Kapitel 8

Fidelma beschloß, noch am gleichen Nachmittag zu Adnars Festung zurückzukehren, ohne den Häuptling jedoch vorzuwarnen, indem sie die Bucht zwischen der Gemeinschaft Der Lachs aus den Drei Quellen und der Festung von Dun Boi per Boot überquerte. Statt dessen wollte sie dem Pfad durch den Wald folgen und sich der Festung von der Landseite her nähern. Der Weg war zwar weiter, aber sie war so lange mit Ross’ Schiff unterwegs gewesen, daß sie sich nach einem geruhsamen Waldspaziergang sehnte, um ihre Gedanken zu ordnen. Hier war genau die richtige Landschaft zum Wandern. Der Wald mit seinen wuchtigen Eichen erstreckte sich entlang der Küste und über die Ausläufer des hohen Berges dahinter.

Fidelma hatte Schwester Bronach über ihre Absicht informiert und verließ die Abtei am Nachmittag. Es war immer noch angenehm draußen, und die milden Sonnenstrahlen, die durch die meist kahlen Äste sik-kerten, wärmten die Haut. Hoch oben, über den schneebedeckten Baumkronen, war der Himmel von einem zarten Blau, durchsetzt mit weißen, flauschigen Wölkchen, die in der leichten Brise dahinzogen. Der Boden war hart. Die winterliche Kälte ließ die weiche Erde gefrieren, und die Sonne hatte sie noch nicht mit ihrer Wärme durchdrungen. Die trockenen Blätter, die vor vielen Wochen abgefallen waren, raschelten unter Fidelmas Schritten.

Von den Toren der Abtei führte der Waldweg um die Bucht herum, jedoch so weit vom Strand entfernt, daß die große Meerenge meist vor den Blicken der Reisenden, die diese Route nahmen, verborgen blieb. Nur hier und dort konnte man durch die kahlen Bäume einen flüchtigen Blick auf das Blau erhaschen, das im Sonnenlicht funkelte. Nicht einmal die Geräusche des Meeres waren zu hören, so gut wurden sie abgeschirmt durch den Schutzwall aus hohen Eichen und Haselnußsträuchern, die zwischen den mächtigen, uralten Bäumen ums Überleben kämpften. Dazwischen ragten ganze Hecken aus Stechpalmen mit ihren gezackten, immergrünen Blättern, den kurzen Stämmen und den ineinander verschlungenen Ästen meterhoch in den Himmel.

Dann und wann, wenn einer der größeren Bewohner des Waldes auf der Suche nach Futter vorsichtig umherstreifte, hörte Fidelma ein Rascheln im Unterholz; das Knacken von Zweigen und Ästen, wenn ein Hirsch beim Geräusch ihrer Schritte erschrocken davonsprang; das Knistern trockenen Laubes, wenn ein neugieriges Eichhörnchen sich zu erinnern suchte, wo es sein Futter gehortet hatte. Wer mit der Natur vertraut war, konnte die zahllosen Geräusche leicht unterscheiden.

Bald stieß Fidelma auf eine nahegelegene Straße, die zu den in der Ferne aufragenden Bergen führte, und sah, daß hier erst vor kurzem Pferde entlanggekommen waren. Der Boden war zwar hartgefroren, doch die Spuren von Pferdemist waren eindeutig. Sie erinnerte sich an den Zug von Reitern und Fußvolk, der sich am Morgen von den Bergen heruntergeschlängelt hatte, und begriff, daß er an dieser Stelle auf die Straße gestoßen sein mußte.

Aus irgendeinem Grund kam ihr plötzlich wieder Eadulf von Seaxmund’s Ham in den Sinn, und sie fragte sich, warum? Sie hätte zu gern gewußt, ob Ross etwas über die Herkunft des verlassenen Schiffes in Erfahrung hatte bringen können. Das war viel verlangt. Ein ganzer Ozean und eine Küste von mehreren hundert Meilen Länge - und kein Anhaltspunkt, wo Hinweise auf die Geschehnisse an Bord zu finden sein könnten.

Vielleicht war Eadulf gar nicht auf dem Schiff gewesen?

Sie schüttelte den Kopf und verwarf diese Theorie. Er hätte das Meßbuch niemals jemand anderem gegeben - freiwillig jedenfalls nicht.

Doch was, wenn man es ihm abgenommen hatte, nachdem er bereits tot war? Fidelma erschauerte und preßte die Lippen zusammen. Wer immer ihm etwas angetan hatte, dachte sie entschlossen, würde der Gerechtigkeit nicht entgehen. Dafür würde sie schon sorgen.

Plötzlich blieb sie stehen.

Vor ihr machte ein Schwarm Vögel mit seinem Geschrei einen solchen Lärm, daß die anderen Geräusche des Waldes davon übertönt wurden. Sie schimpften ihr eigenartiges >kaaarg-kaaarg<. Einige Vögel flatterten zu den oberen, kahlen Ästen einer Eiche hinauf, und Fidelma sah, daß es Eichelhäher waren. In einem nahegelegenen Erlengebüsch hatte ein Schwarm kleinerer Vögel mit spitzen Schnäbeln und aufgeplustertem Federkleid an den braunen, holzigen Zäpfchen herumgepickt. Nun begannen alle aufgeregt zu zwitschern.

Irgend etwas beunruhigte sie.

Fidelma trat zögernd einen Schritt vor.

Das rettete ihr das Leben.

Sie spürte den Luftzug eines Pfeiles, der ihren Kopf nur um wenige Zentimeter verfehlte, und hörte den dumpfen Schlag, mit dem er sich in den Baumstamm hinter ihr bohrte.

