Kapitel 4

Bruder Peters Unterricht fand jeden Tag im Empfangsraum des Klosters statt. Was den Jungen in diesem Unterricht vermittelt werden sollte, variierte von Fall zu Fall und, wie es schien, je nach Wetter. An Regentagen holte der Ordensbruder Landkarten hervor und sprach darüber, wo was in der Welt lag. Wenn die Sonne schien, rezitierte er Gedichte. Schneite es, zog er einen Abakus aus seinem Pult und erläuterte die Zahlen. Und wenn ein starker Wind blies, tat er gar nichts, sondern blickte unverwandt zum Fenster hinaus auf die schwankenden Bäume.

Die Mönche betrachteten es als ihre Aufgabe, den Kindern ein Mindestmaß an Bildung mit auf den Weg zu geben. Wenigstens so viel Sprachwissen, dass sie die Bibel lesen konnten, und ausreichend Kenntnisse im Rechnen, damit die Protestanten sie nicht übers Ohr hauen konnten. Weshalb man Bruder Peter mit dieser Erziehungsaufgabe betraut hatte, wussten die Jungen nicht, denn mehr als die Hälfte der Zeit legte er nur die Stirn auf den Tisch und achtete nicht weiter auf die Kinder. Viel von dem, was die Jungen gelernt hatten, war von einem zum anderen weitergegeben worden wie eine Krankheit und betraf hauptsächlich Einzelheiten aus der Geschichte Neuenglands: Stationen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, die Gefechte von Lexington und Concord, die Hexenprozesse von Salem oder das Massaker von Boston.

Heute übten die Jungen das Schreiben und Abschreiben von Psalmen auf winzigen Schiefertafeln, die gemeinsam benutzt wurden. An der Reihe war der Psalm 118, Vers 8: »Es ist besser, auf den Herrn zu vertrauen, als auf Menschen zu bauen.« Bruder Peter hatte gerade seinen Kopf auf den Tisch gelegt, als die Jungen zu tuscheln begannen und zum Fenster hinausdeuteten. Ren sah von den Wörtern auf, die er gerade niedergeschrieben hatte. Ein Fremder überquerte den Hof.

Der Mann trug eine Brille. Er hatte strohfarbenes Haar, das von einem Band zusammengehalten wurde, so dass er aussah wie ein Student. Er trug keinen Hut, hatte aber Stiefel an und einen langen dunklen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen, wie ein Kutscher. Bruder Joseph geleitete den Mann zur Priorei, und die Kinder sahen, wie der Fremde einen Moment lang innehielt und sich zur Seite beugte, als bereitete ihm sein Bein Schmerzen. Er war von schmächtiger Statur, und bevor er im Haus verschwand, konnte Ren erkennen, dass seine Hände bleich und schmal waren. Ein Farmer war er nicht.

Eine Viertelstunde später stürmte Bruder Joseph außer Atem ins Klassenzimmer; seine Kutte war vorn voller Flecken. Er ließ seinen Blick über die Jungen wandern und sprach die Worte aus, auf die alle warteten: »Geht zur Statue.«

Ren lief aus dem Zimmer und rannte zum heiligen Antonius, und irgendwie kam es ihm vor, als liefe er seinem Glück hinterher. Wie alle anderen Jungen nahm er seinen Platz in der Reihe ein, und Bruder Joseph schritt sie ab, stopfte Hemden in Hosen und zog Kragen zurecht, während am anderen Ende des Hofs die Tür der Priorei aufging.

Pater John näherte sich den Kindern in derselben beunruhigenden Haltung, wie wenn es ans Prügeln ging. In einer Hand hielt er ein Schriftstück. Die andere hatte er in den Ärmel geschoben, was bedeutete, dass er seine Gerte dabeihatte. Der Fremde folgte ihm in kurzem Abstand, sein langer Mantel schleifte im Schmutz.

