Kapitel 24

Als die Reiter in North Umbrage ankamen, verkroch sich der alte Fischer unter die Brücke, die Landstreicher zogen sich in die schmalen Gassen zurück, und die Witwen schlossen ihre Ladenfenster und klappten die Läden zu. Empfangen wurden Pilot und seine Gefangenen einzig und allein vom Rauch der Mausefallenfabrik, die im frühen Morgenlicht leuchtete. Ren musste daran denken, wie das Gebäude vom Hausdach aus ausgesehen hatte und die Mädchen in ihrer Arbeitskleidung aus allen Richtungen durchs Eingangstor geströmt waren, wie Wasser, das alle Hindernisse umfließt.

Zwei der Hutmänner wurden losgeschickt, um die Leichen wegzuschaffen. Die übrigen zerschnitten die Seile und banden Tom los, den sie auf ein Wagenbrett gezurrt und hinter sich hergeschleift hatten. Die erste Viertelmeile hatte er geschrien und dann, zur Erleichterung aller, das Bewusstsein verloren.

Pilot stieg von seinem Pferd. Er packte Ren am Arm und zerrte ihn zu Boden. Während der letzten Stunde hatte Ren vor ihm gesessen, hatte sich an den Sattel geklammert, die roten Handschuhe betrachtet, die die Zügel hielten, und im Rücken Pilot gespürt, der nach Schweiß und Leder roch. Seinen Armstumpf hatte er im Ärmel verborgen gehalten, wo er im Rhythmus der Hufschläge pulsierte, bis sie North Umbrage erreichten.

Er sah sich nach seinen Freunden um. Inzwischen war der Schlamm, mit dem die Zwillinge überzogen waren, getrocknet und hatte auf ihren Gesichtern eine dicke braune Schicht hinterlassen, die, verkrustet und rissig, bis hinunter zu den Ellbogen reichte. Broms Beine baumelten vom Sattel des Wachmanns. Ichy fiel auf dem Gehweg einfach in sich zusammen. Benjamin stieg langsam und vorsichtig ab. Seine Kleidung war zerrissen, sein Gesicht so rot und geschwollen, dass er kaum wiederzuerkennen war.

Nachdem Pilot auf den Gehweg gespuckt hatte, schlug er zweimal mit der Faust an die Tür, und ein anderer Mann mit einem anderen Hut machte auf. Im Inneren des Gebäudes roch es wie in einer Kirche – feucht, klamm, und ein bisschen nach Erde. Sie gingen die Vordertreppe hinauf, zwei Männer folgten mit Tom. Ringsum hörte man das Rattern und Rumpeln von Maschinen. Sogar der Boden unter ihren Füßen schien sich zu bewegen.

Am oberen Ende der Treppe gelangten sie durch einige weitere Türen in den Bauch der Fabrik – Reihen von Werkbänken, allerlei Vorrichtungen, Rohmaterial und Mädchen. Kisten voller Mausefallen, die an den Wänden lehnten. Berge von Brettern und zusammengefegtes Sägemehl in den Ecken. Die Mädchen stapelten und schnitten, stapelten und schnitten, arbeiteten gegen eine Reihe rotierender Sägeblätter an. Im nächsten Gang wurden die Holzteile zusammengefügt; dort klatschten die Mädchen mit Pinseln Leim auf die Kanten, während andere die Schraubzwingen anbrachten und die Ecken festnagelten.

Die Mitte der Halle war den Metallarbeiterinnen vorbehalten. Einige passten Scharniere an, andere bogen Ecken um, und wieder andere betätigten die Kurbeln an den Maschinen. Auf einer Seite wurden dünne Drähte in die Apparaturen eingeführt, und auf der anderen kamen sie als lange, wie Schlangen abwärts geringelte Spiralen wieder heraus. Ein Mädchen zwickte die Federn ab und brachte sie den Arbeiterinnen in einer anderen Reihe, die sie an den Mausefallen befestigten. Über einen dieser Tische gebeugt, die Hände schwarz von Schmiere, stand die Hasenscharte.

