Als sie die Brücke nach North Umbrage überquerten, war es längst dunkel. Hinter einem Hügel tauchten die Häuser auf, und die Durchfahrt zwischen ihnen wurde immer enger. Von dem Gewurle auf der Werft war hier nichts zu spüren. Die Straßen waren nahezu ausgestorben, und die paar Leute, die sich draußen aufhielten, standen an den Straßenecken beisammen, rauchten und beäugten den vorbeifahrenden Wagen. Ren sah ein paar abgemagerte Hunde, die sich balgten, und einen Mann und eine Frau, die sich in einem Durchgang aneinander pressten. Der Rinnstein roch nach fauligen Abfällen. Tom zog einen Revolver hervor und legte ihn neben sich auf den Sitz.
Es war derselbe Revolver, den Benjamin Ren auf der Fahrt nach Granston gezeigt hatte. Damals hatte Benjamin glücklich und entspannt gewirkt, jetzt jedoch drückte er sich an den Rand des Kutschbocks. Er zupfte an den Knöpfen seines Mantelkragens herum und drehte sich immer wieder um, wenn sie an einem erleuchteten Fenster vorbeifuhren, als rechnete er damit, hinter den Vorhängen jemanden zu entdecken, den er kannte.
Der Karren holperte über das Kopfsteinpflaster. Vor ihnen fiel ein mächtiger Schatten auf die Straße. Er breitete sich über die ganze Umgebung und warf eine Wand aus Schwärze über die Dächer und Wohnhäuser von North Umbrage. Als das Pferd in diesen Schatten trat, wurde die Luft ringsum kühl, und Ren hob den Kopf, als rechnete er damit, einen Riesen vor sich aufragen zu sehen. Doch stattdessen erblickte er eine Fabrik. Ein Gebäude wie eine Festung, das bis in den Himmel hinauf reichte.
Es hatte vier Stockwerke und einen hohen, dicken Schornstein, der schwarzen Rauch ausspie. Im zweiten Stock machten die Backsteinmauern riesengroßen vergitterten Fenstern Platz. Über dem Haupteingang standen, in den Schlussstein des Torbogens gehauen, die Worte: mcginty Mausefallen co. - fabrik und vertrieb.
»Was für ein heiteres Städtchen«, sagte Tom.
»Früher war das eine Bergwerksstadt«, sagte Benjamin.
»Nie davon gehört.«
»Wundert mich nicht«, sagte Benjamin. »Da ist ein Unfall passiert, nach dem der Ort beinahe ausgestorben wäre. Damals explodierte in der Nähe des Eingangs ein Behälter mit Sprengstoff, und sämtliche Bergleute wurden verschüttet. Ihre Leichen hat man nie gefunden, und die Bergbaugesellschaft hat die Stollen dichtgemacht und ist abgezogen. Als ich hier durchkam, war schon einige Zeit vergangen, aber man sah noch immer Frauen, die sich mitten auf dem Markplatz hinknieten und das Ohr an den Boden legten, weil sie hofften, ihre Männer zu hören.«
Der Wagen stieß an die Kante des Gehsteigs, und Ren dachte an die Männer, die unter der Erde eingesperrt waren, zusammen mit all dem Zeug, das die Leute im Lauf der Jahre weggeworfen hatten – verrostete Kochtöpfe und Pfannen, alte Stiefel und Hufeisen und zerbrochenes Porzellan. Sie fuhren an einer uralten Kastanie vorbei, und Ren stellte sich vor, wie sich ihre Wurzeln tief in die Erde bohrten und dort alles durchwühlten, genau wie die Finger der Witwen, die das Erdreich durchkämmt hatten, das ihre Männer festhielt, mit Schaufeln und Spitzhacken, mit anderen Frauen und Kindern und mit den Farmern von den Hügeln. Allmählich wurde die Szene in Rens Kopf lebendig, eine Einzelheit nach der anderen nahm Gestalt an, und er sah vor sich, wie die ganze Stadt grub, voller Angst, Zeit zu verlieren – und dann schrillte eine Trillerpfeife, und alle hielten inne und lauschten. Und nach ein paar Minuten rief eine der Frauen: »Worauf wartet ihr?« Und eine andere sagte: »Nein! Hier drüben … hier … habt ihr es gehört? Genau hier!«
Tom lenkte den Wagen durch eine Straße, deren Häuser verwaist und mit Brettern vernagelt waren. In der nächsten Straße ging es umso wilder zu – grelle Lichter, das Klirren von splitterndem Glas und Musik, die aus den offenen Fenstern dröhnte. Sie bogen abermals um eine Ecke, wo wieder alles still und dunkel war, und dann um noch eine und noch eine und noch eine. In keinem der Häuser hier brannte Licht. Und dann plötzlich in einem doch. Vorne am Tor war ein kleines handbemaltes Holzschild befestigt: zimmer zu vermieten.
