Oben auf der Privatstation war eine Fensterscheibe gebrochen. Ren spürte den kühlen Lufthauch auf seiner Haut, als er die Tür zu Mrs. Sands’ Zimmer aufdrückte. Hinter den Vorhängen zog der Morgen herauf, der rosige Himmel war mit Grau durchmischt, es roch nach einem aufziehenden Gewitter. Das hauchdünne Zelt, das über Mrs. Sands’ Kopf und Schultern hing, fing das matte Licht auf und leuchtete sanft.
Neben dem Bett, in einem Schaukelstuhl, saß Schwester Agnes. Sie strickte. Ihr Kopf war über die Nadeln gebeugt. Als Ren die Tür hinter sich schloss, blickte sie auf, als hätte er das Zimmer gerade erst verlassen.
»Wie geht es ihr?«, fragte Ren.
»Besser«, sagte Schwester Agnes. »Gelobt sei Gott.«
Ren trat ans Bett und schob die Seitenklappen des Zelts auseinander. Ein feiner Dampfstrahl entwich. Die Luft auf seiner Haut fühlte sich feucht und klebrig an. Eine Woche war vergangen, seitdem er Mrs. Sands ins Krankenhaus gebracht hatte. Ihr Gesicht war friedlich, ihr Haar ordentlich zu zwei Zöpfen geflochten. Sie trug ein sauberes, bis oben hin zugeknöpftes weißes Nachthemd. Neben ihr, auf einem Tisch, stand ein Kessel mit heißem Wasser auf einem Brenner; die lange Tülle blies winzige weiße Wölkchen in das Zelt, die um Mrs. Sands’ Kopf schwebten und ihn einhüllten.
Schwester Agnes sah zu dem Jungen auf, dann auf ihre Stricknadeln hinunter und wieder nach oben, als versuchte sie, beides irgendwie miteinander in Einklang zu bringen. »Du bist gekommen, um dich zu verabschieden.«
»Ja«, sagte Ren.
»Kommst du zurück?«
Ren musste an die Leiche unten im Keller denken, an die in die Haut geätzte Drossel. »Irgendwann.«
Schwester Agnes legte das Strickzeug in eine Tasche. Sie schaukelte auf ihrem Stuhl vor und zurück, wobei die Kufen rhythmisch auf den Boden schlugen, genau wie bei dem Schaukelpferd in der Mausefallenfabrik.
»Glaubt Ihr, sie verzeiht mir, dass ich sie verlasse?«, fragte Ren.
Schwester Agnes presste die Lippen aufeinander. »Das kann ich nicht beurteilen.« Sie hörte auf zu schaukeln und schaute zum Fenster hinaus. Sie strich mit einer Hand über den Rand ihrer Ordenshaube und ließ sie dann in den Schoß fallen. »Dieser Mann, den du beim letzten Mal mitgebracht hast, der war nicht aus Saint Anthony.«
»Nein«, sagte Ren. Der Gedanke, dass Dolly hier nach ihm gesucht hatte, munterte ihn einen Moment lang auf.
»Aber du kommst aus Saint Anthony. Ich glaube, du bist dort aufgewachsen.«
Ren fragte sich, wie sie das herausgefunden hatte. Aber Nonnen und Priester und Ordensbrüder wussten anscheinend immer mehr als die meisten anderen Leute.
»Der heilige Antonius ist der Schutzpatron der verloren gegangenen Sachen«, sagte Schwester Agnes. »Ich fand immer, dass der Name gut zu diesem Ort passt.« Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor und gab es Ren. Er faltete es langsam auf und erkannte die Handschrift von Bruder Joseph.
Liebe Schwester,
ich habe Euren Brief mit großem Interesse gelesen. Der Junge, von dem Ihr sprecht, hat hier bei uns gelebt, bis er vor acht Monaten von einem Verwandten abgeholt wurde. Ich hatte gewisse Zweifel, was die Absichten dieses Mannes betraf, aber es steht mir nicht zu, sie infrage zu stellen, und wie Ihr wisst, ist der Platz in Saint Anthony beschränkt, und wir müssen jede Hilfe annehmen, die Gott uns schickt, gleich in welcher Form.
Ich bin dankbar, dass der Junge den Weg zu Eurer Tür gefunden hat. Solltet Ihr ihn wiedersehen, übermittelt ihm bitte unsere Segenswünsche. Sagt ihm, ich hoffe, dass er guten Nutzen aus seinem Leben der Heiligen gezogen hat, und ich bete jede Nacht, dass sein Glück kein Unglück nach sich gezogen hat, das ja bekanntlich nie allein kommt. (Er wird wissen, was ich meine.)
Seid gegrüßt in Christo,
Bruder Joseph Wolff
»Warum habt Ihr ihm geschrieben?«, fragte Ren.
