Kapitel I

Der Mann erschien nach der Morgenandacht. Rasch verbreitete sich die Kunde, dass jemand gekommen war, und die Jungen von Saint Anthony knufften einander und wollten unbedingt einen kurzen Blick auf ihn werfen, als er sein Pferd ausspannte und es zum Wassertrog führte. Das Gesicht des Mannes war kaum zu erkennen, denn er hatte den Hut so tief ins Gesicht gezogen, dass die Krempe beinahe seine Nase berührte. Er schlang die Zügel um einen Pfosten und blieb neben dem Pferd stehen, tätschelte seinen Hals und sah ihm beim Trinken zu. Der Mann wartete, und die Jungen beobachteten ihn, und als die Stute endlich den Kopf hob, sahen sie, wie er sich vorbeugte, ihr über die Nase strich und ihr einen Kuss gab. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über die Lippen, nahm den Hut ab und ging quer über den Hof zum Klostergebäude.

Es kamen oft Männer, um Kinder zu holen. Manchmal als billige Arbeitskräfte, manchmal, weil sie etwas Gutes tun wollten. Dann ließen die Ordensbrüder von Saint Anthony die Waisenknaben in einer Reihe antreten, und die Männer schritten sie ab und taxierten die Jungen. Folgte man ihren Blicken, war leicht zu erraten, wonach sie suchten. Meist waren es Jungen um die vierzehn – die größten, die aufgewecktesten, die kräftigsten. Dann wanderte ihr Blick hinunter zu denen, die noch kaum krabbeln konnten, und zu den tollpatschigen Zweijährigen – den noch Unverdorbenen und Unbefangenen. Übrig blieben die dazwischen – jene, die ihren Babyspeck und ihre Löckchen verloren hatten, aber noch nicht alt genug waren, um eine Hilfe zu sein. Diese Kinder wirkten zumeist verdrossen und hatten wenig mehr zu bieten als Läuse und üblen Milbenbefall. Ren war einer von ihnen.

Er hatte keine Erinnerung daran, wie es angefangen hatte – weder an Mutter oder Vater, noch an eine Schwester oder einen Bruder. Sein Leben, das war hier, in Saint Anthony, und die Erinnerung setzte irgendwann mittendrin ein – mit dem Geruch von frisch gewaschenen Bettlaken und Seifenlauge, dem Geschmack wässriger Hafergrütze, dem Wissen, wie es sich anfühlte, wenn man einen Ziegel auf einen Stein fallen ließ und zusah, wie die roten Splitter absprangen, dann mit einer dieser bröseligen Ziegelscherben eine Wand im Kloster bekritzelte, dafür eine Ohrfeige kassierte und die staubige Schrift mit einem feuchten, kalten Lappen abwaschen musste.

Jemand hatte Rens Namen in den Kragen seines Nachthemds gestickt. Drei Buchstaben aus dunkelblauem Garn. Das Hemdchen war aus gutem Leinen, und er hatte es getragen, bis er fast zwei war. Danach nahm man es ihm weg und gab es einem kleineren Jungen zum Anziehen. Ren lernte, diesen Edward im Auge zu behalten, nach ihm James, danach Nicholas, und sie im Hof in die Enge zu treiben. Dann drückte er das zappelnde Kind auf den Boden, musterte die verblassenden Buchstaben und fragte sich, welche Hand sie wohl eingestickt haben mochte. Das R und das E waren in kühnem Blattstich gearbeitet, das N hingegen war schmaler, nach rechts geneigt, als hätte die Person, die die Nadel führte, es eilig gehabt, die Arbeit zu beenden. Als das Hemd fadenscheinig wurde, zerschnitt man es zu Verbandsstreifen. Bruder Joseph gab Ren das Kragenstück mit den aufgestickten Buchstaben, und er bewahrte es nachts unter seinem Kopfkissen auf.

Jetzt beobachtete Ren den Besucher, der auf den Stufen zur Priorei wartete. Der Mann drehte den Hut in seinen Händen hin und her und hinterließ dabei dunkle Abdrücke auf dem Filz. Die Tür ging auf, und er trat ein. Ein paar Minuten später kam Bruder Joseph heraus, um die Kinder zusammenzurufen, und sagte: »Geht zur Statue.«