Er war ein junger Mann mit zerfurchtem Gesicht und, im Verhältnis zum Kopf, etwas zu großen Ohren. Als er zur Statue des heiligen Antonius kam, verschränkte er die Arme und lehnte sich an. Über den Rand seiner Brille hinweg betrachtete er die Jungen. Seine Augen waren blau, sommerhimmelblau, die blauesten Augen, die Ren je gesehen hatte.

»Das ist Mister Nab«, sagte Pater John. »Mister Benjamin Nab.« Er warf einen Blick auf das Blatt Papier in seiner Hand und betrachtete dann verwundert den Fremden, der inzwischen auf einem Bein stand und den anderen Fuß in der Luft kreisen ließ.

»Alte Kriegsverletzung«, sagte der Mann. »Wenn es kalt wird, tut sie ein bisschen weh.« Er setzte den Fuß wieder auf den Boden, stampfte einmal auf, noch einmal und verzog dann den Mund zu einem breiten, strahlenden Lächeln. Es war ein gewinnendes Lächeln, das er bewusst erst dem Priester zuwandte und danach den aufgereihten Jungen.

Pater John fing sich und wandte sich wieder dem Schriftstück zu. »Mister Nab sucht seinen Bruder, der als Säugling hierher gebracht wurde. Er sagt, dass er etwa elf Jahre alt sein muss – stimmt das?«

»Ich glaube schon. Obwohl es so lange her ist, dass ich mich nicht genau erinnern kann.«

»Nun denn«, sagte Pater John und machte eine kurze Pause. Ren sah ihm an, dass er allmählich die Geduld verlor. »Kommt Euch einer dieser Jungen bekannt vor?«

Benjamin Nab trat vor und musterte jedes einzelne Kind eingehend. Offenbar hielt er nach etwas Bestimmtem Ausschau, doch wonach, ließ sich schwer sagen, denn bei jedem Jungen suchte er an einer anderen Stelle. Er packte sie am Kinn und drehte ihre Gesichter ins Licht. Er betastete ihren Hals, maß die Länge ihrer Augenbrauen mit dem Finger ab und hob zweimal eine braune Haarsträhne an seine Nase.

»Zu klein«, sagte er zu einem Jungen.

»Zu groß«, sagte er zu einem anderen.

»Zeig mir deine Zunge.«

Marcus streckte die Zunge ins Sonnenlicht, und der Mann betrachtete sie; dann schüttelte er wieder den Kopf.

Ren merkte, wie die Zwillinge neben ihm nervös wurden. Brom hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ichy richtete seine Füße kerzengerade aus. Aber Benjamin Nab nahm sich gar nicht die Zeit, sie genauer zu betrachten. Er ging weiter, als wüsste er um ihr Unglück und hätte Angst, sich damit anzustecken. Dann kam er zu Ren.

Benjamin Nab knuffte den Jungen in die Schulter. Es war ein kräftiger Stoß, als hätte er Ren beim Schlafen ertappt.

»Du siehst aus wie ein kleiner Mann.«

Es hörte sich an wie ein Kompliment, aber Ren befürchtete, es könnte anders gemeint sein. Er wusste, dass er kleiner war als die anderen Jungen. Der Mann trat vor und ließ seine blauen Augen Zentimeter für Zentimeter über Rens Gesicht, seinen Hals und die Schultern wandern. Ren wartete; sein Herz hämmerte in der Brust. Er stand kerzengerade da. Als der Mann seinen Oberarm nahm und drückte, gab Ren sich Mühe, die Muskeln anzuspannen. Dann trat plötzlich Stille ein, und Ren wusste, dass der Mann die fehlende Hand bemerkt hatte.