Sie hatte sie kommen sehen. Ren hatte kurz ihren Blick aufgefangen, als sie den Raum betraten. Beim Anblick von Benjamins geschwollenem Gesicht hatte sie kurz in ihrer Arbeit innegehalten. Doch nun beugte sie den Kopf über eine Mausefalle, ihre Hände bewegten sich flink, hantierten so geschickt mit dem Draht wie mit Nadel und Faden.

Der Werksleiter, ein Mann mit Glatze, ging durch die Reihen und löschte die für die Nachtarbeit erforderlichen Lampen. Als er an Ren vorbeikam, ertönte aus dem hinteren Teil der Halle ein Schrei. Mehrere Mädchen verließen ihre Plätze und rannten hin. Ein Mädchen stand mit der Hand im Mund neben einem der rotierenden Sägeblätter; Blut lief ihr übers Kinn.

»Auf die Plätze! Zurück auf die Plätze!«, schrie der Werksleiter. Die Mädchen zögerten, dann liefen sie wieder an ihre Werkbänke. Nach dem ersten Schrei hatte das Mädchen keinen Ton mehr von sich gegeben. Sie stand einfach nur da und blutete. Ren sah, wie sich das Sägemehl ringsum dunkel färbte.

»Da«, sagte der Werksleiter und hielt ihr einen Lappen hin.

Das Mädchen wankte und sank zu Boden. Der Werksleiter wickelte das Stück Stoff um ihre Hand und trug sie hinaus. Wenig später kehrte er zurück und ging auf die Hasenscharte zu, nahm sie am Arm und führte sie zu der rotierenden Säge.

»Du wirst befördert!«, rief er und schob sie an den leeren Platz in der Reihe. Als er ihr den Rücken zukehrte, verdrehte die Hasenscharte die Augen und schaute wieder verstohlen zu Benjamin hinüber. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, nahm eine Handvoll Sägemehl und warf es auf die Maschine. Die feinen Späne färbten sich rot. Sie wischte sie mit der Hand vom Tisch und schob sie dann mit dem Stiefel beiseite.

Pilot schlängelte sich zwischen den Arbeiterinnen hindurch, quer durch eine Reihe und noch eine, dann eine Treppe hinauf, die von zwei Männern bewacht wurde. Sie traten beiseite, als er mit seinem Gefolge an ihnen vorbeiging. Der breite Flur, in den sie gelangten, war mit einem langen Teppich ausgelegt, der ein grünes Blumenmuster hatte und so dick war, dass Rens Schuhe beim Auftreten keinerlei Geräusch machten. Seine Füße versanken in der weichen Masse, und er musste an das Moos im Wald hinter dem Waisenhaus denken; an das Smaragdgrün, das überall dort wuchs, wo Bäume umfielen.

Die Tür am Ende des Flurs stand offen. Die Hutmänner trugen Tom hindurch. Ren folgte ihnen in eine Art Büro. Eine Rechenmaschine in einer Ecke nahm ziemlich viel Platz in Anspruch. Hauptbücher stapelten sich neben einem überfüllten Regal. In der Mitte stand ein riesiger Holzschreibtisch, dessen Platte fleckig und kreuz und quer mit Kerben durchzogen war; die polierten Füße glänzten. Der Schreibtisch nahm den größten Teil des Raums ein. Die Jungen stellten sich um ihn herum wie um einen Esstisch.

»Ihr wartet hier«, sagte Pilot.

»Das ist alles ein Irrtum«, sagte Benjamin.

»Das wird sich noch früh genug herausstellen.«

Die Hutmänner legten Tom auf den Boden und verließen grinsend den Raum. Dann schloss Pilot die Tür hinter sich und sperrte ab.

Benjamin lehnte sich an die Wand, betastete vorsichtig seine Rippen. Seine Lippen waren doppelt so dick wie sonst, die Haut rings um seine Augen aufgeplatzt und blau verfärbt.

»Du bist verletzt«, sagte Ren.

Benjamins Stimme klang rau. »Das wird schon wieder.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Wir müssen überlegen. Was er weiß. Was er will.« Benjamin tastete seinen Kiefer ab. Er schob zwei Finger in den Mund, zuckte zusammen und holte einen Zahn heraus.