Die Statue des heiligen Antonius stand in der Mitte des Hofs. Sie war aus Marmor gemeißelt und trug die Kutte der Franziskanermönche. Oben auf dem Scheitel war der Heilige kahl, und seine Stirn war umkränzt von einem Heiligenschein. In einer Hand hielt er eine Lilie und in der anderen ein kleines Kind mit einer Krone. Das Kind streckte die eine Hand demütig bittend aus und berührte mit der anderen die Wange des Heiligen. Es gab Zeiten, etwa wenn sich die Sonne am Nachmittag zurückzog und Schatten auf den Steinen tanzten, da sah die Berührung eher nach einem Klaps aus. Dieses Kind war Jesus Christus und der eindeutige Beweis dafür, dass der heilige Antonius Botschaften an Gott zu übermitteln vermochte. Wenn in der Küche ein Laib Brot fehlte oder Pater John die Schlüssel zur Kapelle nicht finden konnte, wurden die Kinder zu der Statue geschickt. »Heiliger Antonius, lass uns finden alle Sachen, die verschwinden.«

Katholiken gab es wenige in diesem Teil Neuenglands. Ein ortsansässiger Ire, der ein Vermögen damit gemacht hatte, dass er aus billigen Trauben kräftigen Portwein presste, hatte in dem verzweifelten Bestreben, in den Himmel zu kommen, seinen Weinberg kurz vor seinem Tod der Kirche vermacht. Die Brüder des heiligen Antonius wurden hingeschickt, um den Grund und Boden zu übernehmen und darauf ein Kloster zu errichten. Sie fanden sich umgeben von Protestanten, die im ersten Monat nach ihrer Ankunft die Scheune niederbrannten, den Brunnen verseuchten und nach Einbruch der Dunkelheit zwei Klosterbrüder auf der Straße abfingen und sie geteert und gefedert nach Hause schickten.

Nachdem die Brüder um geistigen Beistand gebetet hatten, wandten sie sich der Weinpresse des Iren zu, die sich auf dem Anwesen befand und noch funktionstüchtig war. Sie ließen sich Weinstöcke aus Italien schicken, und nach einigem Herumprobieren hatten sie die geeigneten Sorten für den steinigen Neuengland-Boden gefunden. Es dauerte nicht lang, und die Mönche von Saint Anthony waren bekannt für ihren hervorragenden Wein, den sie in alten Holzfässern reifen ließen und für ihre Gottesdienste am Morgen und am Abend verwendeten. Der ungeweihte Wein wurde an die Schenken im Umkreis verkauft und auch an den einen oder anderen Grundbesitzer, der seine Dienstboten bei Nacht hinschickte, um die Flaschen abzuholen, weil die Nachbarn nicht sehen sollten, dass man mit den Katholiken Geschäfte machte.

Wenig später wurde das erste Kind dort ausgesetzt. Eines Morgens vor Sonnenaufgang hörte Bruder Joseph jämmerliches Schreien, und als er die Tür öffnete, lag da, in ein schmutziges Kleid eingewickelt, ein Säugling. Das zweite Kind wurde in einem Eimer in der Nähe des Brunnens abgestellt. Das dritte in einem Korb neben dem Außenabort. Die Mädchen wurden alle paar Monate von den Barmherzigen Schwestern abgeholt, die in einem Krankenhaus in einiger Entfernung arbeiteten. Was aus ihnen wurde, wusste niemand, aber die Jungen blieben in Saint Anthony, und über kurz oder lang war aus dem Kloster unversehens ein Waisenhaus für die unehelichen Kinder der Stadtbevölkerung geworden, die zuweilen immer noch versuchte, das Kloster bis auf die Grundmauern niederzubrennen.

Um diese Brandanschläge zu vereiteln, errichteten die Brüder eine hohe Backsteinmauer rings um das Anwesen, die wie eine Burgmauer an der Straße entlang den Hang hinabführte. In das Holztor am Eingang schnitten sie unten eine kleine Türklappe, und durch diese winzige Öffnung wurden die Säuglinge hineingeschoben. Ren erfuhr, dass auch er durch diese Klappe geschoben und am nächsten Morgen dreckverschmiert im Garten des Priors gefunden worden war. In der Nacht zuvor hatte es geregnet, und obwohl Ren sich an kein Gewitter erinnern konnte, fragte er sich oft, weshalb man ihn bei schlechtem Wetter ausgesetzt hatte. Und jedes Mal kam er zu dem Ergebnis, dass, wer immer ihn hier abgeliefert hatte, ihn gar nicht schnell genug loswerden konnte.