Instinktiv ließ sie sich auf die Knie fallen und hielt gleichzeitig Ausschau nach einer besseren Deckung.

Während sie sich zusammenkauerte, noch unentschlossen, was sie tun sollte, vernahm sie einen durchdringenden Schrei, und zwei hochgewachsene Krieger mit Vollbart und glänzender Rüstung brachen durch das Unterholz und packten ihre Arme wie Schraubstöcke, bevor sie auch nur Zeit hatte, zur Besinnung zu kommen. Einer von ihnen hob sein Schwert, als wolle er zustoßen. Fidelma wich zurück und wartete auf den Hieb.

»Halt!« rief eine Stimme. »Irgendwas stimmt da nicht!«

Der Krieger ließ zögernd die Waffe sinken.

Da tauchte vor ihnen aus dem Dämmerlicht des Waldes auch schon ein Reiter auf, in der einen Hand einen kurzen Bogen, in der anderen die Zügel eines Schlachtrosses. Offensichtlich war er verantwortlich dafür, daß sie dem Tod nur knapp entronnen war.

Fidelma hatte keine Zeit, zu reagieren und ihrer Verblüffung oder ihrem Protest Ausdruck zu verleihen, denn schon wurde sie zu dem Berittenen geschleift. Als sie vor ihm stand, beugte er sich in seinem Sattel vor und musterte eingehend ihr Gesicht.

»Wir haben uns getäuscht«, rief er entrüstet aus.

Fidelma warf den Kopf zurück, um seinen prüfenden Blick zu erwidern. Der Fremde war beeindruk-kend. Sein Gesicht war lang und dem eines Adlers ähnlich, seine Stirn breit. Die Nase mit dem schmalen, hakenförmig gebogenen Nasenbein erinnerte an einen Schnabel. Das Haar wuchs an den Schläfen nur spärlich, wurde am Hinterkopf jedoch zunehmend länger und dichter und fiel mit einem roten, kupferfarbenem Schimmer auf seine Schultern. Über seiner rotgoldenen Haarpracht trug er einen Stirnreif aus poliertem Kupfer, in dem wertvolle Steine glitzerten. Die Lippen waren schmal und rot und, wie Fidelma fand, ziemlich grausam. Seine Augen waren groß und beinahe violett, die Pupillen waren kaum zu erkennen, doch konnte dies auch an den Lichtverhältnissen liegen.

Er war nicht älter als dreißig. Ein muskulöser Krieger. Schon seine Kleidung - Seide und pelzbesetztes Leinen - verriet seine gesellschaftliche Stellung, auch ohne den Kupferreif auf seiner Stirn, der ihn als Würdenträger kennzeichnete. An seinem Gürtel hing ein Schwert, dessen Griff ebenfalls mit kostbaren Metallen und Edelsteinen geschmückt war. Am vorderen Sattelknauf war ein Köcher mit Pfeilen befestigt, und der Bogen, den er nach wie vor in der Hand hielt, stammte von einem Meister seines Handwerks.

Er musterte Fidelma noch immer mit gerunzelter Stirn.

»Wer ist das?« fragte er die Männer, die sie festhielten, mit schneidender Stimme.

Einer der Krieger stieß ein trockenes Lachen hervor.

»Eure Jagdbeute, mein Gebieter.«

»Noch so eine Nonne aus dem Kloster hier in der Nähe«, schaltete sich der andere ein. Dann fügte er mit einer sonderbaren Betonung, deren Bedeutung Fidelma nicht verstand, hinzu: »Mein Gebieter, sie muß das Wild verscheucht haben, hinter dem wir her waren.«

Schließlich fand Fidelma ihre Sprache wieder.

»Da war gar kein Wild, jedenfalls nicht im Umkreis von zweihundert Metern!« rief sie mit kaum verhohlenem Zorn. »Sagt Euern Männern, sie mögen mich loslassen, oder, beim lebendigen Gott, Ihr werdet noch von mir hören.«

Der Berittene hob überrascht die Augenbrauen.

Die beiden Krieger, die ihre Arme umklammerten, verstärkten lediglich ihren zermalmenden Druck. Einer von ihnen begann anzüglich zu lachen.

»Die hat Schneid, die Kleine, mein Gebieter.« Dann drehte er sich um und näherte sein Gesicht, seinen übelriechenden Atem dem ihren: »Schweig, Mädel! Weißt Du überhaupt, mit wem Du da sprichst?«

»Nein«, stieß Fidelma zwischen den Zähnen hervor, »denn keiner von Euch hat den Anstand besessen, mir Euern Gebieter vorzustellen. Aber laßt Euch sagen, mit wem Ihr redet ... Ich bin Fidelma, ddlaigh der Gerichtsbarkeit, und die Schwester von Colgu, dem König von Cashel. Genügt Euch das, um mich loszulassen? Vor dem Gesetz habt Ihr Euch schon der tätlichen Drohung schuldig gemacht!«

Zunächst herrschte Schweigen, dann befahl der Berittene den beiden Kriegern in scharfem Ton: »Laßt sie sofort los!«

Unverzüglich lösten sie ihren Griff, wie zwei wohlerzogene Hunde, die ihrem Herrn aufs Wort gehorchen. Fidelma spürte, wie das Blut wieder in ihre Unterarme und Hände strömte.

Das Hufgetrappel eines Pferdes, das durch den winterlichen Wald preschte, ließ ihre Köpfe herumfahren.

