Kapitel 30

Auf dem ganzen Rückweg zur Pension regnete es. Am Himmel oben zuckten Blitze, und Ren, der den Eselsstrick hielt, zählte, bis der Donner krachte und das Tier auf die Bäume zustürmen wollte. Hinten auf dem Karren hielten Brom und Ichy Decken über Tom, dessen Bein ausgestreckt auf den Brettern lag. Das Gewitter folgte ihnen den ganzen Weg vom Krankenhaus bis nach North Umbrage. Sooft Ren ein Pferd kommen hörte, lenkte er den Wagen tief ins Gebüsch, und dort warteten sie dann, unter den Ästen verborgen, bis es an ihnen vorbeigezogen war.

Bei jedem Schritt sagte sich Ren, dass er nicht so war wie Benjamin. Der Regen durchnässte seine Kleider, bis sie schwer an seinem Körper hingen. Das Wasser klatschte auf seinen Kopf und lief ihm in die Augen. Er dachte an Bruder Joseph und Das Leben der Heiligen und an all die Geschichten, die er spätnachts im Schlafsaal der kleinen Jungen gelesen hatte – die vom heiligen Sebastian, der heiligen Dymphna und den Märtyrern und an all die schrecklichen Leiden, die sie erduldet hatten, um das zu tun, was richtig war.

Bevor sie die Brücke überquerten, wies Ren die Zwillinge an, sich hinten im Wagen bei Tom zu verstecken, und deckte alle drei zu. Dann nahm er noch eine Decke und wickelte sie sich wie eine Kapuze um Schultern und Gesicht. Er war froh über das Gewitter. Die Straßen waren weitgehend leer, nur hin und wieder hastete eine Witwe auf der Suche nach einem Unterstand an ihnen vorbei. Ren dirigierte den Esel langsam zur Pension, hielt dabei ständig Ausschau nach Hutmännern und nahm lauter Seitenstraßen, um nicht an der Mausefallenfabrik vorbeifahren zu müssen. Dennoch sah er das gigantische Gebäude, das über die Dächer der anderen Häuser hinwegblickte, als verfolgte es jeden seiner Schritte, sah den Schornstein, der schwarze Wolken hinauspumpte, die trotz des Regens in der Luft hängen blieben.

Die Pension war nicht abgesperrt, drinnen herrschte ein heilloses Durcheinander. Die Mausefallenmädchen hatten die Speisekammer vollends ausgeräumt, bevor sie zur nächsten Schicht aufgebrochen waren. Stapel von schmutzigem Geschirr verteilten sich auf dem Tisch. Durchs Dach sickerte Regenwasser, und da und dort auf dem Boden standen Töpfe und Pfannen und Eimer, um das Wasser aufzufangen. Mit vereinten Kräften halfen die Jungen Tom ins Haus und setzten ihn auf die Bank; und während der ganzen Zeit stöhnte und fluchte der Schullehrer. Dann machten sich die Zwillinge auf die Suche nach trockenen Kleidern und Decken, und Ren ging hinaus in den Hinterhof, um Mrs. Sands’ Geld zu suchen.

Der Hühnerstall bestand aus einem kleinen Verschlag in der Ecke, dessen Giebeldach auf vier in den Boden gerammten Pflöcken ruhte. Ren ging in die Hocke und scharrte mit den Fingern in der feuchten Erde. Er grub neben den einzelnen Pflöcken und dann zwischen Hühnerstall und Zaun. Schließlich wühlte er das Erdreich direkt vor der kleinen Türöffnung auf. Gerade als er den Rand von etwas im Boden ertastete, streckte ein Huhn den Kopf durch die Tür und pickte ihn in die Hand. Erschrocken wich Ren zurück, dann schirmte er das Loch mit dem Arm ab. Er spürte, wie die Hühner auf seinem Ellbogen herumhackten, als er das Geld aus der Erde zog.

Es steckte gut verschlossen in einem Weckglas, wie Mrs. Sands es für ihr Eingemachtes verwendete. Ren wischte den Dreck ab. Drinnen steckte ein dickes, zusammengerolltes Geldbündel. Reichlich für den Zwerg und genug für einen Neuanfang auf der Straße. Sie brauchten nur den Morgen abzuwarten, bis der Markt aufmachte. Ren klemmte das Weckglas unter den Arm und lief wieder ins Haus. Die Zwillinge erwarteten ihn, dicht aneinandergedrängt, unter der Tür.

»Wir gehen zurück«, flüsterte Brom.

»Nach Saint Anthony«, sagte Ichy.

