Früh am Morgen wachte Ren von Kettengerassel auf. In der Scheune war es noch dunkel, aber er konnte die Umrisse des Wagens erkennen. Und wer da hin und her lief und die Zuggurte am Pferd festschnallte, war Benjamin Nab.
»Was tust du da?«
»Still!« Benjamin kroch unter den Wagen. »Geh da rüber und hilf mir.«
Ren stand auf und ging zu ihm hin. Das Stroh war feucht und hing an seinen Kleidern; sein widerlich süßer Geruch stieg ihm in die Nase und bestätigte ihm, dass er nicht träumte. Benjamin wollte das Pferd stehlen. Ren spürte, wie sein Puls sich beschleunigte, genauso wie in Saint Anthony, wenn er selbst etwas gestohlen hatte. Die Kuh hinten in der Scheune schnaubte laut und trat unruhig auf der Stelle. Sie wollte gemolken werden.
Benjamin zog die letzten Schnallen fest und führte die Zügel hinauf zum Kutschbock. Die braune Stute schüttelte heftig den Kopf, ihre Rückenmuskeln zuckten. Ren ergriff das Zaumzeug und versuchte ihre Nase zu streicheln.
»Sie stehen bestimmt bald auf. Beeil dich!« Benjamin lief hinüber zum Heu, wo sie geschlafen hatten, klaubte die Decken auf und warf Ren den Packen zu. Der legte sie hinten auf den Wagen, und während er neben den Rädern stand, fragte er sich, ob es irgendeine Möglichkeit gab, hier zu bleiben. Ob er den Farmer und seine Frau irgendwie davon überzeugen könnte, dass er nichts mit dieser Sache zu tun hatte. Ob sie ihn ebenfalls adoptieren würden. Doch dann kletterte Benjamin auf den Kutschbock und befahl ihm, das Scheunentor aufzumachen, und als der Wagen hinausfuhr und Ren in der Kälte zu zittern begann, wusste er, dass es keine solche Möglichkeit gab. Er sprang auf den Sitz neben Benjamin, der die Peitsche über dem Kopf der braunen Stute knallen ließ, und der Wagen rumpelte den Hügel hinunter.
Ren klammerte sich an den hölzernen Sitz, und während sie davonratterten, drehte er sich noch einmal zum Haus um. Hinter einem der Fenster war Licht. Er hielt die Luft an, wartete darauf, dass der Farmer ihnen nachlief, wartete darauf, dass das Gewehr knallte. Gerade als sie die Straße erreichten, ging die Haustür auf. Die Karrenräder hoben sich, als sie um die Kurve bogen. Ren hielt sich an der Seite des Karrens fest, überzeugt, dass sie verfolgt wurden, doch als er wieder zum Haus zurückblickte, sah er nur die Frau des Farmers mit einem Eimer in jeder Hand als Silhouette im Türrahmen.
Es dauerte noch eine Stunde, ehe die Sonne aufging. Ren hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt und beobachtete den Himmel, der allmählich blass wurde. Die Luft war frisch, das Laub hatte die Farbe matter Bronze. Als sie aus dem Tal hinausfuhren, wurde das Gelände ringsum flacher, und über ihnen breiteten Eichen, Ulmen und Ahornbäume ihre Äste aus.
Benjamin war sehr viel besser gelaunt und wies Ren immer wieder auf Besonderheiten entlang der Strecke hin, nicht so als flüchteten sie mit gestohlenem Eigentum, sondern machten eine Art Ausflug. Er erzählte eine Geschichte über die Kerben an den Birkenstämmen und eine andere über eine Steinmauer, die bis nach Maine reichte.
Während Ren zuhörte, versuchte er sich die angemessene Strafe für ihr Vergehen auszumalen. Die umfangreichste Strafe, die er je bekommen hatte, bestand aus zehn Vaterunser und fünfzehn Ave-Maria. Sich mit dem Pferd und dem Wagen eines anderen aus dem Staub zu machen fiel jedoch in eine ganz andere Kategorie und wurde wahrscheinlich mit doppelt, wenn nicht dreimal so viel bestraft.
»Was tust du denn da?«, fragte Benjamin.
»Ich bete.«
»Dass uns niemand verfolgt?«
»Nein«, sagte Ren. »Weil wir gestohlen haben.«
»Das ist nicht Stehlen«, sagte Benjamin. »Das ist Borgen, in redlicher Absicht.«
Ren zog die Decke fester um sich. Ähnliches hatte er sich auch immer eingeredet, wenn er in Saint Anthony etwas gestohlen hatte, aber im Grunde seines Herzens wusste er, dass der liebe Gott ihn dafür bestrafen würde. Er stellte sich den alten Herrn als gütigen, etwas nachlässigen Gärtner vor, der seine Rosen sorgfältig beschnitt, andere Teile des Gartens jedoch verwildern ließ, bis irgendetwas seine Aufmerksamkeit erregte – eine Ranke, die sich auf die andere Seite des Zauns gewagt hatte –, worauf sein ganzer Zorn hernieder donnerte und das Beet vollständig ausgerupft wurde. Ren wusste, dass diese Sünde zu groß war, um verborgen zu bleiben. Gottes Vergebung zu erlangen würde einiges an Arbeit erfordern.
