Kapitel 19

Beccan entschied, daß die Vorverhandlung in der duirthech, der hölzernen Kapelle der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen, stattfinden sollte. Man hatte den kunstvoll geschnitzten Eichenstuhl der Äbtissin vor den Altar gestellt, direkt vor das hohe goldene Kreuz. Hier war Beccans Platz. Auf einem Hocker rechts von ihm saß sein persönlicher Schreiber, der die Tatsachen und Beweise, die Fidelma vortrug, zu protokollieren hatte. Fidelma selbst saß mit Eadulf in der vordersten Bankreihe rechts des Ganges. Hinter ihnen hatten Ross und Bruder Cillin von Mullach als Zuhörer Platz genommen, und dahinter wiederum Adnar und Bruder Febal. Daneben hockte der alte Bauer, Barr, der von Fidelma in die Abtei bestellt worden war. Eine Reihe weiter hinten hatte, flankiert von zwei Kriegern der Loigde, der Gefangene Olcan Platz gefunden.

Auf den Bänken auf der anderen Seite des Ganges saßen neben der selbstzufriedenen Äbtissin Draigen Schwester Lerben und Schwester Comnat und hinter ihnen Schwester Bronach und die schüchterne Schwester Berrach. Die hinteren Bankreihen waren vollbesetzt, dort drängten sich all jene Mitglieder der Ge-meinschaft, denen es gelungen war, in die Kapelle hineinzukommen. Am Eingang hatte sich Mail mit zwei Kriegern postiert.

In der duirthech brannten Laternen, deren flak-kerndes Licht von dem goldenen Altarkreuz und den zahlreichen Ikonen und Kunstwerken an den Wänden zurückgeworfen wurde. Die Laternen sorgten nicht nur für Licht, sondern strahlten auch so viel Hitze ab, daß es trotz der kalten Witterung draußen nicht nötig gewesen war, ein Feuer im Kohlenbecken anzuzünden.

Beccan eröffnete die Vorverhandlung und verkündete, daß er hier zu Gericht sitze, um zu hören, welche Beweise Fidelma in ihrer Eigenschaft als ddlaigh der Gerichtsbarkeit im Zusammenhang mit den Morden an zwei Schwestern der Gemeinschaft gesammelt hatte. Anhand der von ihr vorgetragenen Beweise werde er dann beurteilen, ob gegen den oder die von ihr Beschuldigten Anklage zu erheben sei. Wenn Ja, würde man zu einem späteren Zeitpunkt die Gerichtsverhandlung in Cashel abhalten und die Angeklagten dorthin überstellen.

Nach Abschluß der Formalitäten übergab Beccan Fidelma das Wort.

Sie erhob sich und sprach, wie es Brauch war, die Formel »Pace tua«, »mit Eurer Erlaubnis«. Dann schwieg sie eine Weile mit gefalteten Händen und gesenktem Blick, als betrachte sie den Fußboden, und ordnete ihre Gedanken.

»Selten habe ich an einem Ort so viel Elend vorgefunden wie in dieser Abtei.« Fidelmas Eröffnungsworte hallten laut und deutlich von den Wänden der Kapelle wider und lösten bei den Schwestern in den hinteren Bankreihen Unruhe aus.

»Dieser Ort ist durchdrungen von Haß, und das ist unvereinbar mit den Prinzipien eines Klosters, das sich der Lehre Christi verschrieben hat. Was ich in dieser Gemeinschaft vorgefunden habe, bestätigt voll und ganz die Richtigkeit der Worte des 55. Psalms: Ihr Mund ist glätter denn Butter, / und haben doch Krieg im Sinn; ihre Worte sind gelinder denn Öl / und sind doch bloße Schwerter.«

Äbtissin Draigen machte Anstalten, etwas zu sagen, doch Brehon Beccan bedeutete ihr mit einer energischen Geste zu schweigen.

»Wir sitzen jetzt hier in einem Gerichtshof und nicht in einer Kapelle, und hier entscheide ich, wer das Wort ergreifen darf«, belehrte er sie. »Die ddlaigh ist noch bei ihren einführenden Bemerkungen. Einwände gegen ihre Darstellung sind zu gegebener Zeit zulässig, worauf ich Euch noch hinweisen werde.«

Fidelma nahm den Faden wieder auf, als sei sie nicht unterbrochen worden.

»Äbtissin Draigen wandte sich an ihren kirchlichen Vorgesetzten, Abt Broce von Ros Ailithir, und bat um die Entsendung eines ddlaigh. Im Hauptbrunnen der Abtei hatte man einen Leichnam ohne Kopf entdeckt. Man fand bei der Leiche gewisse Dinge, denen besondere Bedeutung zukam: in der rechten Hand hielt sie ein Kruzifix, und an den linken Arm war ein Espenholzstab gebunden mit einer Inschrift in Ogham, mit anderen Worten, ein fé, eine Meßlatte für Gräber. Die Ogham-Inschrift bezog sich auf Morrigan, die heidnische Göttin des Todes und der Kriege. Wie ich von Schwester Bronach erfuhr, kennzeichnet man mit diesem Symbol Mörder oder Selbstmörder.