»Wir finden, du solltest mitkommen.«

»Und was wird aus Tom?«, fragte Ren.

»Wir sagen einfach, dass er tot ist.«

»Bestimmt kommt jemand anders.«

»Bestimmt nimmt uns jemand anders mit.«

Ren sah seine Freunde an. Ihre Hosen waren zu kurz, ihre Jacken fadenscheinig, ihre Aussichten ungewiss. Hätten sie sich irgendwann in der Vergangenheit getrennt, als sie noch wie Kinder aussahen, hätten sie vielleicht eine Chance gehabt. Aber wenn sie jetzt zurückgingen, würden sie mit Sicherheit an die Armee verkauft. »Euch wird niemand adoptieren.«

»Was soll das heißen?«

»Das hat Bruder Joseph gesagt. Ich hätte es euch früher sagen sollen.«

Die Zwillinge schauten verwirrt drein. Ichy zupfte an seinem Ohrläppchen, und Brom legte misstrauisch den Kopf schief. »Wieso sollte uns keiner wollen?«

»Wegen eurer Mutter«, sagte Ren. »Weil sie sich umgebracht hat.«

Brom warf sich mit einem Aufschrei nach vorn. Er traf Ren am Bauch, und die beiden purzelten rückwärts ins Haus, ein Gewirr aus Armen und Beinen. Das Weckglas rutschte weg und fiel klirrend zu Boden. Ren schlug der Länge nach neben Mrs. Sands’ Geld hin, und auf einmal brach in seinem Inneren etwas auf, und er begann mit aller Kraft zu kämpfen, trat um sich, schlug mit seiner gesunden Hand zu und stieß mit dem Ellbogen des anderen Arms, spürte dann, wie ihm die Füße weggerissen wurden, und dann war Ichy über ihm und hieb mit den Fäusten auf ihn ein, und er war viel, viel stärker, als Ren je für möglich gehalten hätte.

Die drei Jungen rollten, ineinander verknäult, in die Küche. Jetzt hagelten die Schläge von allen Seiten, und in seiner ganzen Wut und seinem Kummer fing Ren an zu schreien, biss um sich und trat mit den Füßen nach allen Seiten, versuchte die anderen mit der Faust zu treffen und bekam Haare zu fassen, und dann schrien sie ihm ins Ohr und zerkratzten ihm mit ihren Fingernägeln den Arm, schürften die Haut von seinem Handgelenk ab, und noch immer ließ er nicht von ihnen ab.

Ein Schwall eiskaltes Wasser klatschte auf Rens Kopf und verstopfte ihm die Ohren. Er musste husten, als das Wasser über ihn hinwegschwappte und Essensreste und Scherben von Tellern und Tassen über den Küchenboden schwemmte. Tom stand mit einem Regenwasserkübel über ihnen, und nun schwenkte er ihn durch die Luft und knallte ihn Ren seitlich an den Kopf, während Brom und Ichy, patschnass und triefend, zur Seite krochen.

»Lass sie in Ruhe!«, schrie Tom. »Bleib ihnen ja vom Leib!«

Ren lag mit dröhnendem Kopf auf der Seite und rang nach Luft. Die Wand vor ihm bestand aus Holzbrettern, und er sah deutlich die Astlöcher, all die nachgedunkelten Löcher, die an Gesichter erinnerten. In den Fingern hielt er noch ein Büschel Haare. Von wem sie stammten, konnte er unmöglich sagen.

Tom schleppte sich wieder auf die Bank vor der Feuerstelle. »Meine Jungs«, sagte er. »Kommt her zu mir.« Als die Zwillinge zu ihm hinschlurften, schlang er die Arme um sie und drückte sie weinend an seine Brust, küsste sie auf die Stirn und weinte noch mehr. Brom und Ichy standen nur da, wie versteinert vor Verwirrung und Verlegenheit. Tom rieb sich die Augen und klopfte ihnen auf die Schulter. »Und jetzt holt mir was zu trinken.«

Die Zwillinge warfen Ren einen Blick zu, dann machten sie sich auf die Suche nach einer Flasche. Sobald sie außer Hörweite waren, beugte Tom sich zu Ren hinunter, packte ihn an der Jacke und zog ihn zu sich heran; sein Atem stank nach Alkohol. »Warum hast du mir das von ihrer Mutter nicht gesagt?«

»Ich wusste nicht, dass es für dich eine Rolle spielt«, sagte Ren.

»Tut es aber«, sagte Tom. Seine Stimme klang heiser.

Ren riss sich von ihm los, und Tom fiel nach vorn und sackte zu Boden.