Ein zweiter Reiter kam herangaloppiert, einen Bogen in der Hand. Fidelma erkannte Olcans junges, gerötetes Gesicht. Er zog die Zügel an und starrte auf sie herab. Seine Miene drückte Bestürzung aus, als er Fidelma erkannte. Da war er auch schon vom Pferd geglitten und eilte ihr mit ausgestreckten Händen entgegen.

»Schwester Fidelma, seid Ihr verletzt?«

»Ein wenig, dank dieser Krieger, Olcan«, stieß sie hervor und rieb sich die Arme.

Der erste Reiter wandte sich mit einer ärgerlichen Handbewegung an seine Männer.

»Geht schon mal zur Festung voraus«, herrschte er sie an, und die beiden drehten sich wortlos um und trotteten von dannen. Unterdessen verneigte sich der hochgewachsene Mann in seinem Sattel steif vor Fidelma.

»Ich bedaure diesen Zwischenfall außerordentlich.«

Olcan blickte stirnrunzelnd zwischen der Schwester und dem Berittenen hin und her. Schließlich besann er sich auf seine guten Manieren.

»Fidelma, gestattet mir, Euch meinen Freund Torcan vorzustellen. Torcan, das ist Fidelma von Kildare.«

Fidelmas Augen wurden schmal, als sie den Namen hörte.

»Torcan, der Sohn von Eoganan von den Ui Fidgenti?«

Der hochgewachsene Mann verbeugte sich erneut von seinem Sattel aus, schien sich jedoch durch diese förmliche Geste eher über sie lustig zu machen.

»Ihr kennt mich?«

»Ich habe von Euch gehört«, erwiderte Fidelma. »Ihr seid weit entfernt vom Gebiet der Ui Fidgenti.«

Die Ui Fidgenti bewohnten den Nordwesten des Königreiches von Muman. Sie wußte von ihrem Bruder, daß es sich um eines seiner unruhigsten Völker handelte. Eoganan war ein überaus ehrgeiziger Prinz, skrupellos in seinem Verlangen, die anderen Stämme in der Umgebung zu beherrschen und seinen Machtbereich auszuweiten.

»Und Ihr seid zweifellos weit entfernt von Kildare, Schwester Fidelma«, konterte ihr Gegenüber.

»Als Advokatin der Gerichtsbarkeit ist es mein Los, kreuz und quer durchs Land zu reisen und für Gerechtigkeit zu sorgen«, antwortete Fidelma. »Und was ist der Grund für Eure Reise in diesen Winkel des Königreiches?«

Olcan schaltete sich eilig ein.

»Torcan weilte als Gast bei meinem Vater Gulban und genießt zur Zeit gemeinsam mit mir Adnars Gastfreundschaft.«

»Und warum war es nötig, auf mich zu schießen?«

Olcan wirkte schockiert.

»Schwester . «, begann er, doch Torcan lächelte Fidelma von oben herab spöttisch an.

»Schwester, ich habe nicht mit Absicht auf Euch geschossen«, protestierte er. »Eigentlich habe ich auf einen Hirsch gezielt, zumindest dachte ich das. Ich muß jedoch zugeben, daß die Manieren meiner Männer sehr zu wünschen übrig ließen. Ich entschuldige mich dafür.«

Torcan war entweder kurzsichtig oder ein geschickter Lügner, denn Fidelma wußte, daß kein Tier in der Nähe gewesen war, als der Pfeil abgeschossen wurde. Außerdem konnte kein erfahrener Jäger ihre Bewegungen mit denen eines Hirsches verwechselt haben -jedenfalls nicht hier, zwischen den kahlen Bäumen und Sträuchern. Wie dem auch sei, es gab Situationen, in denen eine Auseinandersetzung zu nichts führte, und deshalb beschloß Fidelma vorzugeben, daß sie seine Erklärung akzeptierte. Sie stieß einen leisen Seufzer aus.

»Na schön, Torcan, ich werde Eure Entschuldigung annehmen und Euch nicht gerichtlich dafür belangen, daß Ihr mir Todesangst eingejagt habt. Ich akzeptiere, daß es sich um ein Versehen handelte. Das Verhalten Eurer Krieger war allerdings kein Versehen. Für sie ist eine Geldstrafe von je zwei séts zu entrichten, da sie mich mißhandelt und beleidigt und meine Todesangst weiter geschürt haben. Die Geldbußen habe ich, wie Ihr feststellen werdet, nach den Vorgaben des Bretha Dein Chécht festgelegt.«

Torcan betrachtete sie mit gemischten Gefühlen, doch schien allmählich eine widerwillige Bewunderung für ihre unerschrockene Haltung die Oberhand zu gewinnen.

»Nehmt Ihr die Geldstrafe im Namen Eurer Krieger an?«

Torcan stieß ein heiseres Lachen aus.

»Ich werde ihre Strafe entrichten, aber ich werde dafür sorgen, daß sie dafür bezahlen.«

»Gut. Das Bußgeld soll als Spende in die Kasse der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen fließen, um wohltätige Werke zu unterstützen.«

»Ihr habt mein Wort, daß es gezahlt wird. Morgen früh wird einer meiner Männer das Geld in die Abtei bringen.«

»Euer Wort genügt mir. Und jetzt wäre ich Euch sehr verbunden, wenn Ihr mir gestattet, meinen Weg fortzusetzen.«

»Wohin seid Ihr denn unterwegs, Schwester?« fragte Olcan.

»Ich bin auf dem Weg zu Adnars Festung.«

»Dann erlaubt mir, meinen Sattel mit Euch zu teilen«, bot Torcan an.

