Kapitel 7

Hungrig und durstig kamen sie am späten Nachmittag in Granston an; ihr Pferd war schweißbedeckt. Die Läden und Häuser schmiegten sich an die kreisrunde Küstenlinie des Hafenstädtchens, und eine kleine Mole mit einem Leuchtturm ganz am Ende diente als Auslass zum Meer. Alle Straßen führten zum Wasser, und so dauerte es nicht lang, bis sich der Wagen im Getümmel am Hafenbecken befand. Fischer entluden Netze voll eingesalzenem Fisch und stapelten Kisten voller Krabben und Hummer, die noch lebten und mit ihren Scheren nach den Latten schnappten. Fässer mit Öl wurden von den Walfangschiffen gehievt, von tätowierten Männern mit harten Muskeln. Aus den Bäuchen der Handelsschiffe kamen Behälter mit Gewürzen und Tuchballen und Kisten voller Geschirr.

Die Händler verkauften ihre Ware gleich auf der Straße, priesen sie reißerisch an und feilschten, während die Käufer das Angebot sichteten und Geld die Besitzer wechselte. Ein Fischer packte einen zappelnden Oktopus und riss ihm ein Bein aus, bevor er ihn auf eine am Hafenbecken aufgestellte Waage legte. Ein Matrose hob einen Affen über seinen Kopf. Ein paar Frauen, die gekleidet waren wie für ein Fest, ausstaffiert mit Satinhandschuhen und Spitzentüchern, stemmten eine Kiste mit Gläsern auf und inspizierten diese gleich vor Ort. Ein Soldat spannte einen Schirm auf und hielt ihn gegen die Sonne. Durch das grün bemalte Papier veränderte sich die Farbe des Lichts. Über den Köpfen der Menge ragten die Masten der großen Schiffe kerzengerade in den klaren blauen Himmel. Eine Horde verdreckter Kinder kletterte schreiend von einem Mast zum anderen, sie balancierten auf den Leinen und schwangen sich daran ins Hafenwasser. Und über allem hing Fischgestank.

Ren hatte den Fisch schon aus mehreren Meilen Entfernung gerochen, noch ehe sie die Stadt erreichten. Als Pferd und Wagen um eine Ecke bogen, waren sie plötzlich in den fauligen Geruch eingehüllt, als wären sie in einen Nebel geraten. Der Gestank verdrängte das Bild der Farmersfrau, das Ren verfolgte, seit sie das Farmhaus verlassen hatten, und als sie schließlich am Kai ankamen, vermochte er neben diesem Geruch keinen anderen mehr wahrzunehmen.

Die Sonne spiegelte sich im Wasser, und Ren hob die Hand, um seine Augen abzuschirmen. Er hatte noch nie das Meer gesehen, und nun lag es ausgebreitet vor ihm, die Wellen kräuselten sich zu Mustern aus Licht, die bis zum Horizont verliefen, ein gigantisches wogendes Wesen aus Raum und Weite. Ren war es, als hätte sich seine Stirn aufgetan, und die Brise, die von den Wellen her wehte, würde durch ihn hindurchfließen und all die verworrenen Gedanken in seinem Kopf beiseiteschieben und Raum für etwas Neues und Aufregendes schaffen.

Er spähte über den Rand des Hafenbeckens. Klumpen aus braunem Seegras wiegten sich in der Strömung hin und her wie Felder im stürmischen Wind. Miesmuscheln und Strandschnecken überzogen das faulige Holz, dazwischen Bänder scharfer weißer Entenmuscheln. Möwen ruhten sich auf den Spitzen der Holzpfähle aus oder schossen kreischend und furchtlos aus der Luft herab.

Benjamin führte das Pferd vom Wasser weg, und sie überquerten drei Straßen; nach und nach wichen die runden Pflastersteine unbefestigten, sandigen Fahrwegen. Aneinandergebaute Holzhäuschen reihten sich zu beiden Seiten – die Quartiere von Seeleuten, die nur wenige Wochen im Hafen blieben, oder von Fischern, die auf die nächste Fahrt zur Neufundlandbank warteten. Die Straße zwängte sich zwischen den Gebäuden hindurch, wurde schmaler und immer schmaler, bis der Karren kaum mehr durchpasste.