Die Klappe war so eingehängt, dass sie nur in eine Richtung aufging – nach innen. Wenn Ren mit dem Finger dagegendrückte, spürte er den unnachgiebigen Holzrahmen dahinter. Auf der Kinderseite gab es keinen Handgriff, keine Einkerbung, um sie unten anzuheben. Das Holz war schwer, dick und alt, ein schönes Stück Eiche, vor Jahren aus dem Wald hinter dem Waisenhaus geholt und glatt gehobelt. Ren stellte sich gern vor, dass er einen Gegendruck spürte – eine Mutter, die hereinlangte, die es sich anders überlegt hatte, die verzweifelt umhertastete, ein dünner weißer Arm.

Unter den Augen des heiligen Antonius hampelten die kleineren Jungen herum und rempelten sich an, die älteren räusperten sich nervös. Bruder Joseph schritt die Reihe ab und zupfte ihre Kleidung zurecht oder spuckte auf seine Finger und rieb die Gesichter sauber, stieß mit seinem dicken Bauch die Kinder an, die aus der Reihe tanzten. Jetzt schob er ihn auf einen Sechsjährigen zu, der vor Aufregung plötzlich Nasenbluten bekommen hatte.

»Lass das ja niemanden sehen«, sagte er und schirmte den Jungen mit seinem Körper ab. Über den Hof näherte sich Pater John gemessenen Schrittes, und hinter ihm kam der Mann, der dem Pferd einen Kuss gegeben hatte.

Es war ein Farmer. Vielleicht vierzig Jahre alt. Seine Schultern waren breit, die Hände voller Schwielen, die Haut von der Sonne braun wie Rohleder. Braune Flecken, einem Ausschlag ähnlich, sprenkelten seine Stirn und die Handrücken. Sein Gesicht war nicht unfreundlich, sein Rock sauber, das Hemd weiß und gebügelt, und der Kragen lag eng um den Hals. Eine Frau kümmerte sich um seine Kleidung. Folglich gab es eine Ehefrau. Eine Mutter.

Langsam schritt der Mann die Reihe ab. Er blieb vor zwei blonden Jungen stehen, Brom und Ichy. Die beiden gehörten auch zu denen dazwischen, waren Zwillinge, die man drei Winter nach Ren hier ausgesetzt hatte. Broms Hals war dicker, etwa fünf Zentimeter, und Ichys Füße waren länger, auch etwa fünf Zentimeter, doch abgesehen von diesen Unterscheidungsmerkmalen konnte man die Jungen kaum auseinanderhalten, wenn sie ruhig dastanden. Nur wenn sie draußen auf dem Feld arbeiteten oder mit Steinen auf eine Tanne zielten oder morgens ihre Gesichter wuschen, wurden die Unterschiede deutlich. Brom schüttete sich eine Handvoll Wasser über den Kopf und ließ es dabei bewenden. Ichy faltete sein Taschentuch zweimal zusammen, tunkte es ins Waschbecken und machte sich dann langsam und sorgfältig hinter seinen Ohren ans Werk.

Niemand, so hieß es, würde Brom und Ichy an Kindes statt annehmen, weil sie Zwillinge waren. Einer von ihnen brachte mit Sicherheit Unglück. Die Zweitgeborenen galten für gewöhnlich als Wechselbälger und wurden gleich nach der Geburt ertränkt. Doch niemand wusste, wer zuerst da gewesen war, Brom oder Ichy, daher konnte man unmöglich sagen, welcher von beiden Unglück verhieß. Am besten wäre gewesen, die Brüder hätten sich getrennt, sich bemüht, möglichst unterschiedlich auszusehen. Ren behielt diese Information für sich. Die beiden waren seine einzigen Freunde, und er wollte sie nicht verlieren.

Jetzt standen die Zwillinge beisammen, grinsten den Farmer an, und dann plötzlich schlang Brom die Arme um seinen Bruder und versuchte ihn hochzuheben. Das hatte er schon einmal gemacht, um zwei älteren Herren seine Kraft zu beweisen, und es hatte böse geendet. Ren beobachtete vom anderen Ende der Reihe aus, wie Ichy vor lauter Verblüffung das Einmaleins herunterzurattern begann und sich gleichzeitig so heftig gegen seinen Bruder zur Wehr setzte, dass einer seiner Stiefel davonflog und am Ohr des Farmers vorbeisegelte.

Pater John hatte stets eine kurze Gerte im Ärmel seiner Kutte, und damit bearbeitete er jetzt die Zwillinge, während Bruder Joseph Ichys Stiefel holte und der Farmer weiter die Reihe abschritt. Ren legte beide Arme auf den Rücken und stand still. Als der Mann vor ihm stehen blieb, hielt er die Luft an.