Fidelma lehnte das Angebot ab, hinter dem Sohn des Prinzen der Ui Fidgenti im Sattel zu sitzen.

»Ich ziehe es vor, zu Fuß weiterzugehen.«

Torcan kniff die Lippen zusammen und zuckte die Achseln.

»Ganz wie Ihr wünscht, Schwester. Vielleicht treffen wir uns nachher in der Festung.«

Er wendete sein Pferd, hieb ihm mit der Seite des Bogens, den er noch immer in der Hand hielt, auf die Flanke und ritt in leichtem Galopp den Waldweg entlang davon. Olcan blieb einen Augenblick zögernd stehen und sah aus, als wolle er noch etwas sagen, aber dann bestieg er sein Pferd und hob eine Hand zum Abschied, bevor er ebenfalls wendete und seinem Gast eilends folgte. Fidelma stand reglos da und blickte ihnen eine Weile nachdenklich hinterher. Sie versuchte zu ergründen, was diese Begegnung zu bedeuten hatte

- falls sie überhaupt eine Bedeutung hatte. Das konnte doch nicht nur bloßer Zufall sein? Sie konnte einfach nicht glauben, daß Torcan sie mit einem Hirsch verwechselt hatte, schon gar nicht in diesem winterlichen Wald mit seinen günstigen Sichtverhältnissen. Und wenn es sich tatsächlich um ein Versehen handelte, warum hatte er dann seinen Männern gestattet, sie so grob zu behandeln? Die logische Schlußfolgerung daraus war, daß er eine andere erwartet hatte - sobald sie ihm ihren Namen und Rang nannte, hatte er Ja sofort Befehl gegeben, sie freizulassen. Wen also hatte er an dieser Straße treffen wollen? Eine Frau? Eine Nonne? Daran bestand jedenfalls kein Zweifel, denn durch die charakteristischen Gewänder, die sie trug, waren ihr Geschlecht und ihr Beruf unverkennbar. Warum aber sollte der Sohn des Prinzen der Ui Fid-genti, der zu Besuch in dieser Gegend weilte, eine Nonne töten wollen?

Plötzlich bekam sie eine Gänsehaut.

Eine Nonne war bereits getötet worden. Jemand hatte sie enthauptet und ihren Leichnam in den Brunnen der Abtei gehängt. Fidelma war sicher, daß es sich bei der Toten ohne Kopf um eine Glaubensschwester handelte. Das sagten ihr ihr Instinkt und die Beweise, die sie bisher gesammelt hatte. Sie erschauerte. War sie nahe daran gewesen, dem namenlosen Leichnam ins Jenseits zu folgen?

Unvermittelt wurde Fidelma aus ihren Gedanken gerissen. Sie hob den Kopf: erneut drang Hufgetrap-pel an ihr Ohr. Kehrte Torcan noch einmal zurück? Fidelma stand reglos da und spähte den Weg entlang. Der Reiter mußte gleich bei ihr sein. Da tauchte er schon aus dem dämmrigen Unterholz auf. Es war Ad-nar.

Der stattliche schwarzhaarige Häuptling schwang sich mühelos vom Pferd, noch bevor das Tier stehengeblieben war. Er begrüßte Fidelma mit besorgten Blick.

»Olcan hat mir berichtet, daß ihr ihn und Torcan hier auf der Straße durch den Wald getroffen habt und daß Ihr auf dem Weg zu meiner Festung seid. Er erzählte auch etwas von einem sehr bedauerlichen Vorfall. Ist das wahr?« Adnar musterte sie fragend.

»Ein Beinahe-Unfall«, verbesserte ihn Fidelma steif.

»Seid Ihr verletzt?«

»Nein. Es ist nichts passiert. Wie dem auch sei, ich war tatsächlich auf dem Weg zu Euch. Euer Kommen erspart mir die Mühe, meine Reise fortzusetzen.« Sie drehte sich um und deutete auf einen umgestürzten Baumstamm. »Setzen wir uns ein Weilchen dort hin.«

Adnar band die Zügel seines Pferdes an einen gekrümmten Ast des toten Baumes und gesellte sich zu ihr.

»Ihr seid mir gegenüber nicht ganz ehrlich gewesen, Adnar«, eröffnete Fidelma das Gespräch.

Der Häuptling zuckte vor Verblüffung zusammen.

»In welcher Hinsicht?« verteidigte er sich.

»Ihr habt mir weder etwas davon gesagt, daß Äbtissin Draigen Eure leibliche Schwester ist, noch hat Bruder Febal erwähnt, daß er früher mit Draigen verheiratet war.«

Fidelma hatte nicht mit dem amüsierten Blick gerechnet, der Adnars sympathisches Gesicht erhellte. Er schien eine ganz andere Anschuldigung erwartet zu haben und ließ nun erleichtert die Schultern sinken.

»Ach, das!« rief er in wegwerfendem Tonfall.

