Kapitel 27

Nach und nach erlosch die Glut im Ofen. Ren stopfte sich Papier unter die Jacke, um sich warm zu halten, und legte sich eines der dicken Skizzenbücher über die Schultern, aufgeschlagen bei einer Konstruktion, bei der rasiermesserscharfe Drähte zum Einsatz kamen. Den größten Teil des Abends hatte er zugehört, wie die Mäuse über den Boden huschten, und an all das gedacht, was er erfahren hatte und was ihm jetzt so deutlich vor Augen stand wie Striche zum Zählen der Tage an der Wand.

Er hatte eine Mutter – und die war tot. Er hatte einen Onkel – und der hasste ihn. Jetzt, wo er die Wahrheit kannte, lösten sich alle Geschichten, die er sich im Lauf der Jahre ausgedacht hatte, Geschichten, wie es wäre, eine Familie zu haben, in Luft auf. Er war nicht von königlichem Geblüt. Er stammte nicht aus der Verbindung zwischen einer Nonne und einem Priester. Er war nicht der Sohn eines von Indianern umgebrachten Pioniers. Er war nichts von all dem, was er einst für möglich gehalten hatte.

Sein ganzes Leben lang hatte er darauf gewartet, dass sich dieses Geheimnis enthüllte. Jetzt war es so weit, und es überraschte ihn, dass er sich nicht im Mindesten anders fühlte. Es hatte ihn weder stärker gemacht noch mutiger, noch verhalf es ihm zu innerem Frieden. Er war derselbe Junge, der er immer gewesen war, nur waren seine Chancen jetzt vertan. Er wünschte sich, er könnte die Schritte ungeschehen machen, die ihn hierher geführt hatten, könnte rückwärts den Gang entlanggehen, durch McGintys Büro, quer durch die Fabrikhalle hindurch und dann mit den Fersen voran – und wieder voller Möglichkeiten – auf der Straße stehen.

Ren schob das Buch weiter nach oben. Das Gewicht lastete schwer auf seiner Brust, und seine Gedanken wanderten zurück zu seinen Freunden. Er machte dem lieben Gott Versprechungen: Er wollte zurückgehen und Dolly suchen, wollte netter zu den Zwillingen sein, wollte Benjamin suchen und ihm verzeihen. Diese Gedanken nagten unaufhörlich in seinem Inneren, bis ihm der ganze Körper wehtat. Er blickte in die Dunkelheit und konnte nicht einschlafen.

Nach Mitternacht hörte Ren wieder einen Schlüssel im Schloss und hob den Kopf. Die Angeln quietschten, und ein Streifen Licht drang herein. Er blinzelte, und Furcht erfüllte sein Herz, weil er damit rechnete, dass es wieder McGinty war. Doch stattdessen spähte ein Schatten zu ihm herein, und als sich seine Augen an den Lichtschimmer gewöhnt hatten, sah er die Hasenscharte in der Tür stehen.

Sie trug ihre Arbeitskleidung, die Schürze saß schief, die Stiefel waren hastig zugeschnürt. An den Bauch gedrückt hielt sie ein kleines Bündel. Geschwind schlüpfte sie herein, machte die Tür zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sie ließ ihren Blick über die Kistenstapel wandern, die überall verstreuten Süßigkeiten, das winzige Schaukelpferd und Ren, der auf dem Schreibtisch lag, zugedeckt mit einem großen Buch.

»Du genießt wohl das gute Leben?«

»Was tust du denn hier?«, flüsterte Ren.

»Ich bin gekommen, um dich hier rauszuholen.« Sie warf das Bündel auf den Boden. »Nicht dass mir was dran liegen würde.«

Ren rutschte vom Schreibtisch herunter und öffnete das Bündel, das sie mitgebracht hatte. Es enthielt ein marineblaues Kleid. Die Tracht der Mausefallenmädchen.

»Das kann ich nicht anziehen.«

»Dann bleib eben hier«, sagte die Hasenscharte, »wenn es dir so gut gefallt.« Sie machte kehrt und legte die Hand auf den Türknauf. Aber sie drehte ihn nicht.

