In der Werft wurden Schiffe aller Art aus dem Wasser gehoben. Zimmerleute krochen unter den Stützbalken herum; um den Hals trugen sie wollene Schals und an den Händen Handschuhe ohne Finger. Die Männer kratzten die Rückstände von einem halben Jahr des Umherfahrens von den Schiffsrümpfen, entfernten den Muschelbelag und ersetzten das Holz dort, wo es durchgefault war, dichteten die Fugen zwischen den Planken mit Werg und Teer ab. Ren sah ein Schiff im Bau, dessen kahle Rippen, mindestens siebzig Fuß lang, wie Fischgräten in den Himmel stachen. Auf einem Schoner waren die Schiffsbauer gerade dabei, den Mast zu setzen, einen gewaltigen, von seinen Ästen befreiten und glatt gehobelten Baumstamm, der langsam mit Seilen an Ort und Stelle gehievt und dann, gut geschmiert, in den Bauch des Schiffes hinabgelassen wurde.
Neben der Werft gab es eine Ladenzeile, wo Flaschenzüge und Netze und Tauwerk verkauft wurden, Messingbeschläge und Segel und Anker; Salz und Eis und Ruder und Ölzeug und Eimer und Harpunen. Es roch nach Handel, nach Holzspänen und Politur. Tom führte sie um die Ecke zu einem wackeligen Treppenaufgang. Seitlich am Gebäude war ein verblasstes Schild angenagelt, auf dem in roter Schrift mister bowers, zahnheilkunde und zahnersatz stand. Die darunter ins Holz eingebrannte Hand zeigte die steile Wendeltreppe hinauf.
Tom und Benjamin sahen einander an, dann gaben sie Ren einen leichten Schubs, und der Junge stieg langsam die Treppe hinauf, gefolgt von den beiden Männern. Das Geländer wackelte, und die Stufen drohten unter ihren Füßen durchzubrechen. Noch ehe Ren oben angelangt war, schob sich ein Männerkopf über den Rand des Geländers und schaute zu ihnen herunter.
Der Mann hatte eingefallene, mit grauen Stoppeln bedeckte Wangen und trug eine uralte Perücke mit dichten weißen Locken, die seinen nahezu kahlen Schädel nur zur Hälfte bedeckte. In seinem Kragen steckte eine Serviette. Als sie weiter hinaufstiegen, bemerkte Ren, dass eines seiner Augen übel zugerichtet war. Fast ganz zugeschwollen, die Haut ringsum dunkelviolett.
»Mister Bowers?«, fragte Tom.
»Wer will das wissen?«
»Unser Junge hat Zahnschmerzen«, sagte Benjamin und deutete auf Ren.
»Für gewöhnlich kommt meine Kundschaft nicht so früh«, sagte Bowers. Er wirkte unschlüssig, doch sobald sie oben an der Treppe angelangt waren, schien er sehr darauf bedacht, dass sie nicht wieder kehrtmachten. Sein Atem roch nach Kaffee mit übermäßig viel Zucker. Seine Hände waren feucht. »Kommt herein, kommt herein.«
Die Ordination bestand aus nur einem Raum, mit einem verblichenen Teppich auf dem fleckigen Holzboden und Zeitungsannoncen anstelle von Tapeten. In der Mitte stand ein gepolsterter Stuhl mit einem Fußschemel, daneben ein Tisch und ein großer Laborschrank mit Glastüren. Auf dem Tisch befanden sich eine Waschschüssel mit rosa gefärbtem Wasser und ein aufgeklappter Kasten mit Instrumenten – kleinen Hämmern, Zangen, Bohrern und Feilen. Entsetzt betrachtete Ren die Werkzeuge und hoffte, sie würden gar nicht erst in die Nähe seines Mundes kommen.
Neben dem Kasten waren die Reste von Mr. Bowers’ Frühstück: ein Stück dunkles Brot mit Marmelade und ein Becher Kaffee. Bowers zog die Serviette aus seinem Kragen und breitete sie über den Teller. Dann hielt er inne.