Vor ihnen unterhielten sich zwei Frauen mit einem Soldaten. Sie trugen mehrere Schichten bunter Kleider mit tief ausgeschnittenen Miedern und hatten Rouge auf den Wangen. Eine der beiden Frauen hob ihre Röcke, und die andere legte dem Soldaten einen Arm um die Taille. Benjamin musste die Fahrt verlangsamen, damit der Wagen an den dreien vorbeikam. Als sie vorüberfuhren, verbarg er sein Gesicht. Ren hatte noch nie solche Frauen gesehen. Er drehte sich um, um sie länger anschauen zu können, und der Soldat grinste ihn an und zwinkerte ihm zu.

Vor einem verlassenen Gebäude zwei Straßen weiter hielten sie an. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt und die Ziegel geschwärzt, als hätten sie ein Feuer überstanden. Benjamin übergab Ren die Zügel und öffnete ein gesplittertes Holztor, das in einen kleinen Hof führte. Er band das Pferd fest und ging mit Ren zur Hinterseite des Hauses, wo sie vor einer verrotteten Tür stehen blieben, die schief in den Angeln hing. Er klopfte. Sie warteten. Er klopfte noch einmal. Drinnen hörte man jemanden schlurfen.

»Wer ist da?«, fragte eine leise Stimme durch die Ritzen.

»Ich bins nur«, sagte Benjamin. »Lass uns rein.«

Ren hörte, wie sich jemand an den Metallschlössern zu schaffen machte. Ein korpulenter Mann mit dichtem rotem Bart öffnete die Tür so vorsichtig, als handelte es sich um eine Gefängniszelle, stand dann im Türrahmen und blinzelte sie an. Sein Hemd sah aus, als hätte er darin geschlafen, und das eine Hosenbein hatte von oben bis unten einen Fleck.

»Du siehst gut aus«, sagte Benjamin.

»Du lügst«, sagte der Mann. »Und wer ist das? Noch ein Opfer?«

»Mein Sohn«, sagte Benjamin.

»Ha!«, sagte der Mann.

»Lässt du uns jetzt rein oder nicht, Tom?«

Der Mann murmelte etwas, trat dann beiseite und ließ sie vorbei. Eine kleine Treppe führte hinunter in einen Kellerraum. Der Boden bestand aus festgestampfter Erde, die Wände aus weiß getünchtem Stein. Es gab ein schäbiges, durchhängendes Bett und einen Tisch mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch stand eine Kerze, daneben ein Teller mit mehreren ausgeklopften Pfeifen. Neben dem Bett stand eine Batterie leerer Flaschen.

»Besuch?«, fragte Benjamin.

»In letzter Zeit nicht«, sagte Tom. Er beäugte Ren argwöhnisch.

Benjamin nahm eine Pfeife vom Tisch und wischte mit einem Finger den Pfeifenkopf aus. Rußgeschwärzt zog er ihn heraus und schrieb damit auf den Tisch – A, B, C. Dann wandte er sich an Ren. »Dieser Mann war früher mal Lehrer.«

Auf einmal befürchtete Ren, Benjamin könnte ihn hierlassen. »Ich kann schon schreiben.«

»Siehst du, wie schlau er ist?« Benjamin nahm eine der Flaschen und schenkte sich ein. »Ich dachte, wir könnten Hilfe gebrauchen.«

»Bei was?«, fragte Tom. »Wir müssen weiterziehen. Da können wir kein Kind mitschleppen.«

»Das ist kein Kind.« Benjamin packte Rens Ärmel und schob ihn hoch, so dass die Narbe zum Vorschein kam. »Das hier ist eine Goldmine.«

Tom kniff die Augen zusammen, dann schüttelte er den Kopf. »Um Gottes willen, Benji«, sagte er.

»Dieser Junge gehört mir seit vierundzwanzig Stunden, und seitdem habe ich eine gute Mahlzeit bekommen, was zu rauchen, einen Platz zum Schlafen, und ich bin in den Besitz von einem Pferd und einem Wagen gelangt.«

»Dann willst du ihn also als … als Köder benutzen?«

»Er wird uns die Türen öffnen. Jedenfalls so weit, dass wir reinkommen.« Benjamin langte über den Tisch und nahm die Whiskeyflasche an sich, gerade als Tom sich ein Glas einschenken wollte.