Ren sah sich in dem Raum um und fragte sich, was um alles in der Welt McGinty von ihnen wollte. Reichlich Geld hatte er bereits, wie man deutlich sah. Die Stühle waren mit feinem Leder überzogen, die Messinglampe glänzte. Auf dem Schreibtisch lagen ein paar goldene Federhalter, und dahinter an der Wand hingen Gemälde, die Fuchsjagden darstellten. Da war der Trompeter, der die Pferde anführte. Da die ersten Reiter, die über den Hügel sprengten. Dort die Hundemeuten, die durchs Gras ausschwärmten. Und da war der Fuchs, ein kleiner roter Fleck, mal über ein Feld flitzend, mal geduckt, in Todesangst, nur Augenblicke davon entfernt, entdeckt zu werden.

Auf der anderen Seite hatte das Büro ein großes Fenster, von dem aus man die Fabrikhalle überblickte. Benjamin schlurfte hin und drückte mit der Hand dagegen. Anscheinend suchte er an den Rändern nach einer Möglichkeit, es zu öffnen, und als er keine entdeckte, ließ er seinen Arm schwer herunterfallen.

»Ich muss aufs Klo«, sagte Ichy.

Brom rempelte ihn an. »Das hättest du eher sagen müssen.«

Ren beobachtete die Kabbelei der Zwillinge. Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass ihr Unglück für seines verantwortlich war. Wenn Tom sie doch bloß nicht adoptiert hätte! Wenn er doch bloß nicht ihr Freund gewesen wäre!

Ichy begann zu wimmern, und Ren bekam Gewissensbisse. »Hier muss es doch irgendwas geben, was du nehmen kannst«, sagte er und durchsuchte das Büro, bis er ein altes Marmeladeglas voller Bleistifte entdeckte. Er kippte sie aus und gab Ichy das Glas. Einen Moment lang schien Ichy erleichtert. Er verzog sich in eine Ecke und machte seine Hose auf. Als er fertig war, stand er mit der hellgelben Flüssigkeit in der Hand da.

»Was mach ich jetzt damit?«

»Da rein.« Ren nahm das Glas an sich. Es fühlte sich warm an. Er schraubte den Deckel wieder zu, zog eine Schublade auf und versteckte das Ganze im Schreibtisch.

Tom begann zu stöhnen.

Sie liefen zu ihm hin, und Benjamin betastete vorsichtig das Bein. Doch sobald er es berührte, begann Tom zu schreien. Benjamin befahl ihm, still zu sein. Er zog seinen Mantel aus und riss einen Streifen Stoff von seinem Hemd ab. Den wickelte er um das gebrochene Bein. »Damit es zusammenhält.«

Tom schrie wieder auf. »Meine Jungs!«

Brom und Ichy betrachteten mit offenem Mund das Blut, das aus seinem Bein sickerte.

»Er möchte, dass ihr herkommt«, sagte Ren.

»Müssen wir?«

Tom grub seine Fingernägel in Rens Arm. »Ja.«

Brom kam näher und ergriff Toms Hand. Ichy nahm die andere. Der Schullehrer starrte über ihre Köpfe hinweg, und dann fielen seine Augen zu, und er verlor das Bewusstsein. Benjamin nahm Rens Finger. Er legte sie auf die Stelle, um die er den Stoffstreifen gewickelt hatte, und trug ihm auf, fest draufzudrücken. Als Ren drückte, spürte er den Puls in Toms Bein.

»Glaubst du, wir können sie um einen Arzt bitten?«, fragte Ren.

Benjamin schüttelte den Kopf, dann schaute er zur Tür. Da kam jemand.

Der Zylinder und der Strohhut traten mit gezogenen Pistolen ein. Sie pflanzten sich rechts und links vom Eingang auf. Als Nächstes kam Pilot, der erwartungsvoll seine Lederhandschuhe glatt zog. Dann hielt er einem Mann in einem gelben Anzug die Tür auf.