»Ich musste mich vergewissern, dass du wirklich der bewusste Junge bist.« Schwester Agnes wirkte nervös und begann wieder zu schaukeln, drückte den Stuhl nach hinten, dann wieder nach vorn. »Vor etlichen Jahren kam mitten in der Nacht eine Frau ins Krankenhaus. Sie gab sich als Christin aus, Gott sei gelobt. Aber ihr Kleid war blutbespritzt, und vom Fieber war sie halb von Sinnen. Sie sagte, sie hätte ihr Kind getötet.« Schwester Agnes schob die Finger ineinander und löste sie wieder. »So etwas kommt selten vor. Aber während meiner Zeit hier habe ich schon ein- oder zweimal erlebt, dass eine Frau dazu getrieben wird. Ich habe sie gebeten, mir das tote Kind zu bringen, damit wir es ordentlich bestatten können. Sie hatte es in der Nähe des Tors unter einem Strauch am Straßenrand versteckt. Es war sorgfältig in Decken gewickelt, und als ich sie aufschlug, stellte ich fest, dass das Kind lebte. Es war höchstens ein paar Wochen alt.« Schwester Agnes legte kurz eine Hand auf den Mund, ehe sie fortfuhr. »Man hatte ihm eine Hand abgeschnitten.«
Ren schaute Mrs. Sands an. Er schaute nur Mrs. Sands an. Er rechnete damit, dass sie gleich aufwachen und zu schreien anfangen würde. Aber sie blieb völlig ruhig und reglos.
»Ich nahm das Kind auf den Arm und lief zurück ins Krankenhaus. Die Ärzte konnten sein Leben retten, Gott sei gelobt. Als der Junge außer Lebensgefahr war, legte ich ihn der Frau in die Arme. Sie hielt ihn fest und weinte, weigerte sich aber zuzugeben, dass er am Leben war. Sie zog ihm die Kleider aus, alles bis auf das Nachthemd, und füllte sie mit Steinen aus dem Hof. Sie behielt die Puppe, die sie daraus gemacht hatte, und bat mich, auf das andere Kind aufzupassen, bis sie zurückkehrte. Sie wollte mir weder ihren Namen sagen noch den des Kindes.
Als zwei Wochen vergingen, ohne dass die Mutter wieder auftauchte, brachte ich den Säugling nach Saint Anthony. Dorthin bringen wir alle Kinder, die allein gelassen werden, sei es mit Absicht oder weil jemand stirbt. Ich ließ mich von der Kutsche an der Straßenkreuzung absetzen und ging zum Waisenhaus. Es hatte gerade angefangen zu regnen. Der Kleine war so still, dass ich Angst bekam, ich hätte ihn mit seiner Decke erstickt. Ich machte das Bündel auf, und das Kind sah mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an und stopfte sich den Armstumpf in den Mund.
Ich hatte über Jahre hinweg Kinder in Saint Anthony abgeliefert und durch die hölzerne Klapptür geschoben. Gern habe ich das nicht getan, aber ich erledigte diese Aufgabe, ohne mich zu beklagen. Ich freute mich darauf, allein ins Krankenhaus zurückzukehren, befreit von meiner Last, und Zeit zu haben, meinen Gedanken nachzuhängen. Aber als ich sah, wie dieses Kind an seinem Armstumpf saugte wie an der Brust seiner Mutter, fiel es mir schwer, meine Gefühle auszuschalten. Ich stand mit dem Säugling auf dem Arm vor der kleinen Klapptür im Tor. Ständig musste ich daran denken, wie die Mutter geweint hatte, als sie ins Krankenhaus kam, und wie sie immer wieder sagte: ›Ich habe ihn getötet. Ich habe ihn getötet.‹
Längst hatte der Regen meine Ordenstracht durchnässt. Ich zwang mich, meine Gefühle auszuschalten, warf einen letzten Blick in die Decke, wickelte sie fest um das Kind und schob das Bündel durch die Klappe. Kaum war das geschehen, bereute ich es. Ich hätte bis zum Morgen warten sollen, dachte ich, damit auch bestimmt jemand das Kind findet. Aber dann dachte ich, womöglich argwöhnen sie, dass es von einer unserer Nonnen stammt oder vielleicht gar mein eigenes ist, und das hätte Schmach und Schande über unseren Orden gebracht. Trotzdem schob ich den Arm durch die winzige Klapptür, um zu probieren, ob ich die Decke zu fassen bekäme und den Säugling zurückholen könnte. Aber er war zur Seite gerollt und außer Reichweite. Ich blieb dort und streckte meinen Arm in alle Richtungen aus, bis endlich die Nacht zu verblassen begann und ich im Krankenhaus gebraucht wurde.«
Schwester Agnes betrachtete ihre Hände. Sie verschränkte ihre Finger und rieb die Handballen aneinander. »Es war unrecht, dich draußen im Regen liegen zu lassen. Darüber habe ich im Lauf der Jahre viele Male nachgedacht.«
»Ich habe es überstanden«, sagte Ren. »Sie haben mich gefunden.«
»Gott sei gelobt«, sagte Schwester Agnes. »Ich bin froh, das zu hören.« Und dann war sie wieder so wie sonst. Sie seufzte. »Bald ist es Morgen.«
Ren sah, dass die Dämmerung vorüber war. Ein neuer Tag zog herauf. Mrs. Sands’Gesicht auf dem Kissen sah jetzt jünger aus.