»Ist es für Euch nicht von Bedeutung?«

»Kaum«, gab Adnar zu. »Meine Verwandtschaft mit Draigen ist nichts, womit ich mich zu rühmen wünsche. Glücklicherweise hat sie das rote Haar unseres Vaters geerbt, ich dagegen die schwarze Mähne unserer Mutter.«

»Glaubt Ihr nicht, daß die Erwähnung Eures Verwandtschaftsverhältnisses für mich wichtig gewesen wäre?«

»Hört zu, Schwester, es ist mein Unglück und vielleicht auch Draigens Unglück, daß wir dem gleichen Schoß entstammen. Was Febal betrifft, so will ich nicht an seiner Stelle sprechen.«

»Dann sprecht für Euch. Haßt Ihr Eure Schwester wirklich so sehr, wie es den Anschein hat?«

»Sie ist mir gleichgültig.«

»Gleichgültig genug, um zu behaupten, sie habe widernatürliche Affären mit ihren Untergebenen?«

»Das entspricht nur der Wahrheit.«

Adnar sagte das ernst und ohne Zorn. Fidelma war bereits Zeugin seines aufbrausenden Temperaments geworden und war überrascht, wie ruhig er jetzt wirkte, während er, eine Hand zwischen die Knie geklemmt, auf dem Baumstamm saß und verdrossen vor sich hin starrte.

»Vielleicht solltet Ihr mir die Geschichte ganz erzählen?«

»Sie ist für Eure Untersuchung nicht von Bedeutung.«

»Und doch behauptet Ihr, daß Draigens sexuelle Neigungen bedeutsam sind. Wie soll ich mir denn ein Urteil bilden, wenn ich nicht die ganze Wahrheit kenne?«

Adnar hob kaum merklich die Schultern, als wolle er mit den Achseln zucken, überlegte es sich dann aber anders.

»Hat sie Euch erzählt, daß unser Vater, dessen Namen ich trage, ein oc-aire war, ein ganz normaler Bauer, der sein eigenes Stückchen Acker bestellte, jedoch nicht über genügend Land- oder sonstigen Besitz verfügte, um seine Familie damit ernähren zu können? Sein Leben lang bearbeitete er ein kleines Fleckchen unfruchtbaren Bodens an einem felsigen Berghang. Unsere Mutter half ihm dabei, und zur Erntezeit brachte sie unsere mageren Erträge ein, während mein Vater sich bei dem örtlichen Häuptling verdingen mußte, damit er überhaupt genug verdiente, um unser Überleben zu sichern.«

Adnar hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Draigen war die jüngere von uns beiden, ich war zwei Jahre älter als sie. Wir mußten unseren Eltern auf ihrem winzigen Flecken Land von klein auf zur Hand gehen, und für unsere Ausbildung blieb weder Zeit noch Geld.«

Seine Stimme verriet Verbitterung, doch Fidelma sagte nichts dazu.

»Schon als Junge hatte ich nicht vor, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten. Ich wollte nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, ein Stück Land zu bearbeiten, das ohnehin nicht genug abwarf, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich war ehrgeizig und hatte andere Pläne. So schlich ich jedes Mal, wenn ein Krieger durch unsere Gegend kam, heimlich zur Herberge unseres Stammes und suchte ihn zu überreden, mir etwas über das Leben der Kämpfer zu erzählen, über ihre Regeln und ihre Ausbildung. Ich fertigte mir Waffen aus Holz an und ging in den Wald, wo ich übte, indem ich mit einem hölzernen Schwert gegen die Büsche kämpfte. Ich baute mir Pfeil und Bogen und bildete mich selbst zu einem hervorragenden Schützen aus. Ich wußte, daß dies meine einzige Chance war, einem Leben in Armut zu entkommen.

Sobald ich das Alter der Reife erreicht hatte, an meinem siebzehnten Geburtstag, als mich kein Gesetz mehr daran hindern konnte, verließ ich mein Elternhaus und suchte Gulban, den Häuptling der Beara, auf. Er führte Krieg gegen die Coreo Duibhne, jenseits der Grenzen seines Gebietes. Ich war ein ausgezeichneter Bogenschütze und erhielt schon bald das Kommando über eine Truppe von einhundert Mann. Im Alter von neunzehn Jahren ernannte mich Gulban zum cenn-feadhna, zum Hauptmann. Das war der stolzeste Tag meines Lebens.

Der Krieg brachte mir einen ansehnlichen Viehbe-stand, und als er vorbei war, kehrte ich hierher zurück und wurde zum bo-aire, zum Vieh-Häuptling, ernannt. Auch wenn das Land nicht mir gehörte, war meine Viehherde doch groß genug, um Einfluß und Wohlstand zu erringen. Ich schäme mich nicht, der Armut entronnen zu sein.«

»Das ist eine lobenswerte Geschichte, Adnar. Jeder Bericht darüber, wie Menschen ihre Schwierigkeiten überwinden, ist lobenswert. Doch das alles erklärt weder die Feindseligkeit zwischen Euch und Eurer Schwester noch, warum Ihr sie widernatürlicher Beziehungen bezichtigen solltet.«

Adnar verzog das Gesicht.

»Draigen redet viel von ihrer Treue zu unseren Eltern. Sie behauptet, ich hätte sie im Stich gelassen, dabei war sie ihnen gegenüber keinen Deut loyaler als ich. Auch sie wollte der Armut entkommen, genau wie ich. Kurz bevor sie das Alter der Reife erreichte, versuchte sie sogar, die heidnischen Geister - die Göttinnen aus uralter Zeit - um Hilfe anzurufen.«

Fidelma musterte ihn eingehend, doch Adnar schien in seine Erinnerungen versunken und wirkte nicht wie jemand, dem es darum ging, einen bestimmten Eindruck zu erwecken.

