Im Krankenhaus schien alles zu schlafen, die Vorhänge waren fest zugezogen, das Gebäude zeichnete sich vor dem Nachthimmel ab, an dem die Dämmerung heraufkroch. In ein paar Stunden würden die Türen aufgehen und Arzte, Studenten und Patienten einlassen, doch vorerst stand Ren draußen und schaute durch das Tor zu den Fenstern hinauf. Hinter einem von ihnen lag Mrs. Sands, und er war fest entschlossen, sie zu sehen, bevor er North Umbrage verließ.
Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm blieb, ehe McGinty entdeckte, dass er entwischt war. Vielleicht saßen die Hutmänner schon auf ihren Pferden und kamen gleich um die Ecke. Es war riskant, hier Station zu machen, aber Ren musste sich verabschieden. Wie es danach weitergehen würde, wusste er nicht. Und er wollte sich auch gar nicht überlegen, wohin er sich wenden oder wie er für sich selbst sorgen sollte. Wenn er zu viel nachdachte, konnte er nicht weitermachen. Und weitermachen musste er. Heute und morgen. Und danach noch mindestens einen Tag.
Er hielt Ausschau nach der Glocke am Tor, ergriff das Seil und zog daran. Nach wenigen Augenblicken ging die Tür zum Keller auf, und Doktor Milton persönlich kam mit einer Laterne in der Hand heraus. Er trug noch immer einen Anzug. Verknittert zwar, aber sauber.
»Aha«, sagte der Arzt. »Da bist du ja.« Als hätte er Ren die ganze Zeit erwartet. Er holte seine Schlüssel hervor und sperrte das Tor auf. »Jetzt komm rein«, sagte er. »Sie warten schon. Wir wollten gerade anfangen.«
Ren folgte dem Arzt durch den Hof zu der Tür, die in den Keller führte. Hinter ihnen schob Doktor Milton den Riegel vor. Die Metallrutsche für die Leichen führte an den Treppenstufen entlang nach unten. Die Wände waren mit Spinnweben überzogen. Ren konnte kaum sehen, wo er den Fuß hinsetzte, und streckte beim Hinuntergehen die Arme aus, um sich vorwärtszutasten. Am Fuß der Treppe gelangten sie in einen feuchten, kühlen Raum mit gestampftem Lehmboden. Öllampen erleuchteten den Keller, in dem mehrere Operationstische standen. Ausgestreckt auf einem in der Mitte lag Tom. Die Zwillinge knieten rechts und links von ihm am Boden und hielten wieder seine Hände.
Als Ren sie erblickte, erfasste ihn eine Woge der Erleichterung. Die Angst, die ihn niedergedrückt hatte, fiel von ihm ab, als die Zwillinge aufstanden und ihn beim Namen riefen. Brom lachte, und Ichy stürzte sich auf seinen Freund. Ihre Kleider waren immer noch völlig verdreckt. An den Armen hatten sie jede Menge Kratzer und blaue Flecken, aber sie waren die Jungen aus Saint Anthony. Ihr Unglück hatte sich in Glück verwandelt.
»Wie seid ihr hierhergekommen?«, fragte Ren.
»Brom hat einen Eselskarren gestohlen.«
»Die Frau, der er gehörte, hat ihre Schweine hinter uns hergehetzt.«
»Wir haben sie mit Steinen beworfen.«
»Wir haben dich gesucht.«
»Aber Papa hat gesagt, wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen.«
»Dann hat er angefangen zu schreien.«
»Dann hat er uns geschlagen.«
»Und dann hat er gar nichts mehr gesagt.«
»Wir hatten Angst, dass er stirbt, bevor wir hier ankommen.«
»Aber wir haben gebetet«, sagte Ichy. »Und er ist nicht gestorben.«
Ren blickte auf das hagere Gesicht des Schullehrers hinunter. Aus seinen Wangen war alle Farbe gewichen. Sein Bart war zerzaust und voller Holzsplitter und Grashalme. Ren zupfte ihm unter dem Kinn eine Klette weg.