»Das ist es«, sagte Benjamin. »Halt an.«
»Bist du sicher?«, fragte Tom.
»Bleib beim Pferd.« Benjamin kletterte aus dem Wagen, und Ren folgte ihm.
Sie klopften mehrere Male, ehe eine Frau öffnete. Sie war mindestens einen Kopf größer als Benjamin und hatte breite Schultern, kräftige Arme und einen sehr langen, dünnen Hals. Das Gesicht gehörte zu einer Frau mittleren Alters, mit hellen, lebhaften Augen und einer Nase, bei der ein Nasenloch größer war als das andere. Die Haare hatte sie unter eine Haube gestopft, und über ihrem braunen Kleid trug sie eine gewöhnliche Schürze. An dem breiten Ledergürtel um ihre Taille hing ein Schlüsselbund.
»Weshalb klopft Ihr?«, schrie sie.
»Wir suchen ein Zimmer«, sagte Benjamin.
»Ich lasse keine Fremden in mein Haus.«
»Ich heiße Benjamin Nab.« Er streckte ihr die Hand hin und setzte sein Lächeln auf. »So, seht Ihr, jetzt bin ich kein Fremder mehr.«
»Mister Nab«, schrie sie, »ich bin eine Frau, die hart arbeitet und ein hartes Leben hat, und ich kann darauf verzichten, dass es noch härter wird.« Sie ließ ihn das Gewehr in ihrer Hand sehen. »Und jetzt verschwindet!«
Ren wusste, dass das sein Stichwort war, und gab sich die größte Mühe, mitleiderregend auszusehen, er krümmte sich leicht, um kleiner zu wirken, und blinzelte heftig.
»Das würde ich gern tun«, sagte Benjamin, »wenn nicht mein armer verkrüppelter Neffe wäre, der gerade beide Eltern verloren hat und viele Meilen weit bis hierher gereist ist.«
Ren hob den Arm und wedelte mit seinem Stumpf vor dem Gesicht der Hauswirtin herum, als wollte er sie begrüßen.
»Seine Mutter hat einen kranken Nachbarn gepflegt«, sagte Benjamin. »Dann ist sie selber krank geworden, und ihr Mann hat Tag und Nacht Wache an ihrem Bett gehalten. Er ließ seine Felder verkommen und verkaufte alles, was er besaß, um die Ärzte zu bezahlen. Die Leute haben mir erzählt, die Haut meiner Schwester sei ganz gelb geworden und ihre Zähne grün. Dann wurde der Vater des Jungen ebenfalls krank. Er fing an zu toben und zu phantasieren und leckte die Wände ab. Als ich davon erfuhr, habe ich meinen Freund Tom angeheuert, damit er mich in ihr Dorf fährt. Doch als ich ankam, lagen die beiden schon unter der Erde. Und diesen armen Jungen haben sie als Waisenkind zurückgelassen.« Während Benjamin sprach, nahm er seinen Hut ab und drückte ihn an die Brust.
Ganz plötzlich waren die Zähne der Hauswirtin zu sehen. Lang und schmal, mit auffallenden Lücken dazwischen, krumm wie bei den meisten Landbewohnern. »Soso«, sagte sie und zog die Unterlippe nach innen, während sie über das Gehörte nachdachte. Dann stellte sie das Gewehr beiseite, nahm Ren in die Arme und schüttelte ihn so kräftig, als wollte sie ihm den Garaus machen. Sie war eine drahtige Person, mit ein paar angemessen platzierten weichen Stellen, an die sie jetzt Rens Gesicht drückte. Sie roch wie aufgehender Brotteig – warm und säuerlich –, und Ren war so verwirrt, dass sein Körper ganz schlaff wurde. Er überließ sich dem Geschehen, bis er zu ersticken glaubte und die Hauswirtin ihn wieder auf die Beine stellte.
