ren schloss die Augen. Er hielt sich die Ohren zu. Die Schreie gingen weiter, während die toten Leiber aufgesammelt und die Pferde neu verteilt wurden und man Tom unter dem Wagen hervorzog. Sie hielten an, hallten markerschütternd durch den Wald, bis Ren mit all seinen Gebeten am Ende war.