Kapitel 31

Ren legte Holz nach. Bald schon knackte das Feuer und wärmte den Raum. Dolly zog seine Stiefel und sein Gewand aus und hängte es zum Trocknen auf. Dann setzte er sich in seiner langen Unterwäsche auf die Bank und erklärte, er habe Hunger. Ren gab ihm die Brotkanten, die noch übrig waren, dann durchforstete er die Küche und entdeckte zwei kleine angebissene Apfel. Einen gab er Dolly, setzte sich dann neben ihn, und zusammen sahen sie zu, wie die Mönchskutte trocknete.

Sie war in einem erbärmlichen Zustand, am Saum an mehreren Stellen eingerissen, die Ärmel völlig verschmutzt. Die Nähte an den Schultern gingen allmählich auf, und die Vorderseite war voller Blutspritzer. Es war nur ein Kostüm, das einmal im Jahr an Weihnachten getragen wurde. Dass man es länger anhatte, war nicht vorgesehen.

Durch die Decke tropfte es noch immer in die Eimer und Töpfe auf dem Boden. Ren lauschte dem Platschen von Wasser auf Wasser und sah Dolly beim Essen zu. Dollys Kinn war klebrig vom saftigen Apfel. Zwischen den Knöpfen seines Unterhemds ringelte sich sein Brusthaar. Seine Stirn legte sich in Falten, während er kaute, die Augen öffneten sich etwas weiter, doch insgesamt wirkte sein Gesicht friedlich. Er aß bedächtig und schleckte sich die Finger ab. Als er seinen Apfel aufgegessen hatte, gab Ren ihm den anderen und erkundigte sich, wie er es geschafft hatte, wieder zurückzukommen.

»Ich bin der Straße nachgegangen«, sagte Dolly. »Im Dreck waren Spuren. Und ich hab den Wagen gefunden. Und das Pferd.«

Die Stute, die, halb im Morast versunken, zurückgeblieben war, hatte Ren ganz vergessen – die vor Schreck geweiteten Augen, die letzte, tödliche Kugel. Er fragte sich, was sie wohl gedacht haben mochte, als sie da lag und starb. Und ob sie sich überhaupt noch an den Farmer erinnerte, der sie so gern gehabt hatte.

Die Blutergüsse an Dollys Hals waren verheilt. Man sah nur noch leichte Narben, dort, wo der Strick die Haut aufgescheuert hatte. Ren musste an die erste Nacht denken, die sie gemeinsam verbracht hatten, unmittelbar nachdem sie Dolly ausgegraben hatten. Als Benjamin den toten Mann hinten auf dem Wagen aus dem Sack geschält hatte, war es fast, als hätte er Dolly heraufbeschworen. Als hätte er ihn durch bloße Willenskraft dazu gebracht zu leben.

Dolly musste so heftig niesen, dass es bis auf Rens Wange sprühte. Ren suchte die Küche ab, bis er einen sauberen Lappen fand, wischte sich damit das Gesicht ab und reichte ihn seinem Freund. Wir müssen zusehen, dass wir morgen von hier wegkommen, dachte Ren, aus dem Haus und über die Brücke und weit weg von North Umbrage. Zusammen mit Dolly würde er es bestimmt schaffen. Er sah sich in der verwüsteten Küche um. Hier gab es kaum noch etwas, was sich zu retten lohnte. Trotzdem sagte er zu Dolly, er solle anfangen zu packen.

Dolly schnäuzte sich. »Und was ist mit den anderen?«

»Die sind ohne uns besser dran.« Ren wartete einen Moment lang, um sich darüber klar zu werden, ob das stimmte. Er wusste, dass Brom und Ichy ihn hassen würden, wenn er sie verließ. Aber Tom war fest entschlossen zu bleiben, und außerdem musste er sein Bein schonen. Inzwischen konnte Ren sicher sein, dass sich die Zwillinge um ihn kümmern würden. Und Tom würde sich um sie kümmern.

Ren stand auf und begann einzusammeln, was ging. Sie würden früh aufbrechen müssen, ehe die anderen aufwachten. Er hob zwei Decken vom Boden auf, rollte sie zusammen und steckte sie in eine Tasche. Dazu eine Bratpfanne und einen Topf Schmalz. Neben dem umgekippten Kartoffelkorb entdeckte er ein paar übersehene kleine Knollen und packte auch die ein.

»Wohin gehen wir?«, fragte Dolly.