Benjamin machte Tom ein Zeichen, und der stieg vom Wagen und führte das Pferd in den kleinen Stall hinter dem Haus. »Wir sind Euch ja so dankbar. Ich weiß nicht, wie lange wir noch auf dieser Straße hätten weiterfahren können. Ich bin nur ein alleinstehender junger Mann und weiß nicht recht, wie man ein Kind versorgt.«
»Das kann ich mir denken«, dröhnte die Pensionswirtin. Und ließ sie ins Haus. »Das macht drei Dollar die Nacht für das Zimmer. Und einen Dollar pro Kopf fürs Essen.«
»Sehr angemessen«, sagte Benjamin, machte jedoch keine Anstalten zu bezahlen.
Die Hauswirtin nahm ihm den Mantel ab und hängte ihn in einen Schrank. Benjamin dankte ihr und erkundigte sich nach ihrem Namen, den sie mit Mrs. Sands angab.
»Und Euer Ehemann, führt er dieses Haus?«
»Mein Mann ist tot und im Bergwerk begraben.«
»Meine liebe, liebe Mrs. Sands.« Benjamin ließ sich auf ein Knie sinken, ergriff die Hand der Hauswirtin und umschloss sie mit beiden Händen. Mrs. Sands stand unterdessen mit wehmütiger Miene da, ohne sich zu rühren. Dann kam Tom zur Tür herein; sein Bart war zerzaust. Als er den Riegel zuschnappen ließ, fiel ihm der Revolver herunter. Rasch hob er ihn auf und schob ihn vorne in den Hosenbund. Die Frau schnaubte verächtlich und machte sich los.
»Saubere Freunde habt Ihr, Mister Nab«, schrie sie.
Es dauerte nicht lang, bis ihnen klar wurde, dass Mrs. Sands immer schrie. Als junges Mädchen hatte sie einen Unfall mit einem Gewehr gehabt, und danach konnte sie den Leuten zwar von den Lippen ablesen, was sie sagten, hörte sich selbst aber nicht antworten. Sie schickte Benjamin und Tom hinauf zum Waschtisch. »Oben gibt es ein Zimmer, das Ihr für die Nacht haben könnt. Im Wandschrank ist was zum Anziehen, was dem Jungen gut passen müsste. Eine Freundin von mir hatte einen Sohn in seinem Alter. Nachdem er im Fluss ertrunken ist, hat sie mir alle seine Sachen bringen lassen, weil sie dachte, dass ich eines Tages vielleicht auch ein Kind bekomme. Ist einfach ertrunken, der Junge! Und der da sieht auch so aus, als wäre er ertrunken, stimmt’s?« Sie ergriff einen Zipfel von Rens Jacke, zog ihn nach oben und nach unten, dann ging sie in den angrenzenden Raum und schleifte Ren hinter sich her.
Als sie die Küche betraten, stieg Ren ein köstlicher Geruch in die Nase, von einem dicken, in Soße schwimmenden Braten. Bestimmt war er gerade erst fertig geworden, auch wenn nichts davon zu sehen war, weder auf dem Tisch noch auf der Anrichte. Beides war sauber geschrubbt, die Töpfe glänzten, die Teller standen aufgeräumt in einem Glasschrank in der Ecke.
Der Raum bestand hauptsächlich aus einem Herd, dem größten, den Ren je gesehen hatte. Er nahm eine ganze Wand ein, und als genügte das noch nicht, reichte er um die Ecke herum bis zur Hälfte der nächsten Wand, an der sich Backsteine und Borde abwechselten. Über dem Herd hing in einem Rahmen ein gesticktes Vaterunser, und darunter erstreckte sich ein kompliziertes Geflecht aus Schürhaken und anderen Eisenstangen in den verschiedensten Formen, dazu riesige Topfe und Pfannen, so dass es aussah, als lagerte dort ein Eisenmonster, das jederzeit seine Klauen ausstrecken, sich vom Mauerwerk lösen und umherlaufen könnte. Als Abschluss des Ganzen brannte in einem offenen Kamin ein loderndes Feuer aus ordentlich gespaltenen Holzscheiten.
Aus dem gewaltigen Eisengewirk zog Mrs. Sands einen Kessel von der Größe und Form eines gemästeten Schweins. »Ich wollte das Wasser für mich selber warm machen«, schrie sie, »aber jetzt mache ich es für dich.«
Ren hatte noch nie einen so großen Topf gesehen, und ehe er sich’s versah, saß er drin. Mrs. Sands hatte ihn bis auf die Haut ausgezogen und ihm einen Klaps aufs Hinterteil gegeben, als er zögerte hineinzusteigen. Nun zog sie eine Sitzbank heran, ließ sich darauf nieder und rückte mit einem Messer einem riesengroßen Korb voller Kartoffeln zu Leibe. In der Luft hing noch immer der Bratenduft, und Rens Magen begann zu knurren.