Der Mann kam herein, als wollte er etwas beweisen. Er hatte sein Jackett ausgezogen und trug es über der Schulter, seine Hosenträger waren straff, die Hemdsärmel aufgekrempelt und mit rosaroten Bändern festgebunden. Er war fast so dick wie Bruder Joseph und trug das meiste Gewicht in Form eines Bauches herum, der wie ein harter runder Ball vorsprang. Er durchquerte das Büro und nahm hinter dem gewaltigen Schreibtisch Platz. Er wirkte verärgert, so als hätten sie alle sich hier versammelt, um ihn von etwas Wichtigem abzuhalten. Es war klar, dass alles in diesem Raum – die Gemälde an der Wand, der Teppich unter ihren Füßen, die Fabrik hinter dem Fenster – ihm gehörte. Silas McGinty.

Er zeigte mit dem Finger auf Benjamin.

»Nab«, sagte Pilot.

»Wie kommt’s, dass ich ihn nicht kenne?«

»Weil er es bisher nicht wert war«, sagte Pilot.

»Und jetzt schon.« McGinty verlagerte sein Gewicht. Wenn er sprach, klang es, als raspelte er seine Worte durch eine Reibe, wobei einiges danebenfiel. »Und die Kinder?«

»Unsere Späher«, sagte Benjamin.

»Und da braucht Ihr gleich drei?«

»Einen für jede Richtung.«

McGinty befingerte die Bänder an seinen Ärmeln, dann wandte er seine Aufmerksamkeit endlich dem Boden zu, wo Tom stetig auf den Teppich blutete.

Benjamin legte die Hände ineinander, als bereitete er sich auf einen Handel vor. »Meine Schwester und ihre Familie sind letzte Woche am Fieber gestorben. Die Leute in der Stadt hatten Angst, die Krankheit könnte sich ausbreiten. Deshalb haben sie sie unter die Erde gebracht, ohne uns Bescheid zu sagen. Als mir das zu Ohren kam, habe ich sie und die anderen geholt, damit wir ihnen ein christliches Begräbnis zukommen lassen können.« An diesem Punkt versuchte er verhalten zu lächeln.

McGinty zog ein Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich. »Das ist eine gute Geschichte«, sagte er. »Und jetzt erzähle ich Euch eine. Es war einmal ein Schwein, das gern fraß und schlief und sich manchmal im Dreck wälzte. Eines Tages kam der Farmer, dem das Schwein gehörte, und schnitt ihm die Kehle durch, nahm ihm die Eingeweide raus und aß sein Hinterteil als Schinken. Ende der Geschichte.«

Benjamin lächelte nicht mehr.

»Ihr habt Euch im Friedhof zu schaffen gemacht«, sagte Mc­Ginty. »Nicht sehr schön. Ganz und gar nicht.«

»Bitte«, sagte Benjamin, »so hört mir doch eine Minute zu.«

Ren betrachtete McGintys sommersprossiges Gesicht, den Höcker auf seinem Nasenrücken. Er sah ihm an, dass er gleich die Geduld verlieren würde.

»Das dulde ich nicht. Nicht in meiner Stadt.« McGinty wandte sich an Pilot. »Wie viel ist er wert?«

»Siebenhundert Dollar.«

»Das ist ziemlich viel Geld. Muss was ganz Besonderes ausgefressen haben, dass er so viel wert ist.«

Pilot griff in seine Manteltasche, zog einen gefalteten Steckbrief heraus und las vor. Ein Wort nach dem anderen purzelte in den Raum: »Brandstiftung, Überfall auf einen Zug, Banküberfall, Pferdediebstahl und allgemeiner Diebstahl, Desertieren vom Militär, illegale Wetten und Glücksspiel, betrügerisches Auftreten als Gesetzesvertreter, betrügerisches Auftreten als Kapitän zur See, betrügerisches Auftreten als Geistlicher, widerrechtliche Aneignung, Landstreicherei, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Angriff mit einer tödlichen Waffe, Verunreinigung, Bummelei und Verkaufen gefälschter Ware.«

Ren sah Benjamin an, der so weiß geworden war wie das Blatt Papier in Pilots Hand. McGinty zog eine Schreibtischschublade auf und holte einen Revolver heraus. Er legte ihn auf den Tisch.

Alle sahen zu, wie er aus einer Schachtel ein paar Patronen in seine Hand schüttete und anfing, den Revolver zu laden.