Als hätte dieser Schlaf Jahre voller Sorge von ihr genommen. Er ergriff ihre Hand. Die Haut war glatt und dünn wie Papier, die Finger waren kalt. Ren hielt sie fest, bis sie wieder warm waren. Dann ließ er sie los.
»Ich habe mit Doktor Milton eine Vereinbarung getroffen«, sagte Ren.
Schwester Agnes richtete sich auf ihrem Stuhl auf. »Was für eine Vereinbarung?«
»Er hat gesagt, damit ist das Zimmer und eine Krankenschwester abgegolten, bis sie wieder gesund ist. Egal, wie lang es dauert.«
Die Ordensschwester machte ein bekümmertes Gesicht, dann seufzte sie noch einmal. Sie versprach, sich um alles zu kümmern. Ren gab ihr Bruder Josephs Brief, aber sie wies ihn zurück. »Er hat dir einen Segensgruß geschickt«, sagte sie. »Den solltest du mitnehmen.«
Der Dampf aus dem Kessel quoll aus dem Zelt. Er legte sich auf Ren wie ein Nebel, nistete sich tief in seiner Lunge ein. Der Junge atmete ein und aus, spürte die Bewegung der Luft in seinem Körper, und wischte mit dem Ärmel die Feuchtigkeit weg, die sich auf seiner Oberlippe niedergeschlagen hatte.
Auf der Stirn der Hauswirtin ringelte sich eine Locke. Ren strich sie ihr hinters Ohr. Er beugte sich zu ihr hinunter, schlang die Arme um ihre Schultern und drückte sein Gesicht an ihren Hals. Mrs. Sands hustete. Sie hob eine Hand und berührte seinen Kopf. Dann schlug sie die Augen auf und zwickte ihn ins Ohr, bis es wehtat.
»Bring mich nach Hause!«
»Mrs. Sands!«
»Du gehst fort.«
»Ich muss«, sagte Ren. »Es tut mir leid.«
»Unsinn.« Mrs. Sands versuchte aus dem Bett zu steigen, aber Schwester Agnes schob sie sanft und energisch wieder unter die Decke. »Ich bin genug verhätschelt worden.«
»Ihr seid noch zu schwach«, sagte Schwester Agnes. »Ihr müsst wenigstens noch ein paar Tage im Bett bleiben.«
»Mein Bruder braucht sein Abendessen. Er braucht es, sonst stirbt er.«
»Niemand wird sterben«, sagte Schwester Agnes.
»Bring mich nach Hause!«, schrie Mrs. Sands.
»Das geht nicht«, sagte Ren.
Die Hauswirtin ließ sich in die Kissen zurücksinken. Enttäuscht kaute sie auf ihrer Unterlippe. »Ich habe es versprochen«, sagte sie.
Drei Tage war es her, seit Ren dem Zwerg etwas zu essen hergerichtet hatte. Und noch länger würde es dauern, bis Mrs. Sands nach Hause durfte. Ren stellte sich vor, wie der kleine Mann durch den Schornstein hinunterkletterte und die Küche leer vorfand, die Speisekammer geplündert, niemand mehr da außer den Mausefallenmädchen.
»Du bist ein braver Junge.«
»Ich hab’s jedenfalls versucht«, sagte Ren.
»Das weiß ich«, sagte Mrs. Sands. »Und ich habe kein Recht, dich um was zu bitten.« Sie griff nach seiner Schulter und zog ihn zu sich heran. Sie wollte ihm etwas zuflüstern, schrie aber stattdessen in sein Ohr. »Im Hof ist Geld vergraben, gleich neben dem Hühnerstall. Ich möchte, dass du damit auf den Markt gehst. Lass ihm ausreichend Essen da, und den Rest nimmst du mit.«
Ren musste an die Hutmänner denken, die die Straßen durchkämmten. An McGinty, der in der Mausefallenfabrik auf und ab tigerte. »Ich kann nicht zurückgehen.«
»Bitte«, sagte sie. »Ich habe ihn ganz allein gelassen. Und ich habe ihm versprochen, dass ich das nie tun würde.« Sie begann zu weinen und dann zu husten, ihre Lunge rang nach Luft. Schwester Agnes trat ans Bett und klopfte ihr kräftig auf den Rücken. So kräftig, dass Mrs. Sands’ Nachthaube davonflog und auf dem Boden landete.
Ren bückte sich, um sie aufzuheben. Sie war aus einfacher weißer Baumwolle. Er drückte sie an die Nase und atmete den frischen, guten Seifenduft ein. Benjamin war es so leicht gefallen, einfach wegzugehen. Aber Mrs. Sands nicht. Sie führte das Haus, das ihrer Mutter gehört hatte. Sie strickte ihrem Bruder Socken. Und sie fiel immer noch jeden Tag auf die Knie, drückte das Ohr an den Boden, weil sie hoffte, ihren Mann unter der Erde zu hören.
Mrs. Sands hustete wieder und ergriff Rens Hand. »Ren.«
»Ich mach’s«, sagte er. »Ich kümmere mich um ihn«, sagte er. »Seid ganz beruhigt«, sagte er.
Und sie war es.