»Wir müssen dich herausfüttern«, schrie Mrs. Sands.
Ren schob seinen Stumpf unter die Achsel, überkreuzte die Füße und zog die Knie hoch. Als er mit dem Ellbogen anstieß, hallte der Kessel. An der Innenseite war er rau, das Wasser nur leicht angewärmt.
Blinzelnd betrachtete Mrs. Sands den Jungen, griff in den Bottich, packte seinen linken Arm und inspizierte die Narbe. »Wie heißt deine Mutter?«
Ren schaute hinunter auf das unbewegte Wasser und stellte sich taub.
»Wer ist dein Vater?«
Ren zuckte die Achseln.
»Spiel bloß nicht den Dummen.« Mrs. Sands klatschte auf das Wasser. »Und tu nicht so, als wüsstest du nicht, was du weißt.«
Ren ließ sich tiefer in den Kessel sinken.
»Also«, rief sie, legte eine halb geschälte, glitschige Kartoffel beiseite und beugte sich hinunter, bis Ren ihren Atem auf seiner Wange spürte. »Ist dieser Mister Nab auch ganz sicher dein Onkel?«
Ren grub die Fingernägel in seinen Stumpf und nickte.
»Und deine Eltern sind wirklich tot?«
Diesmal nickte Ren kräftiger.
Mrs. Sands presste die Kartoffel in ihrem Schoß zusammen. Ren befürchtete schon, es sei um ihn geschehen. Doch in dem Augenblick kehrten Benjamin und Tom mit einer Garnitur Kleider des ertrunkenen Jungen zurück.
Mrs. Sands warf den Männern einen argwöhnischen Blick zu, riss Tom die Hose aus der Hand, suchte sie nach Mottenlöchern ab und erklärte: »Die tut’s erst mal.« Sie deutete zum Feuer, und da sah Ren, dass seine eigenen Sachen auf den Scheiten lagen. Rauchend lösten sie sich in den Flammen auf, orangerote Fetzen, die in der Dunkelheit aufblitzten. Er sah zu, wie der Stoff zerfaserte, und musste daran denken, wie er die Sachen zum ersten Mal angezogen hatte – mindestens zwei Jahre war das her –, das Geschenk einer der Großmütter, die die Waisenkinder zweimal im Monat gründlich säuberten. Ren war stolz auf diese Kleider gewesen; sie waren an einigen Stellen frisch geflickt, und die Hosenbeine waren ausreichend lang. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass sie so schäbig waren, dass sie verbrannt gehörten. Doch da lagen sie nun rauchend auf den Holzscheiten, und hier hockte er, splitterfasernackt, in einem Bottich vor dem Feuer und sah sie verbrennen.
Benjamin setzte sich neben Mrs. Sands auf die Bank. Er bat sie um die Erlaubnis, seine Stiefel ausziehen zu dürfen, und als sie nickte, stellte er sie neben das Feuer. Er trug dicke Wollsocken mit Löchern an Zehen und Fersen, die nach Schweiß stanken. Das konnte Ren selbst im Bottich noch riechen. Tom stand verlegen herum, bis Mrs. Sands ihn anschrie, er solle sich, Himmelherrgott noch mal, an den Tisch setzen, sie werde schon etwas zu essen finden für sie alle.
Sie holte einen Laib braunes Brot, etwas aufgeschnittenen Schinken, einen Krug Milch und Kaffee. Sie stellte alles auf den Tisch, gab Ren in der Wanne ein Stück Brot mit Schinken und schälte dann weiter ihre Kartoffeln. Es war fast einen Tag her, seit die drei etwas gegessen hatten, und sie stürzten sich wie wild auf das Essen.
»Wo seid Ihr zu Hause, Mister Nab?«
»Ich habe den größten Teil meines Lebens auf See verbracht. Erst auf einem Handelsschiff, das nach Ostindien gesegelt ist, und später dann auf Walfängern. Hätte ich nicht von der Krankheit meiner Schwester erfahren, wäre ich noch immer draußen auf dem Meer.«
»Das ist eine gefährliche Arbeit.«
Benjamin schlürfte seinen Kaffee. »Und einsam.«
Tom verdrehte die Augen.