Tom schlug die Augen auf. »Wo ist Benji?«
Die Freude, die Ren beim Anblick seiner Freunde empfunden hatte, verflog. Er schaute sich im Raum um, sah aber überall nur Arzneifläschchen und Haken und Körbe und Eimer voller Wasser. »Ist er denn nicht bei euch?«
Die Zwillinge schüttelten den Kopf.
Tom stöhnte. Sein Bein war angeschwollen, so dick wie ein Baumstamm, die Haut rot, zum Zerreißen gespannt und voller Blasen. Plötzlich bekam Ren Angst, Tom könnte sterben. Und die Zwillinge dachten dasselbe, das sah er ihnen an.
Doktor Milton kam näher und stellte die Laterne auf den Tisch. »Allem Anschein nach ist das ein unerwartetes Wiedersehen. Aber wenn ihr verhindern wollt, dass sein Bein abgeschnitten werden muss, wird es Zeit, an die Arbeit zu gehen.«
Der Arzt gab jedem Jungen genaue Anweisungen. Ichy musste die Wunde säubern, Brom sollte mit dem Verbandszeug bereitstehen, und Ren sollte Doktor Milton dabei helfen, das Bein einzurichten. Sie mussten alle vier Hand in Hand arbeiten, um den Knochen einzurenken. Doktor Milton begab sich in den hinteren Teil des Raums, sperrte eine Tür auf und kam wenig später mit einer Flasche Whiskey zurück. Brom hielt die Flasche fest, und Tom saugte daran wie ein Säugling an der Brust. Die Jungen halfen Doktor Milton bei seinen Vorbereitungen und warteten dann, während er zu Tom sagte, er müsse sich jetzt bereit machen. Tom war schon halb im Delirium, als sie ihm seinen Ledergürtel zwischen die Zähne klemmten. Rens Hand zitterte vor Erwartung, als er sie auf Toms Fußknöchel legte.
Der Arzt zog seinen Rock aus. Er krempelte die Ärmel hoch. »Seid Ihr so weit?«
Tom nickte.
»Jetzt«, sagte Doktor Milton.
Ren packte den Knöchel, drehte ihn gerade und zog daran. Sofort fiel das Leder aus Toms Mund, und er brüllte lauter als Mrs. Sands. Lauter als die Männer unter der Straßenlaterne. Brüllte so laut, als Doktor Milton auf die Bruchstelle drückte und den Knochen unter der Haut mit Gewalt an seinen Platz schob, dass Ren schier das Trommelfell platzte; dann gingen seine Ohren zu, und zurück blieb ein merkwürdig verschwommenes dumpfes Dröhnen.
Ichy nahm die Seife und das abgekochte Wasser, das sie vorbereitet hatten, und goss es langsam, ganz langsam über die Wunde, bis ihre Hände aufgeweicht waren und Toms Kleider durchnässt und der Boden voller Wasser.
Brom nahm die Baumwollbinde und begann das Bein einzuwickeln.
»Nicht zu fest«, sagte Doktor Milton, während er den Knochen an Ort und Stelle hielt. Nachdem der Verband angelegt war, ging er daran, das Bein zu schienen, während Ichy Tom die Stirn abwischte. Brom trat vom Tisch zurück und zog Ren beiseite.
»Doktor Milton möchte wissen, wo die Leichen sind«, flüsterte er.
»Was hast du ihm denn gesagt?«
»Wir haben gesagt, dass du sie hast.« Er berührte Ren an der Schulter. »Wir hatten Angst, dass er Papa sonst nicht hilft.«
Doktor Milton machte eine Schlinge für Toms Fuß fertig. Er band eine Stütze unter den Fuß, dann befestigte er vorsichtig zwei Holzlatten am Bein, die von der Hüfte bis über die Ferse hinabreichten.
»Mit einer Krücke wird er bald wieder gehen können.« Er schob Tom eine Decke unter den Kopf. »Ich gebe euch eine Salbe mit, die die Schwellung lindert, und etwas zum Trinken gegen die Schmerzen.«
Brom ergriff wieder Toms Hand. Ichy beugte sich über ihn und fing an, ihm das Unkraut aus dem Bart zu zupfen. Der Arzt bedeutete Ren, ihm in den hinteren Teil des Kellers zu folgen, in dem er vorhin verschwunden war, um den Whiskey zu holen. Er schloss die Tür auf und führte Ren in sein Arbeitszimmer.