»Was hat sie getan?«

»In den Wäldern der Umgebung hauste eine alte Frau, die noch den althergebrachten Bräuchen anhing. Ihr Name war, soweit ich mich erinnere, Suanach. Alle Kinder hatten Angst vor ihr. Sie behauptete, Boi zu verehren, die Frau von Lugh, dem Gott der Künste und des Handwerks. Boi galt als die Göttin der Kühe oder als die Alte von Beara. Früher, in den dunklen Tagen des Heidentums, gehörte dieses Land zu ihrem Gebiet. Meine Festung ist nach ihr benannt. Dun Boi.«

»Hier leben noch viele alte Menschen, die sich an die früheren Zeiten und die traditionellen Götter klammern«, erklärte Fidelma. Das Christentum hatte sich erst in den letzten zweihundert Jahren in den fünf Königreichen ausgebreitet, und Fidelma war sich darüber im klaren, daß es noch immer abgelegene Gebiete gab, in denen der Glaube an die Ewiglebenden, an die alten Götter und Göttinnen, nach wie vor zahlreiche Anhänger hatte.

»In manchen Gegenden sind sogar die Berge nach diesen Gottheiten benannt«, bestätigte Adnar.

»Also geriet Eure Schwester unter den Einfluß dieser alten Heidin?« hakte Fidelma nach. »Wann kehrte sie zum Wahren Glauben zurück und trat den Ordensschwestern bei?«

Adnar grinste verschlagen.

»Wer hat denn behauptet, daß sie zum Wahren Glauben zurückgekehrt ist?«

Fidelma blickte ihn überrascht an.

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Ich sage gar nichts. Ich deute lediglich eine Richtung an. Schon als junges Mädchen, besonders in der Zeit, als sie die alte Frau so oft besuchte, hat sie sich sonderbar verhalten.«

»Ihr habt mir bisher für keine Eurer Behauptungen Beweise vorgelegt oder mir den Grund für die Feindseligkeit zwischen Euch erklärt.«

»Die Alte hat sie völlig durcheinandergebracht mit ihren Erzählungen und ihren ...«

Er unterbrach sich und zuckte die Achseln.

»Während ich in Gulbans Armee diente, starben meine Eltern, und Draigen ging fort und lebte bei der Alten in den Wäldern.«

»Und deshalb haßt Ihr sie?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich weiß nichts Genaues über die Geschichte, aber Draigen geriet mit dem Gesetz in Konflikt und mußte schließlich Schadensersatz leisten. Zu diesem Zweck verkaufte sie das armselige Stück Land und trat in die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen ein. Der Verlust des Landes hat mich sehr verärgert, das will ich nicht leugnen. Ich hätte einen Teil davon geerbt. Also machte ich meinen Anspruch auf meinen Anteil an dem Land gerichtlich geltend, aber meine Klage wurde von einem Brehon abgewiesen.«

»Ich verstehe. Und diese Klage war der Grund für Eure Feindschaft?«

Adnar zuckte mit den Schultern.

»Ich nahm ihr übel, was sie getan hatte, doch ich war Ja inzwischen zu Wohlstand gekommen und brauchte das Land nicht unbedingt. Es ging mir ums Prinzip. Nein, der Haß kam ursprünglich von Drai-gens Seite. Vielleicht haßte sie mich wegen der Klage. Danach ging sie mir aus dem Weg. Als ich dann bo-aire in diesem Bezirk wurde, war sie gezwungen, wieder Umgang mit mir zu pflegen. Sie schickt jedoch immer Dritte zu mir. Ihr Haß gegen mich ist unversöhnlich.«

»Hat Draigen Euch einen Grund für ihren Haß genannt?«

»O Ja. Sie gibt mir die Schuld am Tod unserer Eltern. Aber das klingt für mich nicht glaubwürdig. Vielleicht hat sie mir einfach übelgenommen, daß ich vor Gericht gegen sie klagte. Was auch immer der ursprüngliche Grund war, mit den Jahren ist ihr Haß nur noch stärker geworden.«

»Sie bestreitet das und behauptet, Ihr wäret derjenige, der sie haßt. Deshalb frage ich Euch noch einmal, ist es inzwischen so, daß Ihr Draigens Haß erwidert?« Fidelma erkannte, daß sie es mit zwei einander widersprechenden Aussagen zu tun hatte, die keinen Raum für Kompromisse ließen.

»Zuerst fühlte ich mich verletzt, dann wurde ich wütend auf sie. Ich glaube aber nicht, daß ich sie jemals richtig gehaßt habe. Natürlich waren da die Geschichten, die über Draigen kursierten. Ich hörte von ihrer Vorliebe für junge Novizinnen. Dann, als ich erfuhr, daß der Leichnam einer jungen Frau im Brunnen entdeckt worden war, fürchtete ich das Schlimmste.«

»Warum?«

Zum ersten Mal hob er den Kopf und blickte ihr direkt in die Augen.

»Warum?« wiederholte er, als hätte er die Frage nicht verstanden.

»Warum solltet Ihr daraus den Schluß ziehen, daß Eure Schwester, Eure eigene Schwester, das Mädchen aufgrund einer verbotenen Beziehung ermordet hatte? Ich kann da keinen Zusammenhang erkennen. Zumindest nicht anhand dessen, was Ihr mir bisher erzählt habt.«

Adnar schien sich in seiner Haut nicht ganz wohlzufühlen, während er über ihre Worte nachdachte.

»Es stimmt, daß ich Euch keinen wirklich logischen Grund nennen kann. Ich habe einfach das Gefühl, daß alles auf furchtbare Weise zusammenpaßt.«

»Hat Euer anam-chara, Bruder Febal, Euch diese Erklärung nahegelegt?«

Die Frage kam scharf und direkt.

Adnar zuckte zusammen.

Fidelma erkannte an der leichten Röte, die ihm ins Gesicht stieg, daß sie mit ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen hatte.