»Und Euer Freund?«
»Ohne Arbeit«, sagte Tom.
»Er ist Lehrer«, sagte Benjamin.
»Ein schöner Lehrer.«
Tom stand auf. »Wie meint Ihr das?«
Doch da Mrs. Sands ihm den Rücken zukehrte und ihn nicht hören konnte, redete sie weiter. »Ein Lehrer sollte wissen, dass ein Kind so spät abends nichts mehr auf der Straße verloren hat. Ein Lehrer sollte wissen, dass man einen Jungen nicht in Lumpen herumlaufen lässt.«
»Ich will Euch mal was sagen«, sagte Tom, brachte den Satz aber nicht zu Ende. Er sah erst die Hauswirtin an, dann sein halb aufgegessenes Abendessen und erklärte schließlich: »Ich gehe ins Bett.« Er schnappte sich seinen Teller, legte noch zwei Scheiben Schinken und Brot darauf und stapfte die Treppe hinauf.
»Ihr müsst ihm verzeihen«, sagte Benjamin. »Früher war er mal in meine Schwester verliebt.«
»Sehr klug von ihr, ihn nicht zu heiraten.«
»Wahrscheinlich schon«, sagte Benjamin; er wirkte nachdenklich und ein wenig betrübt. Er kramte in seinen Taschen, bis er seine Pfeife fand, und zog einen Holzspan aus dem Feuer, um sie anzuzünden. Dann klaubte er eine Kartoffel aus dem Korb und holte sein Bärenmesser hervor. Er fing an zu schälen, und zusammen mit Mrs. Sands schälte er weiter, ohne zu reden.
Ren fror und hätte gern noch ein Stück Brot gehabt, hatte aber Angst, das Schweigen zu brechen oder ohne Mrs. Sands’ Erlaubnis aus dem Bottich zu steigen. Seine Zehen wurden allmählich schrumpelig. Die eine Seite des Bottichs war dem Feuer zugewandt und deshalb wärmer, und er lehnte sich dagegen.
Mrs. Sands betrachtete Benjamins Gesicht. Im Feuerschein, mit aufgeknöpftem Hemdkragen und zurückgestrichenem Haar sah er jünger aus, als er war. Als die Kartoffel, die er gerade in der Hand hatte, fertig geschält war, lehnte er sich zurück und zog kräftig an seiner Pfeife. Der Rauch roch nach Zucker. Ren atmete ihn tief ein. Dann sah er, wie Benjamin eine Falte von Mrs. Sands’ braunem Kleid anhob und seine Finger auf ihr Knie schob. Mit der anderen Hand rauchte er weiterhin seine Pfeife, und Mrs. Sands wandte sich wieder ihrer Kartoffel zu und schnitt sorgfältig die Schale ab. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen.
Ren legte das Kinn auf den Rand des Bottichs. Das Feuer verlosch allmählich. Die Holzscheite waren von der Mitte aus zu schwarzer Asche zerfallen. Die Kleider des Jungen waren verbrannt. Nur noch ein paar Stofffetzchen schwelten unter dem Rost. Er betrachtete sie, bis er es nicht mehr ertragen konnte, dann hielt er die Luft an und tauchte unter. Kaum war er unter Wasser, klopfte es von außen an den Bottich. Blinzelnd streckte er den Kopf aus dem Badewasser. Benjamin hatte noch immer eine Hand unter Mrs. Sands’ Röcken, aber er zwinkerte Ren zu und deutete mit dem Kopf zur Tür.
»Ich muss hier raus«, sagte Ren. Mrs. Sands sah ihn eigenartig an. Sie schloss die Augen, und auf einmal hatte Benjamin wieder zwei freie Hände, mit denen er seine Stiefel aufhob.
Mrs. Sands legte ihr Messer beiseite und stand auf. Mit einem energischen Ruck hob sie Ren auf die Anrichte und nibbelte ihm mit einem kleinen Handtuch den Nacken, als wäre sie böse auf ihn. Die kalte Luft traf ihn unvorbereitet. Er bekam eine Gänsehaut und klapperte mit den Zähnen, bis Mrs. Sands schrie: »Halt still! «
»Ihr solltet nett zu ihm sein«, sagte Benjamin, »sonst sucht uns noch der Geist meiner Schwester heim.«
Mrs. Sands klatschte das Handtuch noch einmal auf Rens Rücken, als wollte sie klarstellen, dass sie sich von Gespenstern keine Angst einjagen ließ. Dann zog sie ihm ein wollenes Unterhemd über den Kopf und steckte ihn in die Kleidungsstücke, die die Männer heruntergebracht hatten.