»Magst du Marmelade?«, fragte er Ren.
»Ja«, sagte Ren in der Hoffnung, der Mann würde ihm welche anbieten.
Bowers schob die Unterlippe vor und sah Ren an, als wäre er sehr weit weg. Dann langte er in seinen Mund und holte seine Zähne heraus, erst oben, dann unten. Sie waren mit Draht verbunden – ein komplettes Gebiss. Feucht glänzend lagen sie auf seinem Handteller. Ohne sie wirkte sein Mund eingesunken, und die Haut hing lose um sein Kinn.
»Das passiert mit Leuten, die Marmelade essen.« Bowers grinste oder versuchte es zumindest, so gut es ohne Zähne ging. Dann schob er sein Gebiss wieder in den Mund. Nachdem er es eingepasst hatte, zog er seinen Kittel straff, rückte die Perücke zurecht und sagte: »Setz dich.«
Ren starrte noch immer auf Mr. Bowers’ Gebiss. Benjamin musste ihm einen Schubs geben, damit er auf den gepolsterten Stuhl kletterte.
»Dann wollen wir mal einen kurzen Blick reinwerfen«, sagte Bowers. Ren riss den Mund auf, und der Mann beugte sich über ihn und schaute hinein. »Wo liegt denn das Problem?«
»Meine Zähne wackeln«, sagte Ren.
»Tatsächlich?«, sagte Bowers. Er tastete Rens Zahnfleisch ab, erst unten, dann oben, strich mit einem Fingernagel über die Zunge und ruckelte hin und wieder an einem Zahn. An der Stelle, wo Ren sich Vorjahren einen Backenzahn ausgeschlagen hatte, hielt er inne und betastete die Lücke. Seine Finger waren salzig.
»Die haben wir gesammelt«, sagte Tom. Damit legte er sein Taschentuch voller Zähne auf den Tisch, neben den Ellbogen des Zahnklempners.
»Aha«, sagte Bowers mit Blick auf das Taschentuch. »Das ändert die Sache natürlich.« Er nahm seine Finger aus Rens Mund, tauchte sie in die Schüssel mit dem rosafarbenen Wasser und trocknete sie an seinem Kittel ab. Ren kletterte vom Stuhl herunter, erleichtert, dass sein Teil der Vorstellung damit beendet war. Im Mund hatte er noch immer den Geschmack von Mr. Bowers’ Fingern.
Bowers ging hinüber ans Fenster, zog die Vorhänge zu, dann schloss er die Tür und drückte mit einer Hand gegen das Holz, während er den Schlüssel im Schloss umdrehte. Er knotete das Taschentuch auf und breitete die Zähne auf dem Tisch aus. Aus dem Instrumentenkästchen nahm er eine kleine Pinzette und eine Lupe. »Die sind frisch.« Bowers betrachtete prüfend einen Backenzahn. »Von einer jungen Frau. Drei- oder vierundzwanzig. Vermutlich«, fuhr er fort, während er die Lupe über den Zahn senkte, »im Kindbett gestorben. Vom Knirschen etwas abgeschmirgelt, wie man sieht.«
»Wie viel sind sie wert?«, fragte Tom.
»Schwer zu sagen.« Bowers kehrte seinen Besuchern den Rücken und hielt einen Schneidezahn ins Licht, das durch den Vorhang drang. »Sehr Ihr das? Diesen Riss? Das bedeutet, dass er innen verfault ist.« Er hob einen anderen Zahn vom Tisch auf. »Der da auch. Krankes Zahnfleisch. Verfault von der Wurzel her.«
Tom nahm einen der zurückgelegten Zähne und betrachtete ihn, während er ihn auf dem Handteller hin und her rollen ließ. »Ihr wollt nur den Preis drücken.«
»Ich weiß, wovon ich rede«, sagte Bowers. »Ich habe einen akademischen Abschluss. Ein Diplom von der Amerikanischen Gesellschaft für Zahnchirurgie.«
»Ich scheiß auf Euer Diplom«, sagte Tom.