Benjamin Nab schloss die Augen, als versuchte er sich an etwas zu erinnern. Und dann sank er auf die Knie, schlang seine Arme um den Jungen, und Rens Gesicht wurde in den Kutscherkragen gedrückt, der nach Schweiß und Straßenstaub roch, und er hörte, wie der Mann ausrief: »Das ist er! Das ist er!«

Ren wusste kaum, wie ihm geschah. Gerade noch war er ein Glied in der Kette gewesen, und im nächsten Augenblick fand er sich in der Umarmung des Fremden, Schreie hallten in seinen Ohren, und seine Stirn wurde mit Küssen bedeckt. Die anderen Jungen warfen einander Blicke zu. Als klar wurde, dass Ren auserwählt worden war, dass er jetzt eine Familie hatte und das Waisenhaus für immer verlassen würde, strömte eine Woge der Freude durch seinen Körper und ließ seine Wangen erglühen, und dann, ebenso plötzlich, wich sie einem überwältigenden Schwindelgefühl, und er erbrach sich auf den Boden.

Benjamin Nab schubste den Jungen von sich weg, zog ein Schnäuztuch aus der Tasche und wischte sich damit, sichtlich angewidert, rasch den Mantel ab; dann sah er den Priester an, lächelte wieder und reichte Ren das Taschentuch. Schließlich gab er dem Jungen einen Klaps auf den Kopf.

»War nicht meine Absicht, dich so aus der Fassung zu bringen.«

Pater John stand neben den beiden und verfolgte das Geschehen, und dann tat er etwas Ungewöhnliches: Er lud Benjamin Nab zu einer Tasse Tee ein. Durch seine Übelkeit hindurch spürte Ren plötzlich die Angst, Pater John könnte dem Fremden ausreden wollen, ihn mitzunehmen. Er hielt das Taschentuch des Mannes in der Hand, schämte sich aber zu sehr, um es zu benutzen, und wischte sich den Mund wie gewohnt mit der Rückseite des Ärmels ab. Er betete, durch die Spuckerei möge sich nichts geändert haben, und als er aufsah, schien der liebe Gott sein Gebet erhört zu haben, denn Benjamin Nab war nicht weitergegangen. Als er die Hand ausstreckte und sich sein Taschentuch zurückholte, lag noch immer dasselbe seltsame Lächeln auf seinem Gesicht.

In seinem Arbeitszimmer ließ Pater John sich hinter dem Schreibtisch nieder und bedeutete Benjamin Nab, sich den einzigen anderen Stuhl zu nehmen – den Prügelschemel. Der Mann zog ihn in die Mitte des Raums, setzte sich darauf und lehnte sich so weit nach hinten, dass Ren befürchtete, das wacklige Ding würde zusammenkrachen. Ren stellte sich wie üblich in die Ecke, doch als Pater John ihm einen strengen Blick zuwarf, wurde ihm klar, dass er jetzt einen neuen Platz hatte: neben Benjamin Nab.

Sobald der Tee gebracht wurde, trank der Mönch schweigend, als rechnete er nicht damit, dass eine Unterhaltung zustande käme. Pater John setzte diese Art Schweigen bewusst ein, um den Jungen Geständnisse zu entlocken, aber Benjamin Nab ließ sich davon nicht einschüchtern. Er schien sich rundum wohlzufühlen, während er seinen Tee schlürfte, der in die Untertasse geschwappt war. Er leckte sich die Lippen, setzte die Teetasse ab und erzählte dann, wie Ren seine Hand verloren hatte.

»Alles fing damit an, dass unser Vater uns mit den Planwagen nach Westen brachte. Wir rodeten ein Feld in der Nähe eines Vorpostens – Fort Wagaponick –, kennt Ihr das?« Pater John verneinte. Benjamin sah Ren an, und der Junge merkte, dass der Mann eine Antwort von ihm erwartete, ehe er seine Geschichte fortsetzte. Ren schüttelte den Kopf.