»Seit wann kennt Ihr Bruder Febal?«

»Seit ich zurückgekehrt und hier bo-aire geworden bin.«

»Und was wißt Ihr über seine Vergangenheit?«

»Früher war die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen eine gemischtgeschlechtliche Gemeinschaft, ein conhospitae, wie man das nennt. Bruder Febal war einer der Mönche, die dort lebten. Febal und Draigen heirateten. Unter der früheren Oberin, Äbtissin Mar-ga, war Febal der Pförtner der Gemeinschaft. Dann wurde meine Schwester zur rechtaire ernannt, zur Verwalterin, das ist, wie Ihr wißt, das zweithöchste Amt nach der Äbtissin. Soviel ich weiß, war die Be-ziehung zwischen Draigen und Febal von einem Tag auf den anderen beendet. Draigen nutzte die Gebrechlichkeit und das hohe Alter der Äbtissin aus. Sie begann alle männlichen Mitglieder aus der Abtei zu vertreiben und sie in ein Kloster ausschließlich für Nonnen umzuwandeln. Bruder Febal war der letzte, der aus seiner Stellung verdrängt wurde, und kam dann als geistlicher Berater zu mir. Kurz darauf starb die alte Äbtissin. Ich war nicht überrascht, als ich erfuhr, daß meine Schwester zu ihrer Nachfolgerin ernannt worden war.«

»Ihr wollt andeuten, daß Draigen rücksichtslos und ehrgeizig ist?«

»Darüber mögt Ihr Euch selbst ein Urteil bilden.«

»Gut. Außerdem behauptet Ihr, daß Bruder Febal allen Grund hat, Draigen zu hassen. Allen Grund, Feindschaft zwischen Euch und ihr zu entfachen, und allen Grund, Gerüchte über die Entdeckung des Leichnams in Umlauf zu setzen.«

»Aus der Sicht einer Außenstehenden mag das durchaus so erscheinen«, gab Adnar zu. »Ich werde nicht versuchen, Euch von meiner Meinung zu überzeugen. Der einzige Grund, warum ich Euch bei Eurer Ankunft gestern noch vor Draigen sprechen wollte, war der Wunsch, Euch vor bestimmten Dingen zu warnen und Euch zu bitten, die Richtungen, die ich angedeutet habe, weiterzuverfolgen. Ob Ihr Euch dazu entschließt oder nicht, ist allein Eure Sache. Ihr seid eine Advokatin der Gerichtsbarkeit, und lautet Euer Schlachtruf nicht quaere verum?«

»Die Wahrheit zu suchen - das ist der wichtigste Grundsatz unseres Handelns, nicht unser Schlachtruf«, verbesserte sie ihn schulmeisterlich. »Darum werde ich mich nach Kräften bemühen. Aber eine Anschuldigung ist noch keine Wahrheit. Ein Verdacht ist keine Tatsache. Ich werde noch mal mit Bruder Febal reden müssen.«

Adnar fuhr sich mit der Hand durch die schwarze Lockenmähne.

»Ihr könnt gerne mit mir in die Festung kommen, obwohl ich nicht sicher bin, ob Febal jetzt dort ist. Als ich losritt, wollte er, glaube ich, Torcan und seine Männer zu einem Wallfahrtsort jenseits des Berges begleiten.«

»Wann wird er zurückkehren?«

»Mit Sicherheit erst spät am Abend.«

»Dann spreche ich morgen mit ihm. Sagt ihm, er soll in die Abtei kommen.«

Adnar blickte verlegen drein.

»Wahrscheinlich wird er das nur ungern tun. Drai-gen würde ihn nicht gerade willkommen heißen.«

»In dieser Angelegenheit haben meine Wünsche mehr Gewicht als Draigens«, antwortete Fidelma kalt. »Er kann mich nach dem Morgenmahl im Gästehaus treffen. Ich erwarte ihn dort.«

»Ich werde es ihm mitteilen«, seufzte Adnar.

Plötzlich hob er den Kopf und schien angestrengt zu lauschen. Einen Augenblick später hörte auch Fidelma das Knirschen von Schuhen auf dem gefrorenen Boden und drehte sich um. Auf dem Waldweg näherte sich die Gestalt einer Nonne, den Kopf gebeugt und in eine Kapuze gehüllt, einen sacculus über die Schulter gehängt. Sie sah Adnar und Fidelma erst, als sie nur noch wenige Meter entfernt war und Fidelma sie begrüßte.

»Guten Tag, Schwester.«

Das Mädchen blieb stehen und blickte erschrocken auf. Fidelma erkannte sie sofort. Es war die junge Schwester Lerben.

»Guten Tag«, murmelte sie.

Adnar erhob sich mit einem Lächeln.

»Es scheint bei den Nonnen aus der Abtei Ja geradezu zur Gewohnheit zu werden, heute diesen Pfad entlangzuwandeln«, bemerkte er mit ironischem Unterton. »Ist es hier nicht gefährlich, Schwester, so ganz allein? Es wird bald dunkel.«

Lerbens Augen funkelten vor Zorn, dann senkte sie den Blick.

»Ich bin auf dem Weg zu ...«, sie zögerte und schielte zu Fidelma hinüber, »zu Torcan von den Ui Fidgenti.« Ihre Hand wanderte automatisch zu ihrem sacculus.

Adnar lächelte weiter und schüttelte den Kopf.