Brom kam mit einer Flasche zurück. Er sah, wie Tom sich abquälte, und hockte sich neben ihn.

»Wir müssen ihn nach oben schaffen.«

»Er ist euer Vater«, sagte Ren.

Brom ging auf ihn zu und trat ihm ans Bein, gerade kräftig genug, um klarzustellen, dass sie noch nicht miteinander fertig waren. Dann drehte er sich um und entkorkte die Flasche, damit Tom trinken konnte. Er band die Schiene wieder fest, half Tom auf sein heiles Knie und dann, indem er ihn stützte, auf die Bank. Ichy kam mit einer mottenzerfressenen Decke an und legte sie Tom um die Schultern. Die Zwillinge gingen zu dem Holzkorb, der bei Mrs. Sands immer in der Nähe der Speisekammer stand, und holten die übrig gebliebenen Holzscheite. Ichy bückte sich zur Asche hinunter und zündete ein paar Zweige an, Brom ging hinaus, um noch eine Ladung Holz zu holen, und stellte die nassen Aststücke ans Kamingitter. Sie zogen ihre nassen Jacken aus und hängten sie, zusammen mit der von Tom, neben dem Kaminsims zum Trocknen auf. Über ihnen trommelte der Regen unvermindert aufs Dach und rauschte durch die Regenrinnen.

Ren saß in der Ecke und rieb sich die Wange; er war voller Hass auf sie alle.

Tom trank noch einen Schluck. »Es wird Zeit, dass wir uns überlegen, wie es weitergeht.« Er rückte sein Bein gerade, zuckte dabei vor Schmerz zusammen und zog sich die Decke über die Knie. »Was wollte dieser Mausefallenmensch eigentlich von uns?«

»Er glaubt, ich bin sein Neffe«, knurrte Ren.

Tom kratzte sich unter dem Bart. »Und? Bist du es?«

»Sieht ganz danach aus.«

»Verzwickte Sache.« Tom trank noch einen Schluck aus der Flasche. »Du darfst dich ja nicht blicken lassen. Bestimmt kannst du dich irgendwo verstecken.«

»Und wie lange?«

Tom schien sich über die Frage zu wundern. »Bis Benji zurückkommt.«

Ren berührte die Stelle, an der ihn der Eimer getroffen hatte. Er musste an Benjamins Gesichtsausdruck denken, als er sich verabschiedet hatte. »Der kommt nicht zurück.«

Tom wedelte mit der Hand. »Er kommt immer zurück. Das habe ich schon ein Dutzend Mal erlebt.«

»Sie hätten mich umbringen können«, sagte Ren, »und ihm wäre es egal gewesen. Er hat mich einfach weggegeben. Und dich hat er in einen Teppich eingewickelt mit gebrochenem Bein auf der Straße liegen lassen. Wenn die Zwillinge dich nicht ins Krankenhaus gebracht hätten, wärst du gestorben.«

Tom trank noch einen Schluck und stierte ins Feuer. Jetzt loderten die Scheite und erwärmten den Raum, so dass allmählich Dampf von Toms nassen Schultern aufstieg; es sah aus, als verflüchtigte sich seine Seele.

»Noch eine Stunde, dann klopft er an diese Tür.«

»Tut er nicht«, sagte Ren.

Tom schüttelte den Kopf, doch Ren merkte, dass er das nur machte, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Er winkte Brom und Ichy heran, und die Zwillinge halfen ihm, das Gleichgewicht zu halten, als er aus der Küche hinaushumpelte und sein Bein die Treppe hinaufzog. Ren stand in der Tür und sah zu, wie langsam sie vorankamen. Brom hatte sich Toms Arm über die Schulter gelegt, Ichy räumte einen Teppich aus dem Weg. Auf dem Treppenabsatz blieb Tom stehen; sein Atem ging unregelmäßig. »Ich gehe nicht weg von hier. Nicht, solange ich nichts höre.«

»Wenn wir in North Umbrage bleiben, wird McGinty mich finden.« Ren hatte es satt zu argumentieren, hatte es satt, für alles verantwortlich zu sein. Er verschränkte die Arme und rutschte mit dem Rücken an der Wand nach unten. »Also, was soll ich tun?«

Über ihm lehnte sich Tom ans Treppengeländer und musterte ihn sorgfältig. Dann wischte er sich die Nase ab, und an der Art, wie er es tat, merkte man, dass er Ren an allem die Schuld gab.