Die Wände standen voll mit Regalen, in denen ein Durcheinander aus Büchern, Schriftstücken und beschrifteten Glasbehältern herrschte. Das einzige Fenster war überstrichen. Der Sperrriegel vorgeschoben. Auf dem Schreibtisch, der mit Flaschen und Vergrößerungsgläsern und Schachteln mit getrockneten Schmetterlingen übersät war, räumte er ein Plätzchen frei. Unverzüglich machte er sich an die Arbeit, wie ein Koch in seiner Küche, holte ein Pulver aus diesem Regal, ein paar Kräuter aus jenem und zerrieb das Ganze dann in einem uralten Mörser.
Ren hielt die Laterne hoch. In der dunkelsten Ecke des Raums schimmerte etwas. Dort stand ein Tisch, und darauf lag, von einer Decke verhüllt, etwas Großes. Ren ging hin und stellte die Lampe ab. Neben dem Tisch stand ein mit Wasser gefülltes Becken, in dem mehrere glänzende Messer lagen. Auf einmal tauchte Dollys Bild vor Rens Augen auf. Seine Handflächen wurden feucht. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, als er die Hand ausstreckte und die Decke zurückschlug.
Auf der Tischplatte lag ein Mann. Er lag auf einem flachen Tablett mit hochgezogenen Rändern, schwamm in einer süßlich riechenden, braunen Flüssigkeit. Man hatte ihm beide Beine abgenommen, und in seinem Rumpf klaffte, von der Kehle bis zu den Lenden, ein Loch. Ren konnte die vorstehenden Enden seiner Rippen erkennen. Seine Haut sah so dick und zäh aus wie Gummi, aber innen war der ganze Körper leer. Alle Organe waren verschwunden. Man sah nur einen Hohlraum, rot und weiß und an einigen Stellen violett, völlig ausgeräumt, feucht und glänzend. Der Mann hatte nichts Menschliches mehr an sich, sein Gesicht war eingefallen. Man sah noch, dass er blondes Haar gehabt hatte, und in die Haut an seiner Schulter war eine Drossel tätowiert.
Doktor Milton hatte das Pulver fein zerrieben und schüttete es in ein Gefäß mit einer zähen Flüssigkeit; dann zog er eine Uhr aus seiner Weste und warf einen Blick darauf. »Das muss jetzt zehn Minuten quellen.« Er räusperte sich und ging hinüber zu dem Mann auf dem Tisch. »Wahrscheinlich fragst du dich, warum ich Whiskey verwende.« Doktor Milton tauchte einen Finger in die Schale und strich damit über die Haut an Rens Arm. »Merkst du, wie schnell er verdunstet? Der Alkohol verhindert, dass die Leichen zu schnell verwesen. Trotzdem halten sie sich nur ein paar Tage. Ich bin immer noch auf der Suche nach einer besseren Möglichkeit.«
Der Arzt holte seine Pfeife hervor, doch statt sie anzuzünden, stieß er sie dem Toten zwischen die Rippen, hob die Haut auf dem Tablett ein Stück an und spähte darunter. »Dieser Mann hat heute wahrscheinlich zehn Menschenleben gerettet. Ich kann das von mir nicht behaupten. Du vielleicht?«
Rens Kehle war trocken. Der Geruch des abgestandenen Whiskeys stieg ihm in die Nase. Er wich zurück, bis er mit dem Rücken an die Wand stieß. Er konnte die knubbeligen Knochen der Wirbelsäule sehen, die hart und weiß wie Fingerknöchel unter einer dünnen Muskelschicht hervorstachen.
»Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen«, sagte Doktor Milton. Er holte eine Flasche mit Lavendelwasser aus dem Regal, tupfte etwas davon auf ein Taschentuch und gab es Ren. »Das geht beim ersten Mal jedem so. Aber man gewöhnt sich dran.«
Ren hielt sich das Tuch vors Gesicht und atmete tief ein. Seine Stimme klang gedämpft. »Und wie?«
Der Arzt führte unter dem Kinn seine Fingerspitzen zusammen. »Vermutlich so, wie man sich an alles Unangenehme gewöhnt. Man schaltet seine Sinne aus und schaut über die anstehende Aufgabe hinaus. Irgendwann ergreift eine Art Taubheit von einem Besitz, und man stellt fest, dass man alles tun kann.«
Ren ließ das Taschentuch sinken und betrachtete wieder die Leiche. Als er würgen musste, hielt er sich das Stück Stoff rasch wieder unter die Nase.