»Na gut«, sagte Benjamin. »Früher hast du es gekannt. Aber du warst wohl noch zu klein, um dich daran zu erinnern. Da gab es Bäume, so groß wie Häuser und so dick, dass zwanzig Männer nötig waren, um den Stamm mit ihren Armen zu umfassen. Die Vögel, die im Geäst lebten, waren so groß wie Esel und holten sich Hunde und Kinder, um ihre Jungen eine Meile weit oben am Himmel zu füttern. Die Berge stießen an die Wolken und erzeugten ihr ureigenes Wetter – Schnee im Sommer und Wüstenhitze mitten im Januar. Dort bist du geboren, im Tal darunter, zwischen dem Wald und einem tückischen Fluss.

Unser Vater war ein Träumer. Hat immer versucht, ans Ende von Nirgendwo zu gelangen. Tja, so war das. Nichts als Wildnis und lauter Zeug, das man nicht mit Namen kennt – merkwürdige kleine Kriechviecher, die durch das Laub im Wald wuselten, und große Stampfstapfer, die nachts vorbeitrotteten. Ich war viel älter als du«, sagte er und nickte Ren zu, »aber ich hatte Angst, allein loszugehen, um Wasser zu suchen.

Wir haben mit Trappern und den Soldaten vor Ort gehandelt, haben Arbeit gegen Ware getauscht und unsere erste Blockhütte aufgestellt. Dunkel war es da drin. Glas für Fenster gab es nicht, und die Holzbalken hat man mit Pech verschmiert, um den Wind auszusperren. Wir bauten eine Feuerstelle aus aufgeschichteten Steinen und einem Abzugsrohr für den Rauch, das nie funktioniert hat. Trotzdem legten wir uns nachts zum Schlafen ringsherum, auf Matratzen, die mit Maishülsen gefüllt waren. Von dem Rauch brannten einem nicht nur die Augen, man wurde auch krank, furchtbar krank, und man bekam Husten. Unsere Mutter machte sich solche Sorgen um dich, dass sie für eine Woche mit dir ins Fort zog, um deine Lunge freizubekommen.«

Ren holte tief Luft. Er spürte den Rauch, der in den Ecken hing. Die Rußteilchen hinten in der Kehle. Er stellte sich seine Mutter auf dem langen Weg durch den Wald vor, sein Körper fest in ihre Arme geschmiegt, so dass er unter der Decke ihren eiligen Schritt spüren konnte.

»Als der Frühling kam, konnten wir draußen Feuer machen. Nach und nach keimten die wenigen Samenkörner, die wir vor dem Frost in die Erde getan hatten, der Fluss, der eingefroren war, riss sich allmählich wieder los und begann zu fließen, und an seinen Ufern sammelten sich Eisstücke. Die Tage wurden länger, und bei dem vielen Licht gruben wir zwei Hektar Grund um, fällten Bäume, räumten Felsbrocken und Wurzelwerk beiseite, verscheuchten Waldmurmeltiere und Hasen, Füchse und Feldmäuse, Rotwild, Bären, Elche und Wiesel.

Unser Vater war glücklich. Er träumte davon, uns ein Schloss zu bauen, einen Burggraben anzulegen und ihn mit Alligatoren zu füllen. In dem Schloss würde es riesige Betten geben, sagte er, und Teppiche an den Wänden und Kronleuchter voller Kerzen und viele tausend Gemächer, so dass wir jeden Tag in einem wohnen und dann einfach ins nächste weiterziehen könnten. Natürlich gäbe es Diener und Dutzende von Köchen, die bereitständen, um all das zu kochen, was wir uns wünschten. Es gäbe Bauern, die sich um die Felder kümmerten. Neue Kleider für den Winter. Es gäbe Kühe und Hennen und Schweine und Pferde und Zauberer, deren Zauberformeln bewirkten, dass wir nie alt würden.