Benjamin Nab spuckte seitlich aus dem Wagen. Er zügelte das Pferd. »Hör zu«, sagte er. »Ich habe schon viel erlebt, und beten hat noch nie etwas an irgendwas geändert. Mir ist klar, dass du mit ganz anderen Regeln und Vorschriften aufgewachsen bist, aber wenn du hier draußen überleben willst, wirst du wohl oder übel gegen sie verstoßen müssen. Du musst wissen, was du brauchst, und wenn es dir über den Weg läuft, dann nimm es dir.«
Ren betrachtete den auf und ab wogenden Rücken der Stute. Sie war ein kräftiges Tier und hätte ihnen leicht Herr werden können, wenn sie gewollt hätte, aber sie behielt die Kandare im Maul und trottete weiter die Straße entlang.
»Wie kam es eigentlich, dass du überhaupt in Saint Anthony gelandet bist?«, fragte Benjamin.
»Ich erinnere mich nicht.«
»An irgendwas musst du dich doch erinnern.«
»Ich wurde durch die Türklappe geschoben. Genau wie alle anderen.«
»Du bist nicht wie alle anderen.« Benjamin hatte es als Kompliment gemeint, und Ren spürte, wie seine Wangen sich mit Röte überzogen. Allein diese Worte zu hören war aufregend.
»Ich habe einen scharfen Blick«, sagte Benjamin. »In den meisten Fällen schaue ich einen Menschen an und sehe sein ganzes Leben vor mir. Die Leute verraten sich durch Kleinigkeiten. Nimm zum Beispiel den Farmer. An der Art, wie seine Schuhe gebunden waren, konnte ich erkennen, dass er sich noch nie mehr als zwanzig Meilen von zu Hause entfernt hat und dass er uns sehr wahrscheinlich nicht weit folgen würde. Und dann dieser Pater John. Ich wusste, dass er etwas im Ärmel versteckt hatte. Und ich wusste, dass er dich damit bearbeitet hat. Nur eines wusste ich nicht, nämlich ob du es verdient hast.«
Die Vögel erwachten. Noch konnte man sie nicht sehen, aber als der Wagen zwischen den Bäumen hindurchfuhr, hörte man sie wild durcheinander zwitschern und singen, ein wüstes wiederholtes Hin und Her zwischen den beiden Straßenseiten, so laut, als hätten sich alle geflügelten Kreaturen dieser Welt hier versammelt.
»Ich bin nicht dein Bruder«, sagte Benjamin.
»Ich weiß«, sagte Ren, obwohl er bis zu diesem Augenblick die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben hatte.
Benjamin schlug seinen Mantel zurück und ließ Ren den Revolver sehen, der in seinem Hosengürtel steckte. »Dass ich dir den zeige, heißt nicht, dass ich dir wehtun werde«, sagte er. »Du sollst nur wissen, dass du es mit einem Mann zu tun hast, der sein Geschäft versteht.«
Ren versuchte ein unbeteiligtes Gesicht zu machen, doch in dem Moment, als Benjamin sagte, er werde ihm nichts tun, war der Junge plötzlich davon überzeugt, dass genau das Gegenteil passieren würde. Er schaute in den Wald hinein. Überlegte, ob er vom Wagen springen sollte.
»Deine Hand da öffnet die Börsen schneller als jedes Gewehr.« Benjamin zog seinen Mantel wieder zu. Er brachte das Pferd zum Stehen. »Jetzt habe ich dir gesagt, wie es um mich steht. Und auch wenn du mir übereignet worden bist und von Gesetzes wegen tun musst, was ich sage, und auch wenn ich bewaffnet bin und dich erschießen könnte, wenn ich Lust dazu hätte, gebe ich dir mein Wort, dass ich dich auf der Stelle gehen lasse, wenn du willst, und du kannst dich auf den Rückweg machen.« Er lächelte. »Oder du kannst dein Glück versuchen und bei mir bleiben.«
Das Vogelgezwitscher ringsum hielt an. Leiser zwar, jetzt, da die Sonne aufging, aber auf Ren wirkte es immer noch hektisch.
Benjamin beugte sich zu ihm hinüber. »Was wünschst du dir am allermeisten auf der Welt?«
Noch nie hatte jemand Ren diese Frage gestellt. Als er darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er ziemlich genau wusste, was er nicht wollte. Er wollte nicht mit dem Revolver erschossen werden, den er gerade gesehen hatte. Er wollte nicht allein auf der Straße zurückgelassen werden. Er sah hinauf zum frühmorgendlichen Himmel und dachte an die Frau des Farmers.
»Eine Familie«, sagte er schließlich.
»Sei kein solcher Einfaltspinsel«, sagte Benjamin. »Ich meine was Richtiges. Irgendetwas.«
Ren versuchte sich etwas anderes einfallen zu lassen, etwas Unerreichbares. »Eine Orange«, sagte er. »Ich wünsche mir eine Orange.«
»Die kann ich dir besorgen.« Benjamin streckte die Hand aus. »Na, was sagst du dazu, kleiner Mann?«
Seine Finger waren lang und dünn. Aber sie hatten weder Schwielen, noch deutete sonst etwas darauf hin, dass er jemals hart gearbeitet hatte. Seine Handgelenke waren zierlich, die Fingernägel erstaunlich sauber. Ren bemerkte ein Muttermal, das sich wie eine Münze in seine Handfläche schmiegte – ein Glückszeichen –, und das war es vor allem anderen, was ihn dazu bewog einzuschlagen.