Bowers schob einen Zahn vom Tisch in seine Hand, wählte einen Hammer aus seinem Instrumentenkasten, und als er den Zahn mit einem Schlag aufbrach, kam das schwarze Innere zum Vorschein.
Tom sah es sich genau an, sammelte dann fluchend die restlichen Zähne auf dem Tisch ein und schleuderte die ganze Handvoll in eine Ecke des Raums. »So viel Arbeit für nichts und wieder nichts.«
»Ich hab’s dir gleich gesagt«, meinte Benjamin.
»Ich muss doch sehr bitten«, sagte Bowers und lief hinter den Zähnen her. Er krabbelte auf dem Boden herum, langte unter das Schränkchen und klaubte die winzigen weißen Dinger vom Teppich auf. Benjamin und Tom schickten sich zum Gehen an, und der Dentist folgte ihnen auf allen vieren. Er packte Ren am Arm und wollte ihm die verfaulten Zähne aufdrängen. Klackend fielen sie zu Boden, und Bowers schaute überrascht und dann belustigt drein, als er sah, dass Ren keine Hand hatte, um sie entgegenzunehmen.
»Ach du meine Güte.« Er griff nach Rens Ärmel und schaute hinein. »Brauchst du denn keinen Haken?«
Benjamin blieb stehen, die Hand auf der Türklinke. An seiner Schläfe pulsierte direkt unter der Haut eine dünne Vene. Einen Moment lang rechnete Ren mit einem Wutausbruch, doch dann glitt ein kaltes Lächeln über Benjamins Gesicht. »Sieh da, ein Witzbold »Interessant, dass Ihr das sagt«, sagte Bowers. »Ich bin bekannt für meinen Humor, besonders bei den Mitgliedern der Amerikanischen Gesellschaft für Zahnchirurgie.«
»Habt Ihr Euch dort dieses Veilchen geholt?«, fragte Tom.
Bowers’ Hand wanderte nach oben und betastete den geschwollenen Rand seines blauen Auges. Er schien sich zu wundern, dass es noch nicht abgeheilt war. »Nein, nein«, sagte er. »Das war nur ein Missverständnis.«
»Und wer hat wen missverstanden?«
»Ein Eckzahn einen Schneidezahn«, sagte Bowers. Er wartete darauf, dass die Männer lachten. Benjamin warf Tom einen Blick zu, und beide gaben ihr Bestes. Ren versuchte auch zu lachen, aber es hörte sich eher an wie Husten. Trotzdem wusste der Zahnklempner ihre Bemühungen offenbar zu schätzen und betrachtete sie sehr viel wohlwollender als zuvor.
»Aber in dem Fall meine ich es ganz ernst«, sagte Bowers. »Die Seeleute hier fabrizieren alle möglichen Vorrichtungen, um ihre fehlenden Gliedmaßen zu ersetzen. Auf der Werft gibt es einen Laden, der Hände aus Holz verkauft, recht lebensecht. Und auch Holzbeine. Ich kenne den Mann, der sie schnitzt. Er hat für mich auch schon Zähne gemacht.«
Bowers ging zu dem Glasschrank hinüber und öffnete ihn. Drinnen lagen reihenweise Gebisse – manche aus Elfenbein, manche aus Porzellan, manche aus Tierknochen oder auch aus Holz, geschnitzt und bemalt. Die beiden Kiefer wurden jeweils von einem Draht zusammengehalten, der mit einem dünnen Metallplättchen verbunden war, an dessen Rand zwei Federn saßen, mit deren Hilfe sich die Kiefer öffnen und schließen ließen. Bowers nahm ein Gebiss heraus, das an eine kleine Falle aus Holz erinnerte. Man sah genau, wo die Farbe auf den kerzengeraden, ebenmäßigen Zähnen getrocknet war. Auf Ren wirkten sie viel zu groß, um in irgendeinen Mund zu passen.
»Hübsche Arbeit«, sagte Benjamin.