In jenem Sommer hast du laufen gelernt«, sagte Benjamin Nab. »Mutter hat dich angebunden, damit du nicht weglaufen kannst. Sie hatte Angst, ein Wolf könnte dich schnappen, sobald sie dir den Rücken zuwendet. Aber es war kein Wolf, der kam. Es war ein Indianer.«

Die Luft im Raum bewegte sich nicht mehr. Ren hatte noch nie einen Indianer gesehen, aber jetzt spürte er ihn förmlich, den kräftigen, mit Farbe bemalten Körper des Eingeborenen, verborgen im Schatten des Bücherregals, der schale Atem so nah, dass man ihn riechen konnte.

»Ich war fort, um Wasser zu holen«, sagte Benjamin Nab. »Hatte zwei Eimer auf den Schultern, und als ich zum Blockhaus kam, hörte ich dieses merkwürdige Geräusch, so ähnlich wie Bettgestöhn. Also setzte ich die Eimer ab und hielt mich zwischen den Bäumen, und als ich näher kam, sah ich mehrere Indianer. Es waren kleine braune Männer, und sie trugen Frauennachthemden – weiß mit Rüschen, wie die unserer Mutter. Nur einer hatte es richtig an. Die anderen trugen es um die Schultern, und einer hatte sich die Ärmel um die Taille gebunden wie Schürzenbänder. Sie standen im Gemüsegarten um etwas herum und schlugen mit Stöcken darauf ein. Es war Vater. Das erkannte ich, als einer von ihnen ein Bein hochhob, um den Schuh abzuziehen.

Das Stöhnen kam von Mutter. Sie hatte Blut im Gesicht, lag ausgestreckt auf dem Boden und hielt dich an den Knöcheln fest. Ein Indianer hatte dich an den Händen gepackt und zog dich weg und schleifte Mutter durch den Schmutz hinterher. Sie kamen dicht am Holzstoß vorbei, und da sah ich Mutter nach der Axt greifen, und bis ich begriff, was geschah, hatte sie ausgeholt und deinen Arm entzweigehackt.« Benjamin Nab schaute Ren in die Augen. »Ich glaube, sie hat auf den Indianer gezielt.

Drei Männer schlug sie nieder, ehe die anderen angerannt kamen. Das verschaffte mir die Zeit, dich zu packen und wegzurennen. Du hast geschrien, und ich musste dir mein Hemd in den Mund stopfen. Ich bin mit dir zum Fluss gelaufen und um unser Leben geschwommen. Ich habe deinen Kopf hochgehalten und mich, wenn es ging, von der Strömung treiben lassen. Nur dem kalten Wasser verdankst du, dass du nicht gestorben bist.«

Ren legte beide Arme auf den Rücken und umfasste mit der rechten Hand seinen Stumpf. Er kribbelte, als hätte er Eis berührt. Pater John hatte sich vorgebeugt. Die schweren Holzperlen, die an seinem Gürtel hingen, schwangen leise klackend an die Seitenwand des Schreibtischs, ein ums andere Mal im Rhythmus seines Atems.

»Ich habe dich ein paar Leuten in einem Wagen übergeben, die von der Wildnis genug hatten und in den Osten zurückkehren wollten. Ich bat sie, dich in ein gutes Kinderheim zu bringen. An einen kultivierten Ort, wo du eine Ausbildung bekommen würdest.« Benjamin Nabs Miene wurde ernst. »Dann bin ich diesen Indianern hinterher.

Ich lernte schießen. Lernte trinken und um Geld spielen. Ich schloss mich Indianern an – anständigen Indianern – und brachte ein paar Jahre damit zu, Büffel zu jagen und in Zelten zu leben, und während der ganzen Zeit hielt ich Ausschau nach denen, die das getan hatten. Ich lernte Wasser aufzuspüren, wo es kein Wasser gab, lernte Pfade aufzuspüren, wo es keinen Pfad gab, lernte Verstecke aufzuspüren, wo es keinen Platz zum Verstecken gab.«

An dieser Stelle machte Benjamin Nab eine Pause und kniff die Augen zusammen. »Zehn Jahre habe ich gebraucht. Aber ich habe diese Indianer ausfindig gemacht, und ich habe unsere Mutter und unseren Vater gefunden.« Er zog einen Lederbeutel aus der Tasche seines langen Mantels und löste die Schnüre. Er legte zwei Streifen Kopfhaut mit Haaren auf den Tisch. Ein glatt abgeschnittenes Stück mit feinen braunen Härchen und einen ausgefransten Streifen mit ausgebleichten gelben Locken.