»Du hast ja keine Ahnung von Kindern«, sagte Tom. »Das sind kleine Ungeheuer. Machen nichts als Ärger.«

»Dann ist er eben unser kleines Ungeheuer«, sagte Benjamin.

Tom sackte auf seinem Stuhl zusammen. Er brachte keine Einwände mehr vor. Benjamin wartete noch eine Minute, dann stellte er den Whiskey wieder auf den Tisch. Der Schullehrer schnappte sich die Flasche und schenkte sich noch ein Glas ein.

»Dann ist es also beschlossene Sache.«

Benjamin nickte, und Ren begriff, dass in Wirklichkeit nie Zweifel über seinen Verbleib bestanden hatten. Tom schmollte ein bisschen und nippte an seinem Whiskey, und Benjamin putzte seine Brille, klappte sie dann behutsam zusammen und steckte sie in die Tasche. »Jetzt muss ich das Pferd ausspannen, bevor jemand anders es klaut«, sagte er, drehte sich um und ging wieder die Treppe hinauf.

Sobald sie allein waren, leerte Tom Rens Taschen aus. Viel fand er nicht darin. Die drei gestickten Buchstaben von Rens Namen landeten auf dem Tisch, zusammen mit dem Stein, den Ichy ihm geschenkt hatte. Dann zog Tom ihm Das Leben der Heiligen unter dem Hemd hervor. Er hielt das Buch über die Kerze und betrachtete es. Im Kerzenschein sah Ren, dass der Mann jünger war, als er gedacht hatte. Seine Lippen waren rissig, sein Bart stand wild nach allen Seiten ab, und seine Augen waren dunkelgrün wie das Meer, so grün wie das Wasser vorhin im Hafen. Tom untersuchte den Buchrücken, strich mit den Fingern über das Leder, schlug dann den Buchdeckel auf und begann zu lesen. Stirnrunzelnd blätterte er die Seiten um. Ren wünschte sich, Benjamin möge zurückkommen.

»Glaubst du das alles wirklich?«, fragte Tom schließlich.

»Nein«, sagte Ren, obwohl es so war.

Tom drehte das Buch um und strich mit der flachen Hand darüber. »Könnte einiges wert sein.«

»Ich möchte es nicht verkaufen.«

»Das hast nicht du zu entscheiden.« Tom schob eine Hand unter seinen Bart und zupfte an der Haut dort herum.

Ren ließ seinen Blick durch den Raum wandern, über die getünchten Steinwände, die leeren Flaschen und das durchgelegene Bett. »Wohnst du wirklich hier?«

»Jedenfalls seit einem Monat.« Tom legte das Buch auf den Tisch, schob jetzt auch die zweite Hand unter seinen Bart und kratzte weiter, wobei seine Finger ganz in dem roten Haarwust verschwanden. »Wir ziehen von einem Ort zum anderen. Wo immer die Arbeit uns hinführt.«

»Welche Arbeit?«

»Schwer zu sagen«, sagte Tom. »Das ändert sich ständig. Wie schon Ophelia sagte: ›Wir wissen, was wir sind, aber wir wissen nicht, was wir sein können.‹« Er zupfte etwas aus seinem Bart, rollte es zwischen den Fingerspitzen und schnippte es schließlich auf den Boden. »Meistens verkaufen wir Sachen.«

»Was für Sachen?«

Tom beugte sich vor, bis sein Gesicht auf gleicher Höhe mit dem des Jungen war; er musterte ihn mit seinen grünen Augen, als wollte er entscheiden, ob er ihm trauen konnte oder nicht. Als Ren seinem Blick standhielt, zeigte Tom auf einen Koffer in der Ecke. »Na los«, sagte er, »mach ihn auf.«

Der Koffer war aus Holz und wurde von einem Lederriemen zusammengehalten. Ren wischte eine dünne Staubschicht von der Oberseite, fädelte den Riemen durch die Schnalle und zog den Splint heraus. Krachend klappte der Koffer auf. Er enthielt lauter kleine Glasfläschchen, etwa zwei Dutzend, jedes mit einem Korken verstöpselt und mit dem gleichen handgeschriebenen Etikett versehen: Doktor Fausts medizinisches Salz für angenehme Träume.