Er war kleiner als der ertrunkene Junge. Die Hose reichte ihm bis über die Zehen, und seine Arme verschwanden in den Ärmeln. Mrs. Sands krempelte die Ärmelaufschläge hoch, nahm mit den Fingern Maß am Kragen, und riss ihm dann die Sachen wieder vom Leib. Sie stülpte ihm ein Nachtgewand über den Kopf, das eher eine Art Decke war – ein kratziger Stoff, Knöpfe bis zum Hals und so lang, dass der Saum hinter ihm herschleifte. Dann nahm sie Ren auf den Arm wie ein kleines Kind und trug ihn die Treppe hinauf.
»Da wären wir«, sagte Mrs. Sands und stieß mit dem Fuß eine Tür auf. Es war ein kleines Zimmer, mit zwei in die Ecken geschobenen Betten. In einem schnarchte Tom bereits, und auf das andere ließ Mrs. Sands jetzt Ren fallen. In Saint Anthony hatte er sich oft vorgestellt, dass eine Mutter ihn abends zu Bett bringt. Aber das war ganz anders gewesen. In seiner Phantasie sprach die Mutter leise und war wunderschön. Sie strich ihm übers Haar und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Mrs.
Sands schlug auf die Kissen ein, als hätten sie ihr etwas angetan, und deckte Ren so fest zu, dass er kaum noch Luft bekam.
»Also, kannst du ein Gebet oder nicht?«, schrie sie ihn an.
Beten konnte er sehr wohl. Ren ratterte ein Rosenkranzgesätz herunter und einen Segenswunsch für Mrs. Sands, weil sie ihnen Unterschlupf gewährt hatte, und außerdem für seine Eltern, die angeblich am Fieber gestorben waren, und für seinen neu entdeckten »Onkel« Benjamin. Mrs. Sands schien zufrieden, wenngleich Ren auffiel, dass sie nicht mit betete.
»Habt Ihr Kinder?«, fragte Ren.
»Großer Gott, nein! Wozu brauche ich ein Kind?«
»Aber Eure Freundin hat Euch doch die Kleider des ertrunkenen Jungen geschickt.«
»Ja, das hat sie.« Mrs. Sands blickte aus dem Fenster. Auf einmal wirkte sie erschöpft.
Ren kuschelte sich unter die Decke. Er merkte, dass er etwas Falsches gesagt hatte. »Vielleicht wäret Ihr eine gute Mutter gewesen«, meinte er.
»Da bin ich nicht so sicher.« Ihre Hände flogen nach oben. Sie stopfte ein paar vorwitzige Haarsträhnen zurück unter die Haube, dann kniff sie Ren in den Arm. »Aber immerhin habe ich für diese alten Kleider eine Verwendung gefunden, nicht wahr?«
»Das stimmt«, sagte Ren und rieb sich die Stelle, an der sie ihn gekniffen hatte.
»Ich hoffe, du hast für mich mitgebetet«, sagte Benjamin. Er stand mit den Stiefeln in der Hand im Türrahmen. Er stellte sie in den Schrank und machte Anstalten, sein Hemd auszuziehen.
Mrs. Sands schien es plötzlich eilig zu haben. Sie legte den Schlüssel auf den Toilettentisch und verließ das Zimmer. Dann stürmte sie mit einem Stapel Handtücher herein und legte sie auf die Wäschekommode. Kurze Zeit später kehrte sie mit drei zusätzlichen Kissen zurück, die sie auf den Schaukelstuhl in der Ecke warf. Dann kam sie noch einmal mit einem Riesenstapel Bettlaken und Decken – gehäkelten und gestrickten und bunt gesteppten – und ließ das ganze Bettzeug auf Rens Kopf fallen.
»Gute Nacht«, schrie sie.
»Gute Nacht«, sagte Benjamin und sperrte die Tür hinter ihr zu.
»Wie lange müssen wir hierbleiben?«, fragte Ren und schob die Decken beiseite.