»Mehr ist nicht übrig geblieben«, sagte Benjamin.

Benjamin Nab, Pater John und Ren betrachteten die Skalps. Der Pater räusperte sich. Ren verspürte das Bedürfnis, die Haare zu berühren. Er konnte sehen, wo zwei blonde Locken zusammengeknüpft worden waren.

»Bitte«, sagte Pater John schließlich, »nehmt das hier weg.«

Benjamin steckte die Skalps wieder ein. »Er ist mein Bruder. Er gehört mir und sonst niemandem.«

»Nun denn«, sagte Pater John. »Natürlich.« Und plötzlich wusste Ren, dass der Mönch ihn hergeben würde. Er hatte sein Leben hier verbracht; in diesen Mauern hatte er sprechen und lesen gelernt, aber Pater John stellte keine Fragen mehr. Er legte Ren die Hand auf den Kopf und segnete ihn. Dann befahl er ihm, seine Sachen zu holen.

Draußen im Flur wartete Bruder Joseph. Als er Rens Gesicht sah, stieß er schnaubend die Luft aus und sagte: »Tja, das war’s dann wohl.« Er geleitete den Jungen in den Schlafsaal der Kleinen, mühte sich schwerfällig die Treppe hinauf. »Ich dachte, wir hätten noch ein paar Jahre«, sagte er. Dann machte er die Tür auf, ging an den Betten entlang und blieb neben Ren stehen, während dieser seine Habseligkeiten unter dem Kopfkissen hervorholte. Viel war es nicht. Das Kragenstück mit den blauen Buchstaben, ein paar Socken und Das Leben der Heiligen.

Bruder Joseph nahm das Buch in die Hand und blätterte darin herum. »Woher hast du das?«

Ren betrachtete die schmutzige, verfleckte Kutte des Mönchs und den Bauch, der über die als Gürtel dienende Kordel hing. Er würde diesen Mann nie wiedersehen. Und doch brachte er es nicht fertig zu lügen. »Ich habe es gestohlen.«

»Dann hast du gegen Gottes Gebot verstoßen.«

Ren zuckte die Achseln.

Der Mönch blätterte noch ein paar Seiten um. »Warum hast du es genommen?«

Ren wusste nicht, was er antworten sollte. Er hatte nach dem Buch gegriffen, weil er wissen wollte, wie die Geschichte des heiligen Antonius weiterging. Doch dann hatte er von der heiligen Veronika gelesen, die Tiberius mit ihrem Schleier heilte, vom heiligen Benedikt, der Wasser aus einem Fels sprudeln ließ, von der heiligen Elisabeth mit ihrer Schürze voller Rosen. Mit dem Besitz des Buches hatte er sich das, was auf den Seiten geschah, irgendwie zu eigen gemacht. Den ganzen Tag über freute er sich auf den Sonnenuntergang, auf die Zeit, da alle anderen schlafen gingen und er die Geschichten wieder und wieder lesen konnte. Es bedeutete ihm mehr als essen. Mehr als schlafen. Schließlich sagte er: »Ich wollte die Wunder haben.«

Bruder Josephs Blick wanderte von dem Buch zum Jungen und wieder zurück. Er strich mit dem Finger über den Einband. »Mit deiner Buße sollten wir uns lieber beeilen.«

Ren kniete neben dem Bett nieder. Während er seine Gebete flüsterte, ließ sich Bruder Joseph auf die kleine Bettstatt sinken, deren Holzrahmen unter seinem Gewicht ächzte. Als Ren fertig gebetet hatte, reichte ihm der Mönch Das Leben der Heiligen.