Doktor Milton wirkte enttäuscht. Er breitete das Laken über den Kadaver und nahm die Schüssel mit den Messern an sich. »Eigentlich solltet ihr fünf Leichen bringen. Meine Studenten warten darauf.«
Ren stützte sich an der Wand ab. Sie war kühl, und als er die Finger wegnahm, waren sie feucht von Kondenswasser. »Wir gehen weg«, sagte er. »Ihr werdet keine mehr bekommen.«
Der Arzt setzte die Schüssel wieder ab; etwas von dem rosafarbenen Wasser schwappte über den Rand. »Was für eine Enttäuschung!« Er durchquerte den Raum, zog eine Schreibtischschublade auf und holte ein Notizbuch heraus. Er fasste sich an die Stirn, als verspürte er plötzlich einen Schmerz, und räusperte sich noch einmal. »Dann ist das das Ende unserer gemeinsamen Zeit.«
»Ja.«
»Und wie wollt ihr für das Bein bezahlen, das ich gerade eingerichtet habe? Und für die weitere Pflege eurer Hauswirtin?«
Ren schob seine Hand in die Tasche, um festzustellen, ob er irgendetwas anzubieten hatte, und ertastete McGintys goldene Uhr. Er übergab sie dem Arzt. Doktor Milton ließ den Deckel aufschnappen, betrachtete das Porträt und gab sie ihm zurück.
»Kannst du lesen?«
»Ja«, sagte Ren.
»Dann habe ich eine bessere Idee.«
Doktor Milton zog einen Stuhl an den Schreibtisch, klappte die Platte hoch, holte ein Blatt Papier heraus und tauchte einen Federhalter in ein Tintenfass. Während er schrieb, betrachtete Ren die Bücher ringsum. Sie standen und lagen kreuz und quer in den Regalen, stapelten sich auf dem Boden zu hohen Türmen, wie die Bücher in Mister Jeffersons Antiquariat. Ren beugte sich etwas nach links, um die Titel auf einigen Buchrücken lesen zu können: Gebet und Praxis. Eine Geschichte der Phrenologie. De Humani Corporis Fabrica.
»Hier«, sagte Doktor Milton, drückte ihm den Federhalter in die Hand und trat vom Schreibtisch zurück. »Du kannst auch mit einem X unterzeichnen, wenn du deinen Namen nicht schreiben kannst.«
Auf dem Papier stand, dass Ren ein zwölfjähriger Junge sei und Doktor Milton diese Tatsache bezeuge, und dass er, in voller Kenntnis der Gesetze dieses Landes, seinen Körper nach seinem Ableben dem Krankenhaus von North Umbrage übereigne, auf dass dieser für die höheren Zwecke der Wissenschaft nutzbar gemacht werden, zum tieferen Verständnis und Wissen über die Anatomie beitragen und somit der menschlichen Spezies und der gesamten Menschheit zum Wohle gereichen möge.
Ren blickte von dem Schriftstück auf.
»Du brauchst mir deinen Körper nicht jetzt zu geben«, sagte Doktor Milton. »Es ist ein Versprechen. Für die Zukunft.«
Der Federhalter fühlte sich schwer an, genauso schwer wie damals das Chirurgenmesser, und Ren stellte sich vor, wie es durch seine Haut schnitt, die Muskelschicht ablöste und seinen Brustkorb bis auf die Knochen freilegte. Was für eine Arbeit das wäre! Ren spürte einen Krampf in der Magengegend. Er drückte seinen Arm auf die Rippen. Er war innen nicht hohl, noch nicht, trotz allem, was ihm seinem Empfinden nach fehlte.
Tinte kleckerte auf seine Hand. Ren legte die Finger um die Schreibfeder und schrieb seinen neuen Namen, jenen Namen, der ihm so wenig vertraut war, jenen Namen, den er sich nie für sich hätte vorstellen können.