Benjamin streifte seine Hosenträger ab. »Bis auf weiteres.«
»Ich mag sie nicht.«
»Wirklich?«, sagte Benjamin. »Ich dachte, du bist in sie verliebt.«
»Und ich dachte, du.«
»Ich wollte sie nur ein bisschen glücklich machen.«
Ren stellte sich vor, wie es wäre, sich Abend für Abend im Bottich waschen zu müssen. Er trat gegen das Brett am Fußende, und etwas Schweres fiel zu Boden. Benjamin bückte sich und hob es auf. Es war eine Wärmflasche, aus dickem braunem Ton und mit einem Korken verstöpselt.
Von so einer hatte Ren immer geträumt.
»Darf ich Wasser reintun?«, fragte er.
»Ganz wie du willst«, sagte Benjamin. »Aber weck ja Mrs. Sands nicht auf.«
Ren schlüpfte aus dem Bett, und nachdem er die Tür aufgesperrt hatte, tastete er sich die Treppe hinunter, unterm Arm die Wärmflasche und in der Hand den langen Saum des Nachtgewands. Das Feuer in der Küche war erloschen, nur Aschereste glommen noch in der Dunkelheit. Rasch füllte Ren die Wärmflasche mit Wasser aus dem Kessel und schob sie in die Glut. Die Steine der Feuerstelle waren noch warm, und er rieb seine Füße daran. Er sah sich in der aufgeräumten Küche um, sah die glänzenden Kupfertöpfe, die an der Wand hingen, die mit Ananas bemalten Zierleisten, das ordentlich in einen Korb geschichtete Brennholz. Sie waren schon lange nirgends mehr gewesen, wo es so hübsch war.
Auf einem Tisch neben der Feuerstelle lag ein mit einer Serviette bedecktes Tablett. Ren lüpfte eine Ecke und entdeckte darunter eine komplette Mahlzeit – nicht das schlichte Brot mit Schinken, das zuvor aufgetischt worden war, sondern in Scheiben geschnittener Rinderbraten mit Kartoffeln, Karotten und Soße. Der Braten, den Ren gleich beim Betreten der Küche gerochen hatte. Und dazu ein Krug Bier. Daneben lagen Messer und Gabel. Und ein Apfel. Und außerdem ein kleines Stück Kuchen.
Ren lief das Wasser im Mund zusammen. Der Kuchen, ein makelloses Stück, lag auf der Seite und wartete nur darauf, dass Ren zulangte und ihn sich in den Mund schob. Er konnte die Kiefer gar nicht schnell genug bewegen, und auf seiner Zunge verschmolz der Geschmack von Zitrone mit dem von Zucker und Mohn. Er wischte die Krümel vom Teller und deckte das Tablett wieder mit der Serviette zu.
Kaum war er fertig, bekam er Gewissensbisse. Bestimmt würde Mrs. Sands merken, dass er den Kuchen gegessen hatte. Er hielt die Luft an, weil er befürchtete, gleich käme die Hauswirtin herein. Doch die Zeit verstrich, und Mrs. Sands tauchte nicht auf.
Ruß rieselte aus dem Schornstein in den offenen Kamin. Ren hörte ein schabendes Geräusch. Etwas hatte sich im Abzugsschacht verfangen. Ein Vogel oder vielleicht ein Eichhörnchen. In Saint Anthony waren, wenn es kalt war, immer wieder Vögel durch den Kamin heruntergefallen, angesaugt von der Hitze. Sie flatterten dann wild in der Küche herum und brachten den Rest des Tages für gewöhnlich damit zu, gegen die Fensterscheiben zu knallen. Was auch immer durch Mrs. Sands’ Rauchfang herunterkam, ließ sich Zeit, und nach einigen Minuten wurde Ren klar, dass es offenbar kletterte. Rens Herz begann heftig zu pochen, und als hätte das Wesen im Kamin es gehört, verstummte das schabende Geräusch.
Ren duckte sich und schaute nach oben. Etwa auf halber Höhe im Rauchfang sah er einen Mann, der sich mit Füßen und Schultern abstützte. Er ließ die Fersen an den Ziegeln hinabgleiten, erst die eine und dann die andere, so dass eine schwarze Rußwolke in Rens Gesicht landete. Der Junge wich zurück und gab sich Mühe, nicht zu niesen. Mit einem Zipfel seines Nachthemds hielt er sich die Nase fest zu. Verzweifelt sah er sich nach einem Versteck um und schlüpfte schließlich in den Kartoffelkorb. Auf dem Boden lagen noch ein paar kleine Knollen, die jetzt auf seine Knie drückten.