Bowers nickte, dann griff er wieder in den Schrank und holte noch ein Gebiss hervor. Man sah auf den ersten Blick, dass es sich dabei um echte Zähne handelte. Sie waren unregelmäßig in Farbe und Form, sahen aber ungleich natürlicher aus. »Wunderschön, nicht wahr? Ich habe eine Vereinbarung mit einem Mann in einem Lehrkrankenhaus in der Nähe von North Umbrage.«
»North Umbrage.« Benjamin sprach den Namen aus, als hätte man ihm einen Tritt in den Brustkorb versetzt, und Ren wusste sofort, dass da etwas nicht stimmte. Bowers plauderte weiter, obwohl Benjamin ein paar Schritte zurückwich. Sein Gesicht verdüsterte sich, als hätte jemand ein Licht in seinem Inneren gelöscht.
»Er schickt mir, was übrig ist, wenn sie mit dem Sezieren fertig sind. Die sind natürlich sehr viel teurer.«
Tom warf Benjamin einen Blick zu. »Wieso das denn?«
»Weil der Arzt die Leichenräuber bezahlen muss. Wenn ich mich nicht irre, liegt der Satz derzeit bei hundert Dollar pro Leiche.«
»Hundert Dollar!«, rief Tom.
»Es ist eine gefährliche Arbeit.« Bowers legte das Gebiss wieder in den Schrank zurück und schloss die Tür. »Aber Ihr seht aus, als würde es Euch nicht stören, wenn’s ein bisschen gefährlich wird.«
»Solange der Preis stimmt«, sagte Tom.
Benjamin schüttelte den Kopf. »Diese Art von Arbeit ist nicht der Mühe wert.«
»Es ist eine Menge Geld«, sagte Tom.
»Nicht genug, um zurückzukehren.«
Tom schien verblüfft. »Wovor hast du Angst?«
Benjamin schaute Ren an. Er fasste sich mit drei Fingern an die Nasenspitze, als wollte er ein Niesen unterdrücken.
»Der Doktor braucht jemand, auf den er sich verlassen kann«, sagte Bowers. »Jemand, der eine gute Wahl trifft und zuerst die Zähne prüft. Was eine gute Leiche ist, sieht man immer an den Zähnen.«
Tom zog Benjamin beiseite und flüsterte ihm aufgeregt ins Ohr, aber Benjamin achtete nicht auf ihn. Er wandte sich dem Fenster zu und dem Himmel draußen – stahlgrau und Regen verheißend. Er kratzte sich an der Wange, und Ren versuchte, die Gemütsregungen zu deuten, die sich hinter seinem Gesichtsausdruck verbargen; es ging um etwas Ungelöstes, Unerledigtes.
Bowers war damit beschäftigt, die Zähne wieder einzusammeln. Er knotete sie in das Taschentuch und hielt sie hoch. Ren wartete, und als sonst niemand vortrat, riss er sie dem Dentisten aus der Hand.
»Ich kann den Kontakt zum Doktor herstellen«, sagte Bowers. »Sofern Ihr Interesse habt.«
Benjamin wandte sich vom Fenster ab. Er schob seine Hände in die Taschen und behielt Ren im Auge, so als läge die Entscheidung bei ihm. »Wir werden es uns überlegen.«
»Überlegt nicht zu lange.« Der Zahnklempner nahm auf dem Behandlungsstuhl Platz, zog den Tisch zu sich heran und hob die Serviette von den Resten seines Frühstücks. Er nahm das Brot in die Hand und bot Ren mit einer Geste an abzubeißen.
Die dunkelrote Marmelade glänzte. Sie roch nach Beeren und Zucker, köstlich und klebrig, aber Ren zuckte zurück und schüttelte den Kopf. Bowers schien zufrieden und musterte ihn eindringlich mit seinem blauen Auge, so als machte er große Pläne für ihn. Dann riss er die Scheibe Brot mitten entzwei, stopfte sich eine Hälfte in den Mund und fing an zu kauen. Sein Gebiss manschte auf dem Brot herum, als hätte es ein Eigenleben.
»Zähne wollen ausfallen«, sagte er. »Liefere ihnen keinen Vorwand, dich zu verlassen.«