»Sagt mir, Mister Nab, seid Ihr ein gläubiger Mensch?«

Benjamin schüttelte den Kopf.

McGinty ließ die Trommel zurückschnappen und hielt Benjamin den Revolver hin. »Seht Euch an, was da eingraviert ist.«

Benjamin zögerte.

»Na los«, sagte McGinty. »Lest, was da auf dem Lauf steht.«

Benjamin beugte sich vor. »Die Seelen der Gerechten ruhen in Gottes Hand.«

»Habt Ihr jemals die Hand Gottes gespürt?« McGinty säuberte die Gravur mit seinem Taschentuch, als hätte Benjamin durch das bloße Hinsehen Flecken darauf hinterlassen.

Alle warteten darauf, dass Benjamin antwortete. Ichys Magen knurrte. Tom neben der Tür verlagerte ächzend sein Gewicht. An der Wand hing eine Uhr. Bisher hatte Ren sie nicht gehört, doch nun tickte das Pendel über ihren Köpfen hin und her und hakte die Sekunden ab.

»Für das, was Ihr getan habt, kann ich Euch erschießen. Oder ich kann Euch ausliefern und die Belohnung kassieren, und in Anbetracht dieser hübschen Liste werdet Ihr hängen.« Mc­Ginty hörte auf, an dem Revolver herumzuwischen. Er ließ die Trommel kreiseln. Einmal. Zweimal. Dann deutete er mit dem Kopf auf Tom. »Er ruiniert mir noch den Teppich.«

Verängstigt sahen die Zwillinge zu McGinty hinüber. Sie hielten Tom und auch sich gegenseitig noch immer an den Händen, so dass die drei einen geschlossenen Kreis bildeten. Jetzt ließen sie Toms Hände fallen, als wäre er auf einmal ansteckend.

Ren wartete darauf, dass Benjamin eine glaubhaftere Geschichte erzählte, eine, mit deren Hilfe sie hier rauskommen würden. Aber Benjamin wankte nur, und sein Gesicht schwoll von Minute zu Minute mehr an. Ren begriff, dass er selbst etwas unternehmen musste. Er trat vor, und im Nu hatte er seine Jacke ausgezogen und breitete sie auf den Boden. Er versuchte damit das Blut aufzuwischen, scheuerte auf dem Teppich herum, dann registrierte er die Stille im Raum, und als er sich umdrehte, sah er, dass alle ihn ansahen.

McGinty stand nun hinter seinem Schreibtisch, den Revolver locker in der Hand. Sein Blick schoss von Rens Ärmel zu seinem Gesicht und wieder zurück.

»Wer ist das?«

»Niemand«, sagte Benjamin.

McGinty zog die Augenbrauen hoch. Er winkte mit dem Revolver, und Pilot hielt seine Waffe an Benjamins Hinterkopf. Es wurde noch stiller im Raum, fast als hätten alle aufgehört zu atmen; alle außer Benjamin, der zu würgen begann, als wäre er unter Wasser. Plötzlich packte der Zylinder Ren am Kragen und schleifte ihn zum Schreibtisch hinüber.

Aus nächster Nähe roch McGinty nach Pfefferminz. Ren bemerkte, dass nicht nur sein Gesicht mit Sommersprossen übersät war, sondern auch der Hals und sogar die Handrücken. Unter seinen Armen hatten sich zwei Schweißflecken gebildet, Ovale, die sich seitlich an seinem gestärkten Hemd nach unten ausbreiteten. Er ergriff Rens Arm, schob den Ärmel nach oben und starrte auf den Stumpf. Ren versuchte sich loszureißen, aber McGinty umklammerte ihn nur noch fester. Er betastete die Narbe mit den Fingerspitzen, wölbte dann seinen Handteller über den Stumpf und drückte auf den Knochen, bis es wehtat.

»Woher kommst du?«

Ren hatte zu viel Angst, um zu lügen. »Aus Saint Anthony.«

»Also ein Waisenkind?«

»Ja.«

»Glück gehabt.« Jetzt keuchte McGinty. Er ließ den Armstumpf los und kniff Ren in die Wange.