Ein Bein baumelte aus dem Kamin. Dann ein zweites. Die Füße stießen die verbrannten Scheite und die Asche und die letzten Reste von Rens Kleidung beiseite. Der Mann entknotete ein Seil, das an seinem Gürtel befestigt war, bückte sich und kroch auf allen vieren aus der Feuerstelle. Dann richtete er sich auf, klopfte seine Jacke ab und schüttelte die Beine aus. Er war höchstens einen Meter zwanzig.
Er sah aus wie aus anderen Menschen von unterschiedlicher Größe zusammengesetzt. Der Kopf war zu groß für seinen Körper, die Füße zu klein. Die Arme waren lang und kräftig, die Beine hingegen kurz. Seine dunklen Augen standen an den Seiten schräg nach unten, während die Augenbrauen in die umgekehrte Richtung zeigten, was ihm ein pfiffiges Aussehen verlieh. Sein Haar war schwarz und glänzend, ebenso der ordentlich getrimmte Kinnbart.
Der kleine Mann ging zu dem Tisch, nahm die Serviette vom Tablett und verspeiste, was von der Mahlzeit übrig war. Als er aufgegessen hatte, förderte er aus seinem Ärmel ein Klappmesser zutage und schnitt den Apfel in Schnitze. Er leckte sich die Lippen und mahlte mit den Zähnen, arbeitete mit der ganzen Kraft seiner Zunge und seiner Kiefer. Ren stellte sich vor, dass er auf dieselbe Weise einen Menschen verspeisen würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme.
Der Zwerg nahm den Apfelbutzen und legte ihn sorgfältig neben die Feuerstelle. Dann schlüpfte er aus seinen Stiefeln und zog die Socken aus. Sie waren aus weicher, kunterbunter Wolle gestrickt und voller schwarzer Flecken. Er schüttelte sie, und Wölkchen stiegen auf – winzige dunkle Rußwölkchen. Die Socken legte er neben den Apfelbutzen. Dann zog er seine Jacke aus. Danach das Hemd. Dann die Hose. Ehe er in den Bottich stieg, sah Ren einen Moment lang den buckligen, missgestalteten Körper. Es spritzte, und als der Mann sich wusch, mit Wasser übergoss und wieder herausstieg, hallte das Gluckern des Wassers in der Stille. Ren sah ihn jetzt deutlich – kräftige Arme über einem verbogenen Rückgrat und ein winziger baumelnder Penis, nicht größer als sein eigener. Der Zwerg nahm das Handtuch, mit dem Mrs. Sands auch Ren bearbeitet hatte und rieb sich damit flink den Rücken und beide Beine ab, ehe er wieder in seine Kleider schlüpfte.
Auf dem Tisch neben der Feuerstelle lag ein sauberes, geflicktes Paar Socken. Ren sah flüchtig die knotigen Füße des Zwergs, bevor sie in den frischen Socken und dann in den Stiefeln verschwanden. Als der kleine Mann die Schnürsenkel zugebunden hatte, kroch er wieder in den Kamin, schlang das Seil um seinen Bauch und kletterte langsam nach oben. Das Rumpeln hallte im Hohlraum des Schornsteins wider, während er sich hinaufschob, und nach einer Weile wurde es leiser. Ren lugte über den Korbrand. Der Zwerg hatte seine schmutzigen Socken dagelassen. Er hatte den Apfelbutzen dagelassen. Und er hatte auch ein kleines hölzernes Pferd dagelassen.
Ren kletterte aus dem Kartoffelkorb. Das Pferd passte in seine Handfläche. Es war aus einem Astknoten geschnitzt – er konnte erkennen, wo der Ast zu wachsen begonnen hatte –, und dort, wo der Sattel hätte sein müssen, war die raue Kante in sich verdreht. An den Beinen befanden sich zierliche Einkerbungen für die Hufe. Winzige Löchlein zeigten die Nüstern an, und sorgfältig geschnitzte Linien zeichneten den Schwung des Schweifs nach.
Ren hob die Wärmflasche auf, wischte mit dem Nachthemd die Asche weg und schob sie in seine Armbeuge. Sie war warm und schwer, und instinktiv schmiegte er sich um sie. Das Scharren im Rauchfang über ihm verstummte. Man hörte ein Geräusch wie von einem Tritt. Ren kniete sich in die Feuerstelle und spähte in die Dunkelheit hinauf. Erst sah er gar nichts. Und dann sah er die Nacht und die Sterne.