»Das weiß ich noch nicht«, sagte Ren. »Irgendwohin, wo uns keiner kennt.«

»Ich wollte immer nach Mexiko.«

Einen Moment lang fragte sich Ren, ob auch Benjamin dorthin verschwunden war. »Das könnten wir machen.«

»Oder nach Kalifornien.«

Diese unbekannten Landschaften erstreckten sich vor Rens innerem Auge wie endlose Wüsten, nichts als Horizont, so weit das Auge reichte. Glühende Sonne und weite Prärie und sanfte rötliche Berge, die zu Staub verwitterten.

Ren half Dolly vom Boden auf und stellte den Kartoffelkorb wieder hin. Dann wanderte er durch das Chaos, das die Mausefallenmädchen hinterlassen hatten, und überlegte, was sie sonst noch mitnehmen konnten. Überall standen Berge von schmutzigem Geschirr, mit angetrockneten, klebrigen Essensresten; es stapelte sich auf der Anrichte, türmte sich auf den Borden und lag verstreut auf dem Boden. Zerbrochene Teetassen und verbogene Gabeln, Schüsseln mit Sprüngen und Teller, an deren Rändern sich der Schimmel ausbreitete.

In der Speisekammer, versteckt hinter einem aufgerissenen Mehlsack, entdeckte Ren ein kleines Glas Essiggurken und steckte es ebenfalls in die Tasche. Er ging an dem Besen vorbei, mit dem Mrs. Sands auf sie eingeschlagen hatte. Und an dem Sticktuch mit dem Vaterunser, das über dem Kaminsims hing. Und an einem Spiegel, dessen Rahmen zwei geschnitzte Vögel zierten.

Ren nahm nur mit, was er tragen konnte. In seiner Jacke steckten außer dem Kragenstück mit seinem Namen der Stein, den Ichy ihm damals in Saint Anthony geschenkt hatte, die falschen Skalps seiner Eltern und McGintys goldene Taschenuhr. In die Tasche packte er außerdem das gestohlene Exemplar des Hirschtöters, das hölzerne Pferd des Zwergs und das Nachtgewand, das Mrs. Sands ihm am ersten Abend übergestülpt hatte.

Ren machte sich auf die Suche nach Tinte und Papier. Als er sich hinsetzte, musste er an den Brief denken, den er vor langer Zeit den Zwillingen geschrieben hatte. Er hatte sich so sehr gewünscht, sie möchten glauben, dass er glücklich ist. Jetzt wollte er nur noch, dass sie ihm verziehen. »Lieber Brom und lieber Ichy«, schrieb er, dann hielt er inne. Er drehte das Blatt um und fing noch mal von vorn an.


Liebe Mrs. Sands,

ich wollte nicht weggehen, ohne Euch Lebewohl zu sagen. Ich habe das Geld genau an der Stelle gefunden, die Ihr mir beschrieben habt. Und ich versichere Euch, dass ich tun werde, was ich versprochen habe.

Jetzt sind zwei Jungen da. Sie heißen Brom und Ichy. Ich hoffe, Ihr werdet Euch ebenso um sie kümmern, wie Ihr Euch um mich gekümmert habt. Sie sind sauber und anständig, obwohl sie Zwillinge sind.

Herzliche Grüße,

Ren.

P S.: Das mit dem Geschirr tut mir leid.

Ren faltete das Blatt Papier zweimal zusammen, dann saß er da und wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Schließlich stieg er die Treppe hinauf und legte es auf Mrs. Sands’ Bett. Auf dem Weg nach unten kam er an seinem alten Zimmer vorbei. Er konnte hören, wie Tom sich im Schlaf umdrehte, und er hörte Ichy beim Ein- und Ausatmen leise schnauben. Brom gab kein Geräusch von sich, auch nicht als Ren auf der Treppe stehen blieb, weil er auf etwas hoffte, was ihm in Erinnerung bleiben würde.

Unten in der Küche steckte Dolly wieder in seiner Mönchskutte. »Sie ist trocken«, sagte er. »Fühl mal.«

Ren berührte den groben braunen Stoff. »Wir müssen dir was Hübscheres zum Anziehen besorgen.«

Das Feuer war niedergebrannt. Ren breitete eine Decke auf dem Boden aus. Er stopfte Geschirrtücher in seine Stiefel, wickelte sich eine zweite Decke um die Schultern und rollte sich zu einer Kugel zusammen, genauso wie er es vor langer Zeit bei Benjamin gesehen hatte, als sie sich in der Scheune des Farmers schlafen gelegt hatten. Dolly saß neben Ren und streckte die Füße vor den Kamin. Nacht umfing sie, und die Feuerstelle kühlte allmählich aus.