»Wie alt bist du?«

Ren machte den Mund auf, um zu antworten, aber der Mann sprach statt seiner.

»Dem Aussehen nach ungefähr zwölf.«

Ren hätte gern gesagt, dass er jedes Alter annehmen konnte, dass er alles sein konnte, was der Mann wollte, hielt sich aber an das, was ihm die Ordensbrüder eingeschärft hatten, und sagte nichts.

»Ich möchte einen Jungen«, sagte der Farmer, »der alt genug ist, um mir bei der Arbeit zu helfen, und jung genug, um meiner Frau das Gefühl zu geben, dass sie ein Kind hat. Einen, der ehrlich ist und bereit zu lernen. Einen, der wie ein Sohn für uns ist.« Er beugte sich vor und sprach so leise, dass nur Ren ihn hören konnte. »Glaubst du, das bringst du fertig?«

Pater John näherte sich von hinten. »Den wollt Ihr bestimmt nicht.«

Der Farmer wich zurück. Er schien verwirrt und ärgerte sich offenbar über die Einmischung. »Und wieso nicht?«

Pater John deutete auf Rens Arm. »Zeig her.«

Nun beugten sich die anderen Kinder vor. Der Mönch und der Farmer standen da und warteten. Ren bewegte sich nicht, so als könnte er darauf warten, dass dieser Augenblick vorüberging und sich alles änderte. Er schaute an dem Farmer vorbei auf den Ahornbaum gleich hinter der Steinmauer, dessen Laub sich allmählich herbstlich färbte. Bald würden die Blätter eine andere Farbe annehmen, und dann käme der Wind, und der Baum sähe vollkommen anders aus. Pater Johns Hand verschwand im Ärmel seiner Kutte, und schon sauste die Gerte herab und hinterließ einen dünnen roten Striemen, der so heftig brannte, dass Ren sein Geheimnis preisgab.

Ihm fehlte eine Hand. Rens linker Arm hörte einfach auf, mit einem Stück Haut, das ordentlich über den Knochen gestülpt und in Form eines krummen V angenäht war, das Narbengewebe erhaben, aber verheilt. An einigen Stellen war die Haut weiß, und die Stiche sahen aus wie die Beinchen eines Tausendfüßlers, gespreizt, erstarrt und versteinert.

Irgendwann zwischen seinem Eintritt in die Welt und seiner Abschiebung durch die Türklappe von Saint Anthony hatte Ren seine Hand eingebüßt. Er fragte sich, wo sie jetzt sein mochte. Er schloss die Augen und sah sie deutlich vor sich, die Handfläche nach oben, die Finger leicht gekrümmt. Er stellte sie sich hinter einer Abfalltonne vor, in einer hölzernen Schachtel, versteckt im tiefen Gras auf einem Feld. Über ihre Größe dachte er nicht nach. Auch nicht darüber, dass sie ihm nicht mehr passen würde. Ren schaute einfach auf seine rechte Hand und dachte an ihr Gegenstück, das irgendwo auf der Welt geduldig darauf wartete, dass er es zurückholte.

Der Farmer versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch als er sich abwandte und weiterging, sah Ren den unterdrückten Abscheu in seinem Gesicht. Als er sich für einen Jungen am anderen Ende der Reihe entschied, einen Jungen namens William mit roten Haaren und der schlechten Angewohnheit, Fingernägel zu kauen, verhielt er sich so, als wäre das die einzige Entscheidung, die er getroffen hatte.

Ren beobachtete, wie der Farmer seinen neuen Sohn auf den Wagen hob. Der Mann tätschelte Williams Kopf, dann drehte er sich um, zählte ein paar Geldscheine ab und gab sie Pater John, der sie rasch in den Ärmel seiner Kutte schob. Der Farmer kletterte auf den Kutschbock und machte Anstalten loszufahren, ließ aber im letzten Augenblick die Zügel sinken und blickte zurück zur Statue des heiligen Antonius.

»Und was wird aus denen, die keiner nimmt?«

»Sie werden eingezogen«, sagte Pater John. »Vom Militär.«

»Kein leichtes Leben.«

»Es ist Gottes Wille«, sagte Pater John. »Seine Wege sind unergründlich, und wir zweifeln sie nicht an.«

Der Farmer schaute den Mönch an, dann seinen neuen Sohn, der nervös an der Nagelhaut seines Daumens herumkaute. Er löste die Wagenbremse. »Ich schon«, sagte er, trieb mit einem Ruf sein Pferd an und rollte die Straße hinunter.


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