Hinter der Tür hörte man Schritte. Als sie langsamer wurden, erstarrte die Hasenscharte. Ren und das Mädchen sahen sich mit angehaltenem Atem an, und Ren wurde klar, wie riskant es für sie gewesen war hierherzukommen. Die Schritte hielten kurz inne, dann gingen sie weiter. Die Hasenscharte ließ ihre Hand auf dem Türknauf liegen, bis sie verklungen waren. Als sie sie wegnahm, zitterten ihre Finger, doch mit triumphierender Miene drehte sie sich zu Ren um. Sie ist ja gar nicht so hässlich, dachte er, bevor er sich das Kleid über den Kopf zog.

Die Hasenscharte knöpfte es zu. Die Arbeitstracht war ziemlich klein und platzte an Rens Rücken beinahe auf. Gemeinsam gelang es ihnen, das lange Beinkleid über seine Hose zu ziehen. Als er angekleidet war, zog sie ihm die Haube tief ins Gesicht und legte ihm das Tuch um die Schultern.

»Wieso hilfst du mir?«

Die Hasenscharte lehnte sich an den Schreibtisch, als wäre sie nur hier, um die Zeit totzuschlagen. Sie gab sich die größte Mühe, mit ihrem entstellten Mund zu lächeln. »Benjamin hat mich gebeten, ihn zu heiraten.«

Das bezweifelte Ren.

»Doch, wirklich«, sagte sie. »Wir warten noch, bis ich achtzehn bin. Bis dahin ist es nur noch ein Jahr.«

»Du bist noch nicht mal fünfzehn.«

Die Hasenscharte funkelte ihn an, und Ren spürte, wie er rot wurde. Kein Mann würde sie je heiraten.

Das Mädchen las ihm vom Gesicht ab, was er dachte. Sie packte seinen Arm und drehte ihn so blitzschnell auf den Rücken, dass Ren sich auf die Zunge biss. Dann gab sie ihm eine Ohrfeige, eine und noch eine, so kräftig, dass es in seinem Ohr summte. Dann beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Stelle, wo sie ihn geschlagen hatte. Ihre Lippen saugten an seinem Ohr, hinterließen eine widerlich glitschige, feuchte Stelle. Ren riss sich los, sein Arm brannte, der Rock bauschte sich um seine Taille. Die Hasenscharte schubste ihn durch den Raum, sah grinsend zu, wie er hektisch versuchte, sich ihren Kuss vom Gesicht zu wischen.

»Ich mach jetzt die Tür auf«, sagte sie.

Im Gang war es düster, und es roch nach Schmierfett. Sie bogen um eine Ecke und kamen an einem mit Kisten vollgepackten Raum nach dem anderen vorbei. In einem Türrahmen lehnte der Zylinder und rauchte eine dünne braune Zigarette. Er betrachtete die beiden, als sie vorbeigingen. Ren hielt den Kopf unter der Haube gesenkt. Mit einem Ruck wandte die Hasenscharte ihren Kopf dem Zylinder zu, der gerade zu einem Pfiff ansetzen wollte, dann aber innehielt, als er ihr Gesicht sah.

Die Reihen von Arbeitsplätzen in der Fabrikhalle wurden von schwachen Deckenlampen erhellt. Die Hasenscharte führte Ren in die dunkelste Ecke und platzierte ihn direkt neben sich, so dass er mit den anderen Mädchen, die das Holz stapelten und die Stücke in die Säge schoben, in einer Reihe stand.

»Schau nicht hoch«, flüsterte sie. »Egal, was passiert.« Ein paar Mädchen sahen kurz herüber, wandten sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Sie kümmerten sich nicht weiter um Ren, aber ihm war klar, dass sie Bescheid wussten. Sie hielten die Köpfe gesenkt, bewegten flink ihre Finger und bauten weiter ihre Fallen zusammen, so als schliefe der Werksleiter nicht am anderen Ende der Halle unter seinem Mantel, sondern stünde direkt hinter ihnen.