»Ist das alles, was noch übrig ist?« Benjamin stand unter der Tür.

»Mehr konnte ich nicht retten«, sagte Tom. »Der Rest ist Eigentum des Staates New Hampshire.«

Benjamin nahm ein Fläschchen heraus, entkorkte es und roch am Korken. »Möglicherweise haben wir etwas zu viel Opium genommen.«

»Daran besteht wohl kein Zweifel.« Tom stieß Ren mit dem Ellbogen an. »Er hat die Frau des letzten Bürgermeisters in einen Springteufel verwandelt.«

»Nicht mit Absicht«, sagte Benjamin.

»Trotzdem«, sagte Tom. »Ich glaube nicht, dass wir noch mehr davon verkaufen sollten.«

»Wir verdünnen es einfach.« Benjamin drehte das Fläschchen in seiner Hand hin und her und hielt es dann ans Licht. »Wir nennen es einfach anders. Schreiben neue Etiketten.«

»Da würde ich doch lieber eine Bank ausrauben«, sagte Tom.

Man merkte deutlich, dass die Männer sich seit Jahren kannten. Sie sprachen unbefangen miteinander und fluchten, ohne in Rage zu geraten. Tom spuckte zwar große Töne, aber Ren bemerkte, dass er ununterbrochen schwankte, und ein Hauch von Benjamin hätte genügt, um zu entscheiden, wo er umkippen würde.

»Wir warten bis zum Frühjahr«, sagte Benjamin. »Bis wir so weit sind und weiterziehen. Dann fangen wir wieder an, das Zeug zu verkaufen.«

Tom wischte sich das Gesicht ab. »Einverstanden.«

»Ist noch Geld da?«

Es wurde unangenehm still, und dann fing Tom an zu lachen. Benjamin lächelte ebenfalls, als hätte er damit gerechnet. Er nahm eine der Pfeifen, die auf dem Tisch lagen. Aus dem Beutel in seiner Manteltasche zupfte er etwas Tabak und stopfte ihn mit dem Daumen in den Pfeifenkopf. »Dann sollten wir fischen gehen. Bevor der Boden gefriert.«

»Wir brauchen noch eine Schaufel.«

»Was ist mit der, die ich gekauft habe?«

Tom hob die Flasche und schwenkte sie.

Benjamin schüttelte den Kopf. »Eines Tages wirst du noch deine Seele verkaufen.«

Tom schenkte sich noch ein Glas ein. »Deine auch«, sagte er.

»Wieso brauchst du eine Schaufel, wenn du fischen gehen willst?«, fragte Ren.

Die Männer wirkten einen Moment lang peinlich berührt. Dann zeigte Tom mit dem Finger auf Benjamin. »Hab ich’s dir nicht gesagt? Kleine Ungeheuer.«

Benjamin zündete die Pfeife in seiner Hand an der Kerze an. Er sog am Mundstück, und zwischen seinen Lippen kam ein dünner Rauchfaden hervor. »Wir brauchen eine Schaufel, um Würmer auszugraben.«

Ren lehnte sich an den Tisch. Von dem Tabakgeruch wurde ihm ganz schwach. Seit der Mahlzeit bei den Farmersleuten hatte er nichts mehr gegessen. Er hatte auf ein Abendessen gehofft, und nun wurde ihm klar, dass er an diesem Tag wahrscheinlich nichts mehr bekäme und am nächsten vielleicht auch nicht, wenn Benjamin keinen Fisch fing. Bei diesem Gedanken begann sein Magen zu knurren, und die Männer unterbrachen ihr Gespräch.

»Es hat Hunger«, sagte Tom.

»Irgendwas muss doch da sein.«

Benjamin durchsuchte die leeren Küchenschränke und zog die Schubladen auf.

Tom wollte sich noch ein Glas einschenken, aber die Flasche war leer. Er machte ein finsteres Gesicht. »Dabei hast du so große Töne gespuckt, als du losgezogen bist. Aber ich wusste, dass du mit leeren Händen zurückkommst.«

»Ich komme nicht mit leeren Händen«, sagte Benjamin. »Ich habe einen Jungen.«


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