»Du bist der Dieb«, sagte Tom schließlich. »Denk du dir was aus.«

Das Unwetter hielt an und beherrschte die Nacht. Ren stöberte in dem Durcheinander in der Küche herum, bis er ein paar Kanten trockenes Brot fand. Dann legte er eine Decke in den Kartoffelkorb und kroch hinein. Es war ein windiges Versteck, aber wenigstens schirmte es ihn ein bisschen von der restlichen Welt ab. Er brauchte nur ein paar Stunden, um sich auszuruhen.

Blitze zuckten vor dem Küchenfenster, und Ren begann wieder zu zählen, um die Entfernung abzuschätzen. Eins, zwei, drei – er hörte den Donner ein paar Meilen entfernt rumpeln und grollen. Augenblicke später flackerte es erneut am Himmel. Eins, zwei – diesmal spürte er, wie die Wände bebten. Es tat einen Knall, als in der Nähe der Blitz einschlug. Eins – und der Donner krachte. Er fuhr direkt auf ihn herab, als wollte er das Haus in zwei Hälften spalten.

Als er endlich verhallte, ließ Ren die Arme sinken, die er sich über den Kopf gehalten hatte, und in dem Moment hörte er etwas am Vordereingang. Kein Klopfen, sondern ein schweres, kräftiges Rumsen, als versuchte jemand mit der Schulter die Holztür einzurennen. Ren blieb im Korb hocken und hoffte, es würde aufhören, und als das nicht geschah, kletterte er heraus und holte den Schürhaken von der Feuerstelle. Bei ihrer Rückkehr hatten sie den Riegel an der Vordertür vorgeschoben, und als er sich jetzt der Tür näherte, sah er, dass die Bretter dagegendrückten.

Allmählich gaben auch die Angeln nach. Ren schlang beide Arme um seinen Körper. Regenwasser quoll von draußen herein, lief über die Türschwelle auf den Steinboden. Noch eine Sekunde, dann hätte es seine Füße erreicht.

»Ren«, sagte eine Stimme hinter der Holztür.

Der Junge zog den Riegel zurück. Der Wind war so kräftig, dass die Tür aufflog und gegen die Wand krachte, und aus dem Dunkel torkelte eine Gestalt herein.

»Dolly!«, rief Ren. Er breitete die Arme aus, aber Dolly schob ihn beiseite und ging einfach weiter, stieß erst an einen Hocker und dann an den Tisch, ehe er die Feuerstelle erreichte. Auf Dollys Gesicht lag dieselbe finstere Ruhe wie damals, als er die Männer unter der Straßenlaterne umgebracht hatte. Er schaute in die Glut, und seine riesigen Fäuste gingen auf und zu, auf und zu.

»Du hast mich im Stich gelassen«, sagte Dolly.

»Das wollte ich nicht«, sagte Ren.

Jetzt drehte Dolly sich um und wandte dem heruntergebrannten Feuer den Rücken zu. Winzige Tröpfchen spritzten von seiner Kutte auf den Steinboden und bildeten rings um ihn einen nassen Kreis. Er stand in diesem Kreis, und der Stoff klebte an seinen Beinen wie eine zweite Haut.

Ren wurde ganz schlecht, so leid tat es ihm. Er sank zu Boden und legte den Kopf auf die Bank. Dolly ragte vor ihm auf wie ein strafender Gott. So als würde er jeden Augenblick den Fuß heben und Ren in den Erdboden stampfen.

»Es war nicht meine Schuld«, sagte Ren. Er erzählte Dolly alles, was passiert war, von dem Zeitpunkt an, als Tom sich von hinten mit der Schaufel angeschlichen hatte, bis dahin, wo Benjamin Ren die Straße entlanggejagt hatte. Während er sprach, kam es ihm vor, als hörte Dolly ihn gar nicht. Seine Miene blieb unbewegt, so finster und starr wie der Eisenrost in der Feuerstelle. Über ihnen rollte der Donner, leiser inzwischen. Er war eine Meile weit weg und dann noch eine, der Blitz nur noch ein Schimmer vor dem Fenster.

»Du hast recht«, sagte Ren, und seine Stimme versagte. »Ich bin weggegangen. Es tut mir leid.«

Dolly trat aus der Wasserlache heraus und hockte sich neben ihn auf den Boden. Er nahm Rens Kopf, wobei jede seiner riesigen Hände ein Ohr bedeckte, als wollte er es zerquetschen, und dann beugte er sich rasch vor und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, auf die freie Stelle zwischen den beiden gewaltigen Daumen. Dann ließ er ihn los, wandte sich einen Augenblick ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Als er Ren wieder ansah, war seine Miene schroff und weich zugleich, ein Berg von einem Mann, hilflos in sich zusammengesackt.

»Freunde«, sagte er.

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