Auf diese Weise verging eine Stunde. Und noch eine. Ren verbarg seine Narbe und hielt sich dicht neben der Hasenscharte und ahmte jede ihrer Bewegungen nach, ständig erfüllt von der Angst, entdeckt zu werden. Seine Finger waren voller Schmiere, die Bretter kreischten, wenn sie durchgesägt wurden, und auf sein Gesicht legte sich eine feine Schicht Sägemehl. Einmal rutschte seine Hand ab, weil er das Holzstück ohne den Armstumpf nicht festhalten konnte; es zerbrach, und die Splitter spritzten über den ganzen Tisch. Rasch griff die Hasenscharte ein und legte ihm ein anderes hin. Der Werksleiter hob kurz den Kopf, ließ sich dann wieder zurücksinken und schloss die Augen.

Mit der Zeit taten Ren die Schultern weh. Doch je länger er neben der Hasenscharte stand und mitbekam, wie der Alltag für sie aussah, mit all dem Lärm und dem Schmutz in der Mausefallenfabrik, desto mehr rührte sie sein Herz. Er beobachtete, wie gewissenhaft sie die Holzstücke sägte und stapelte. Ihm wurde klar, dass sie ihn rettete, weil sie hoffte, auf diese Weise selbst von hier wegzukommen. Er brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass Benjamin längst über alle Berge war.

Als die Fabrikglocke läutete, brachte die Hasenscharte rasch ihren Arbeitsplatz in Ordnung; dann nahm sie Ren bei der Hand. Ihre Handfläche war glitschig vor Schweiß. Die anderen Arbeiterinnen traten von ihren Werkbänken zurück und bildeten einen Kreis um die beiden. Sie kamen so dicht heran, dass Ren die Schmiere auf ihren Kleidern riechen konnte, das Sägemehl in ihren Haaren, ihre billige Seife und den Puder.

Die Mädchen bewegten sich im Pulk vorwärts, Ren in ihrer Mitte. Um hinauszugelangen, mussten sie am Werksleiter vorbei, der jetzt am Tor stand. Ren sah ihn ein paar Meter vor sich; er bohrte in der Nase und zählte die Arbeiterinnen, die zur Tür hereinkamen und hinausgingen. Die Hasenscharte umklammerte Rens Finger, und die Mausefallenmädchen drängten sich dichter um die beiden. Ren war überzeugt, dass der Mann ihn entdecken würde, und musste sich zwingen, nicht loszurennen.

Als sie kurz vor dem Werksleiter waren, löste sich eines der Mädchen aus der Pension – die mit der Zahnlücke – aus der Gruppe. Sie ging auf den Mann zu, schlug den Kragen ihres Arbeitskleids weit zurück und verwickelte ihn kichernd in ein Gespräch, gerade als Ren an ihm vorbeiging.

Bis sie das Fabriktor hinter sich hatten und auf der Straße standen, blieben die Arbeiterinnen dicht beisammen, unterhielten sich laut und hoben die Schultertücher über ihre Köpfe, als sie an ein paar Hutmännern vorbeikamen, die am Eingang herumlungerten. Ren ahmte die Bewegungen der Mädchen nach und zog sich das dunkle Wolltuch übers Gesicht. Dann ergriff die Hasenscharte wieder seine Hand, und zusammen glitten sie wie auf einer Woge durch das Gewühl und spürten dabei die ganze Zeit die Fabrik im Rücken. Endlich bogen sie um eine Häuserecke. »Jetzt«, flüsterte die Hasenscharte, scherte aus und riss Ren aus der Gruppe heraus in eine Seitengasse.

Heftig atmend, lehnten sich Ren und das Mädchen an die Mauer. Über ihren Köpfen verbanden Wäscheleinen ein Gebäude mit dem nächsten. Daran hingen saubere Bettlaken und Handtücher und lange Hosen und Unterwäsche, triumphierend wie Fahnen.

»Ich weiß gar nicht, wie du heißt«, sagte Ren.

»Jenny«, sagte die Hasenscharte. Sie entzog Ren ihre Hand, doch er ergriff sie wieder und führte sie an seine Lippen; seine Haube berührte ihr Handgelenk, und sein Mund lag warm auf ihrem Handteller. Dann schleuderte er ihre Hand von sich, weil ihm plötzlich peinlich war, was er getan hatte. Das Mädchen versuchte zu grinsen, doch ihr Gesicht fiel in sich zusammen. Sie legte die andere Hand auf die Stelle, wo er sie geküsst hatte, und sagte: »Komm ja nie mehr zurück.«

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