»Er ist noch ein Kind«, sagte Benjamin leise; die Pistole drückte noch immer an seinen Hinterkopf. »Er ist nichts wert.«

McGinty ließ Ren los, zog eine goldene Taschenuhr hervor und ließ den Deckel aufschnappen. Er betrachtete erst den Jungen, dann die Uhr. Dann verschränkte er die Arme und verfiel ins Grübeln; eine Zeit lang hatte er offenbar nicht das Bedürfnis, mit irgendjemandem zu sprechen. Benjamin schloss die Augen. Die anderen warteten, spürten deutlich die Hitze im Raum.

Ren sah Benjamin an, weil er auf irgendeinen Wink wartete, aber Benjamins Gesicht war starr vor Angst. Ren musste heftig schlucken. Er dachte zurück an die Zeiten, in denen er in Pater Johns Arbeitszimmer auf seine Bestrafung gewartet hatte und die Stille schlimmer gewesen war als die Schläge. Langsam wich er zurück, und damit war der Bann gebrochen. McGinty nickte Pilot zu, und der nahm seine Waffe von Benjamins Kopf.

»Ich zahle Euch mehr, als Ihr von denen bekommt«, sagte Benjamin.

»Ich will Euer Geld nicht«, sagte McGinty.

Benjamin schaute zur Tür. Da stand Pilot und säuberte sein Messer, ohne Benjamin auch nur eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen. »Ich verstehe nicht recht.«

»Ihr werdet diese Stadt noch heute Abend verlassen«, sagte McGinty. »Ich will Euch nie wieder sehen. Ich will nie wieder Euren Namen hören. Ich will nichts mehr von Euch wissen.«

Pilot machte die Tür auf. Er deutete auf den Teppich. Der Zylinder und der Strohhut hockten sich rechts und links neben Tom und rollten ihn hinein. Es geschah ohne ein Wort, so als hätten sie das schon oft gemacht. Brom und Ichy traten beiseite, und alle sahen zu, wie Tom in der Teppichrolle verschwand. Dann fassten die Hutmänner den Teppich an beiden Enden an und zogen ihn auf den Gang hinaus; die Zwillinge folgten ihnen.

Benjamin nahm Rens Hand. Sie hatten ihm einen Fingernagel ausgerissen. Als sie sich zum Gehen wandten, sah Ren den Bluterguss, der sich über seinen Fingerknöchel ausbreitete, einen kleinen dunklen Fleck. Pilot trat vor die offene Tür. Er zog den Steckbrief, den er vorgelesen hatte, aus der Tasche und faltete das Blatt einmal zusammen. Dann noch einmal.

McGinty lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Der Junge bleibt da.«

Benjamin zögerte. Seine Finger ließen Rens Hand los und wanderten zum Hinterkopf, an die Stelle, an die Pilot ihm zuvor die Pistole gedrückt hatte. Rens Herz schlug so heftig, dass ihm die Ohren pochten.

»Verabschiede dich«, sagte McGinty.

Ren wartete darauf, dass Benjamin etwas sagte. Dass er irgendeine Erklärung abgab. Weshalb das Ganze ein Irrtum war. Weshalb man sie unmöglich trennen durfte. Aber Benjamin sah ihn kaum an.

»Auf Wiedersehen«, sagte er nur.

Im nächsten Augenblick wurde Ren aus dem Raum gezerrt, das Muster des grünen Teppichs unter ihm verschwamm. Pilot schubste ihn die Treppe hinunter und an den Reihen der Mausefallenmädchen vorbei. Die Arbeiterinnen fuhren mit ihrer Arbeit fort, taten, als bemerkten sie nichts, doch Ren sah, dass ein paar verstohlen aufblickten und ihn anstarrten. Die Hasenscharte stand noch an ihrem Platz, und sie sahen einander kurz an, ehe Pilot ihn durch eine weitere Tür stieß und einen Gang entlangschleifte und ihn schließlich in einen Lagerraum schubste, in dem sich Schriftstücke und Schachteln bis zur Decke hinauf stapelten.

»Du hast wirklich Glück«, sagte Pilot. Dann machte er die Tür hinter sich zu und sperrte ab.

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