»Soll ich es nicht lieber zurückgeben?«

Bruder Joseph zeichnete dem Jungen mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn. »Nimm es mit«, sagte er. »Es ist nicht mehr gestohlen.«

Auf dem Weg nach unten strich Ren mit der Hand über das alte Holzgeländer. Jetzt berühre ich es zum letzten Mal, dachte er, und in dem Moment bohrte sich ein Splitter in seinen Handteller. Während er hinaus und über den Hof ging, saugte er an der Haut und versuchte das Holzspänchen, dessen Ende er an der Zunge spürte, mit den Zähnen herauszuziehen. Im Sonnenlicht sah er sich den Splitter, der sich unter der Oberfläche eingenistet hatte, genauer an – ein winziges Stückchen von Saint Anthony, fest entschlossen, ihn zu begleiten.

Ren drehte sich um und betrachtete die Weinkellerei, dann die Kapelle, dann das Waisenhaus. Schwer zu glauben, dass er nicht länger auf diesem Gelände arbeiten oder beten oder schlafen würde. Immer hatte er nur von hier fortgewollt, doch jetzt, wo es so weit war, wurde ihm unbehaglich. Er ging hinüber zu der hohen Backsteinmauer, die die Gebäude umgab, und drückte seine feuchte Hand darauf. Das Gemäuer fühlte sich so dick und solide an wie eh und je.

»Leb wohl«, sagte er. Aber das erschien ihm nicht ausreichend. Deshalb trat er gegen die Mauer, so fest er konnte. Der Stoß erschütterte die Knochen in seinem Bein. Einen Moment lang stand er keuchend da, dann humpelte er davon; die Zehen in seinem Stiefel pochten.

Brom und Ichy erwarteten ihn am Brunnen.

»Gehst du wirklich fort?«

Ren nickte. Die Zwillinge schoben die Hände in die Hosentaschen. Ren wusste, dass sie sich Mühe gaben, sich für ihn zu freuen. Brom runzelte die Stirn, und Ichy bohrte seine Schuhspitze in den Boden. Alles, was die Jungen miteinander erlebt hatten, schien eingefangen in der Linie, die Ichy zwischen ihnen auf dem Boden zog. Die Zwillinge hatten sämtliche Mahlzeiten mit Ren eingenommen, sie hatten jedes Jahr beim ersten Schnee mit ihm gespielt, hatten jedes Mal mit ihm vom Fenster aus zugesehen, wenn die Soldaten kamen und wieder einen Jungen abholten. Jede Nacht hatten sie im Bett neben ihm gelegen, und jeden Morgen waren sie neben ihm aufgewacht.

In unbehaglichem Schweigen standen die drei Jungen beisammen, bis Ichy sich bückte und aus der Linie zu ihren Füßen einen Stein pulte. Er säuberte ihn mit dem Hemdzipfel und gab ihn Ren. Der Stein war warm von der Sonne, seine Oberfläche schwarz und gefurcht, mit funkelnden granatroten Einsprengseln. Ren bewunderte den Stein kurz und umschloss ihn dann mit den Fingern. Den Splitter in seiner Hand spürte er immer noch.

»Wo bringt er dich hin?«, fragte Brom.

»Das weiß ich nicht«, sagte Ren. Und eine Art Bedauern erfüllte ihn, eine Sehnsucht nach allem, was er aufgeben würde – den Fischgeruch, die Hafergrütze zum Frühstück, die dünnen Decken, die kalten, hallenden Steinmauern. Aber er wusste, wie es sich anfühlte, wenn man zurückblieb, und zum ersten Mal in seinem Leben war er nicht derjenige, der mit einem Klumpen in der Magengrube vom Tor aus zusah, wie ein anderer heimgeholt wurde. Und er hatte gelernt zu sagen, was sie alle sagten – »Ich komme wieder und besuche euch« –,und wie alle anderen wusste er, dass das nie geschehen würde.

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