»Ich habe beschlossen, ihn nicht umzubringen«, sagte Dolly.

»Wen?«

»Den Mann, für den sie mich bezahlt haben.«

Ren spürte seinen Atem unter der Decke. Wie es schien, war alles, was er je getan hatte, auf diesen Augenblick ausgerichtet gewesen. »Und wieso?«

»Weil du gesagt hast, ich soll es nicht tun.«

Die Worte schwebten durch die Dunkelheit; Ren rückte näher an Dolly heran und lehnte sich an dessen Bein. Zusammen lauschten sie dem nachlassenden Regen, der schließlich ganz aufhörte, den Töpfen und Pfannen ringsum auf dem Boden, in denen es still wurde. Draußen ging das Schwarz des Himmels in Blau über. Die ersten Vögel sangen. Und die Nacht war vorüber.

Ren hob den Kopf. Zuerst dachte er, dass eine Maus in die Falle gegangen war und mit den Krallen am Holz scharrte. Aber dafür war das Quieken zu laut, und außerdem kam es vom Hintereingang.

»Was ist das?«, fragte Dolly.

»Keine Ahnung.« Ren warf die Decke zur Seite und schlich sich nach hinten. Jetzt hörte er jemanden schlurfen, dann das leise Scheppern von Metall an der Hintertür. Ren schaute gebannt auf den Türknauf. Etwas klimperte, und aus dem Schlüsselloch fiel eine kleine Hufschmiedfeile und klirrte auf die Steinplatten.

Ren lief zurück in die Küche, machte die Tür hinter sich zu und stemmte sich dagegen. Dolly stand neben der Feuerstelle, die Hände bereit zum Zupacken. »Das Fenster!«, flüsterte Ren. Er nahm die gepackte Tasche an sich. Er kletterte auf die Anrichte und drückte sich an die kalte Fensterscheibe. Dahinter sah er ein paar Hutmänner, die sich um die Hintertür drängten, und jetzt öffneten sie die Tür und drangen in die Pension ein.

Ren suchte verzweifelt nach den Fensterriegeln – zwei kleinen Metallhaken – und zerrte daran. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Scheibe, und dann spürte er Luft, herrliche kalte Luft auf seiner Hand und im Gesicht.

Jemand packte ihn an den Beinen und riss ihn wieder zurück. Er trat um sich, aber der Zylinder hielt ihn fest. Drei andere Hutmänner übernahmen Dolly. Sie schlangen ihm Stricke um Arme und Hals und versuchten ihn zu Boden zu ringen. Einen hatte Dolly an der Kehle gepackt, und die anderen zwei schlugen mit Stecken auf ihn ein und warfen sich mit aller Wucht auf ihn. Dann trat Pilot durch die Tür.

Er klatschte in die Hände, als wollte er Beifall spenden, und Dolly und Ren waren so perplex, dass sie aufhörten, sich zu wehren. Mit seinen unverhältnismäßig langen Armen sah der Mann nach wie vor aus wie eine Vogelscheuche, und mit einem davon fegte er über den Küchentisch, so dass sämtliche Teller und Abfälle und Schüsseln mit Essensresten auf den Boden flogen. »Setzt ihn da rauf.«

Der Zylinder trat vor und warf Ren auf den Tisch.

Pilot beugte sich über den Jungen. »Du hast deinen Onkel sehr enttäuscht. Und das, nachdem er dir so viel geschenkt hat.«

»Ich wollte nichts davon«, sagte Ren.

Pilot zog einen Rupfensack unter seinem Mantel hervor; genau die gleichen hatten Benjamin und Tom auf dem Friedhof verwendet. »Wie auch immer, er ist noch nicht fertig mit dir.«

Er gab den Sack dem Mann mit der Melone, und der steckte Rens Beine hinein. Ren setzte sich gegen die Männer zur Wehr, bis seine Arme ganz verdreht und taub waren. Jetzt reichte ihm der Sack bis zur Taille. Die Melone und der Zylinder packten ihn an den Schultern. Sie stopften seinen restlichen Körper hinein und zogen ihm den Sack über den Kopf.

Auf einmal krachte es gewaltig am anderen Ende des Raums, als würde das ganze Haus vom Keller bis zur Mansarde hochgehoben und hin und her geschüttelt. Der Küchentisch neigte sich zur Seite, schwankte kurz auf zwei Beinen, ehe er zu Boden donnerte, und Ren fiel ebenfalls herunter, auf einen Haufen Kleider – oder war es ein Körper? –, hörte dann jemanden fluchen – es war wirklich ein Körper –, roch den Atem des Mannes unter sich. Jemand hielt den Sack fest, und Ren riss ihn mit den Fingern – die spürte er noch – auf, um sich zu befreien.