»Tja, gerade habe ich Schwester Fidelma erklärt, daß Torcan meine Festung verlassen hat und erst heute abend wiederkommt. Kann ich ihm eine Nachricht überbringen?«

Schwester Lerben zögerte erneut, nickte dann rasch und zog einen kleinen, länglichen Gegenstand, der in ein Stück Stoff gewickelt war, aus ihrem sacculus.

»Würdet Ihr dafür sorgen, daß ihm das ausgehändigt wird? Er bat darum, es aus unserer Bibliothek ausleihen zu dürfen, und ich wurde beauftragt, es ihm zu bringen.«

»Ich werde es mit Vergnügen weitergeben, Schwester.«

Fidelma streckte die Hand aus und fing das Päckchen mühelos ab, bevor Adnar es an sich nehmen konnte. Sie wickelte es aus und starrte auf die Pergamenthandschrift.

»Das ist Ja eine Kopie der Chroniken von Clon-macnoise, der großen Abtei, die vom Heiligen Kieran gegründet wurde.«

Sie hob den Blick und sah einen ängstlichen Ausdruck in Schwester Lerbens Gesicht. Adnar lächelte.

»Ich wußte gar nicht, daß der junge Torcan sich so für Geschichte interessiert«, sagte er. »Ich muß mich mit ihm mal darüber unterhalten.«

Er streckte die Hand nach dem Buch aus, doch Fidelma blätterte die Pergamentseiten durch. Auf einem Blatt hatte sie Flecken entdeckt, rote, erdige Flecken. Sie konnte gerade noch erkennen, daß die Seite eine Eintragung über den Oberkönig Cormac Mac Art enthielt, bevor Adnar ihr das Buch freundlich, aber bestimmt aus der Hand nahm und wieder in das Tuch einwickelte.

»Hier ist nicht der Ort, um Bücher zu lesen«, bemerkte er scherzhaft. »Es ist viel zu kalt. Macht Euch keine Sorgen, Schwester«, wandte er sich an Lerben, »ich werde dafür sorgen, daß das Buch sicher bei Tor-can ankommt.«

Fidelma erhob sich und begann Blätter, Zweige und vermoderte Rindenstücke von ihrem Gewand zu wischen.

»Kennt Ihr Torcan denn gut? Es ist ein weiter Weg vom Land der Ui Fidgenti hierher.«

Adnar verstaute das Buch unter seinem Arm.

»Ich kenne ihn kaum. Er war Gast auf Gulbans Festung und kam jetzt als Olcans Gast hierher, hauptsächlich zum Jagen und um einige der Stätten unserer Väter zu besuchen, für die unsere Gegend berühmt ist.«

»Ich hätte nicht gedacht, daß die Ui Fidgenti dem Volk der Loigde willkommen sind.«

Adnar stieß ein trockenes Lachen aus.

»Es gab eine Reihe von Kriegen zwischen uns, das läßt sich nicht leugnen, doch es ist wohl an der Zeit, alte Streitigkeiten und Vorurteile zu überwinden.«

»Ganz meiner Meinung«, erwiderte Fidelma. »Aber wir wissen schließlich beide, daß Eoganan, der Prinz der Ui Fidgenti, sich in vielen Feldzügen gegen die Loigde verschworen hat.«

»Eroberungskriege«, pflichtete Adnar ihr bei. »Würde jeder sich auf sein Gebiet beschränken und nicht versuchen, sich in die Angelegenheiten anderer Stämme einzumischen, dann gäbe es keinen Grund zum Streit.« Er grinste verschlagen. »Aber Gott sei Dank wurden Kämpfer gebraucht, als ich ein junger Mann war, sonst wäre ich nie in meine jetzige Stellung aufgestiegen.«

Fidelma neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn.

»Und jetzt nehmt Ihr, der Ihr Euern Wohlstand in den Kriegen gegen die Ui Fidgenti erworben habt, den Sohn des Prinzen dieses Stammes gastlich bei Euch auf?«

Adnar nickte, »Das ist nun mal der Lauf der Dinge. Die Feinde von gestern sind heute die besten Freunde, obwohl, wie ich betont habe, der junge Mann genaugenommen Olcans Gast ist und nicht meiner.«

»Und die Geschwister von gestern sind heute die erbittertsten Feinde«, fügte Fidelma leise hinzu.

Adnar zuckte mit den Schultern.

»Ich wünschte, es wäre anders, Schwester. Aber es ist eben nun mal so.«

»Na schön, Adnar. Ich danke Euch für Eure Aufrichtigkeit. Morgen erwarte ich Bruder Febal in der Abtei.«

Sie wandte sich an Schwester Lerben, die schüchtern daneben stand, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie gehen oder sich an der Unterhaltung beteiligen sollte. Fidelma betrachtete das Mädchen mit einem freundlichen Lächeln. Lerben war höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre alt.

»Kommt, Schwester. Laßt uns zur Abtei zurückkehren, wir können uns unterwegs unterhalten.«

Sie drehte sich um und begann dem Pfad in die Richtung zu folgen, aus der sie gekommen war. Einen Augenblick später gesellte sich Lerben zu ihr, während Adnar neben seinem Pferd stand, gedankenverloren dessen Maul streichelte und beobachtete, wie sie zwischen den Bäumen verschwanden. Dann zog er das Buch unter seinem Arm hervor, wickelte es aus seiner Stoffhülle und starrte es verdrossen an. Er hing lange seinen Gedanken nach, bevor er es wieder einwickelte, in die Satteltasche steckte, die Zügel seines Schlachtrosses losband und aufstieg. Dann stieß er seine Fersen in die Flanken des Pferdes und ließ es den Waldweg entlang zu seiner Festung traben.

Загрузка...