Dolly zog ihn vom Boden hoch. Im Nu hatte er ihn aus dem Sack befreit. Ren sah Pilot am Türpfosten lehnen, den Mund voller Blut; sein rechter Arm baumelte von der Schulter herab, mit dem linken versuchte er mühsam, eine Pistole aus dem Mantel zu ziehen. Der Strohhut war tot. Die Melone und der Wachmann lagen verrenkt am Boden. Dolly schleuderte den leeren Sack auf den letzten Mann, der noch aufrecht stand – den Zylinder, der jetzt einen Stuhl über seinem Kopf schwang –, dann schob er Ren zum Kamin.

»Rauf mit dir«, sagte er. »Schau, dass du wegkommst.«

Der Zylinder schleuderte den Stuhl. Er zerbrach an Dollys Rücken, während dieser sich umdrehte, um Ren mit seinem Körper zu schützen. »Jetzt«, sagte Dolly, gab Ren noch einen Schubs, und dann packte er den Schürhaken und knallte ihn dem Zylinder ins Gesicht, bis Blut über seine Hände strömte.

Ren stemmte einen Fuß gegen die Rückwand der Feuerstelle. Über die Schulter hinweg sah er Pilot mit der Pistole in der Hand. Er wusste, dass er sich in Bewegung setzen musste, fand aber keinen Halt im Kamin, weil seine Füße an den Ziegeln abrutschten. Und dann war Dolly direkt unter ihm, hob ihn hoch und schob ihn in den Schornstein hinauf, schob mit aller Kraft, und der Ruß rieselte auf sie beide hinunter. Dolly hatte Rens Fuß in der Hand, und an diesem Fuß stemmte er ihn hoch, und Ren erwischte einen Mauervorsprung, an dem er sich festhalten konnte, und zog sich hinauf, zwei Zentimeter, dann noch zwei, bis sein Gewicht sich von Dollys Hand löste.

Die Ziegel ringsum waren noch warm, der Staub brannte ihm in den Augen. Der Kamin war so eng, dass er kaum hinunterschauen konnte. Doch immerhin schaffte er es, das Kinn so weit an die Brust zu ziehen, dass er seinen Freund unten am Boden sehen konnte, der durch die Dunkelheit zu ihm hinaufschaute.

Und dann gab es eine Explosion. Die Wände vibrierten von dem Knall. Und dann kam noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Ren spürte, wie alle Luft aus seinem Körper entwich, nach oben in die Nacht stieg wie Rauch, und dann, ebenso rasch, als ein kalter Luftstoß zurückkehrte, der seine Finger gefühllos werden und ihn bis in die Knochen frösteln ließ und seinen Körper daran erinnerte, dass er nur ein Körper war und auf vielerlei Art sterben konnte, und die erste bestand darin, den Schornstein hinunterzufallen, und die zweite, erschossen zu werden.

Er stemmte die Füße gegen die bröckelnden Mauern und hielt sich fest. Seine Hand war schweißnass und rutschte ab. Ren kletterte, fiel, kletterte wieder. Und dann wurde von oben ein Seil heruntergelassen, und er hielt sich daran fest und drückte sich mit den Beinen von den Wänden ab, und sein Körper wurde durch den Rauchfang nach oben gezogen, während ihm Staub und Ruß ins Gesicht rieselten. Er krallte die Finger um einen Knoten im Seil, und dann war er oben, spürte den Wind auf seinem Gesicht, und der Zwerg packte ihn an den Schultern und zog ihn hinaus aufs Dach.

Ren wirbelte herum, umklammerte den Rand des Kamins und spähte hinunter in das gähnende Loch. »Dolly!«, schrie er. »Dolly!« Er wartete auf eine Antwort. Aber das einzige Geräusch, das zurückkam, war der Wind, der mit leisem, hohlem Gewinsel über den Rand des Schornsteins streifte.

»Er ist auf dem Dach!«, rief einer der Männer von unten. Ren zog den Kopf zurück, und der Zwerg trat neben ihn. Seine Haare waren zerzaust. Die Knöpfe an seiner winzigen Jacke offen.

»In einer Minute sind sie hier oben.« Der Zwerg lief ans Ende des Dachs, kletterte auf den hochstehenden Sims und sprang. Ren schrie auf. Auf allen vieren kroch er hastig zu dem Sims hinüber. Dort angelangt, stellte er fest, dass der kleine Mann etwa drei Meter weiter unten auf dem Dach des Nachbarhauses gelandet war. Der Zwerg legte den Kopf schief und winkte ihm. »Los, komm schon!«

Ren konnte die Hutmänner hinter sich hören. Sie hatten eine Leiter entdeckt, die jetzt an der Seitenwand der Pension entlangschrappte. Er schloss die Augen. Und dann sprang er.

Die angrenzenden Häuser waren aneinandergebaut, ihre Dächer nur durch hochgezogene Steinmauern voneinander getrennt. Der Zwerg sauste darüber hinweg, und Ren lief hinterher. Mehrere Männer folgten ihnen unten auf der Straße, und zwei weitere hatten inzwischen das Dach der Pension erreicht. Der kleine Mann witschte hinter Kamine und an Dachluken vorbei und kletterte über Giebel. Ren konnte ihm nur mit Mühe folgen, da der Wind über die Kanten fegte und die Dachziegel vom Regen glitschig waren. Er verlor den Halt und schlitterte auf den Knien weiter. Gerade noch rechtzeitig bekam er ein Abflussrohr zu fassen, das ihn davor bewahrte hinunterzufallen.

Das nächste Dach war etwa fünf Meter weit entfernt, und dazwischen ging es drei Stockwerke in die Tiefe. Der Zwerg zog ein langes Brett unter einer Plane hervor. Er legte es über die Lücke zwischen den beiden Häusern und huschte hinüber. Auf der anderen Seite hielt er es fest, so dass es nicht wackelte. »Beeil dich.«

Ren setzte einen Fuß auf das Brett und dann den anderen, tastete sich mit seitlich ausgestreckten Armen vorsichtig voran, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und gab sich Mühe, nicht nach unten zu schauen. Er hörte die Männer hinter sich auf dem Dach näher kommen und die von unten heraufrufen. Fluchend trieb ihn der Zwerg zur Eile an. »Sie kommen!« Rens Beine begannen zu zittern, und er ging in die Knie und umklammerte das Brett mit der Hand. Auf der Straße feuerte jemand einen Schuss ab, das Brett neigte sich zur Seite, Holzsplitter spritzten in die Luft. Der Zwerg streckte die Hand aus, Ren ergriff sie, und einen Moment lang baumelte er über der Straße, und dann war er drüben, und der Zwerg zog das Brett in dem Augenblick weg, als die Männer von der anderen Seite darübergehen wollten.

Einer verlor den Halt und wäre um ein Haar über die Dachkante gefallen. Der andere hielt ihn fest, und beide zogen dann ihre Pistolen. Im nächsten Moment regneten Glasscherben und Metallsplitter auf Ren und den Zwerg. Ein getroffener Wetterhahn begann zu kreiseln. Ein Stück vor ihnen tauchte noch ein Trupp Hutmänner auf. Sie waren ein Stück die Straße hinuntergelaufen, um ihnen den Weg abzuschneiden, durch ein Fenster aufs Dach geklettert und kamen ihnen jetzt entgegen; den anderen bedeuteten sie durch Winken, das Feuer einzustellen.

»Da rein«, sagte der Zwerg. »Beeil dich.« Er schlüpfte hinter einen Stapel Dachplatten und lief auf einen Schornstein zu. Blitzschnell kletterte er das Mauerwerk hinauf und über den Rand. Er schaute sich noch einmal nach Ren um, winkte ihm und verschwand im Schornstein.

Ren stieg eilig hinterher. Er hob ein Bein über die Schornsteinkante, dann das zweite, suchte innen mit den Füßen nach Halt. Die Männer kamen näher. Er sah Arme auf sich zukommen und ließ sich hinunter, schürfte sich dabei rechts und links an den Steinen auf.

Nach knapp einem halben Meter im Dunkeln verengte sich der Kamin. Ren kam nicht weiter. »Hilf mir!«, rief er. Er spürte, wie der kleine Mann seine Stiefel packte und zog. Ren wand sich und versuchte sich mit den Ellbogen weiter nach unten zu schieben. Aber er steckte fest. Halb drinnen, halb draußen, und dann streckte einer der Hutmänner die Hand zu ihm hinunter und bekam seine Haare zu fassen, und ein anderer packte ihn an der Jacke und zog ihn wieder hinauf ins Licht des frühen Morgens; seine Schuhe blieben in den Händen des Zwergs zurück.

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