Wenige Tage später wurde die Verwalterin der Abtei, Schwester Siomha, in gleicherweise enthauptet und mit den gleichen Symbolen versehen aufgefunden. Schon zu Beginn meiner Untersuchungen wurde mir mitgeteilt, daß die einzige Person, die ein Tatmotiv haben könnte, Äbtissin Draigen sei. Man erzählte mir, ihre Vorliebe für Novizinnen sei allgemein bekannt .«

Diesmal sprang Draigen auf und begann lautstark zu protestieren, doch Beccans strenger Tonfall brachte sie zum Schweigen.

»Ich sagte bereits, daß Ihr später Gelegenheit haben werdet, etwas zu entgegnen. Unterlaßt fortan weitere Unterbrechungen. Andernfalls steht es in meinem Ermessen, wegen Mißachtung des Gerichtes eine Geldstrafe gegen Euch zu verhängen.«

Entrüstet setzte sich Äbtissin Draigen wieder auf ihren Platz, und Fidelma ergriff mit einer gebieterischen Handbewegung erneut das Wort. »Es waren viele Geschichten in Umlauf, die meist aus Gehässigkeit oder, wie ich herausfand, aus anderen finsteren Motiven erfunden wurden. Hätte sich Draigen eines solchen Verbrechens schuldig gemacht, so hätte sie wohl kaum Abt Broce gebeten, einen ddlaigh zu entsenden, um den Mordfall aufzuklären. Andererseits stellte sich heraus, daß die Äbtissin die Bußvorschriften Roms unseren weltlichen Gesetzen vorzieht. Dieser Widerspruch beschäftigte mich von Anfang an, bis ich begriff, daß die Lösung ganz einfach war und Draigen selbst ganz offen dazu stand: sie hatte Broce nur deshalb um die Entsendung eines ddlaigh gebeten, weil sie verhindern wollte, daß ihr Bruder Adnar, der örtliche Friedensrichter, kraft seines Amtes Vollmachten in der Abtei erhielt.«

Die Äbtissin warf Fidelma einen finsteren Blick zu, enthielt sich jedoch jeden Kommentars. Die ddlaigh fuhr fort.

»Meine Ermittlungen konzentrierten sich zunächst darauf, die Identität der ersten Toten festzustellen. Es handelte sich um den Leichnam eines jungen Mädchens, dessen Daumen, Zeigefinger und kleiner Finger eine blaue Färbung aufwiesen - ein typisches Merkmal bei jemandem, der sich mit der Kunst des Schreibens beschäftigt. Als ich erfuhr, daß zwei Schwestern aus der Abtei, Schwester Comnat, die Bibliothekarin, und Schwester Almu, ihre junge Gehilfin, vermißt wurden, vermutete ich sofort, die letztere könnte die Tote sein. Die beiden waren drei Wochen zuvor zu einem Kloster in Ard Fhearta aufgebrochen und noch nicht zurückgekehrt. Kurz und gut, mein Verdacht erwies sich als zutreffend: Es handelte sich tatsächlich um Almus Leichnam.

Nachdem die Identität der Toten geklärt war, mußte die nächste Frage lauten: Welches Motiv gab es für den Mord? Warum und wie war Schwester Almu in die Abtei zurückgekehrt? Warum hatte man ihr, nachdem sie ermordet wurde, den Kopf ab geschnitten? Und was hatten die heidnischen Symbole zu bedeuten? Am Körper der Toten fand ich drei weitere Hinweise: Sie war vor ihrem Tod in Ketten gelegt worden, man hatte sie offensichtlich mißhandelt, und an ihren Füßen sowie unter den Fingernägeln entdeckte ich rotbraunen Schlamm. Schwester Bronach erklärte mir, dieser Schlamm sei typisch für die kupferreiche Gegend hier. Nicht wahr, Schwester Bronach?«

Die Schwester mit der mürrischen Miene erhob sich von ihrem Sitz, nickte zur Bestätigung und nahm wieder Platz.

»Noch rätselhafter und verwirrender war der Mord an Schwester Siomha. Ihr Leichnam wurde im Turm gefunden, ebenfalls enthauptet und mit den gleichen Symbolen versehen. Diesmal war die Tote nicht entkleidet. Der Mörder wußte, daß wir sie erkennen würden, und vielleicht wollte er das Ja auch. Wozu die Symbole? Wozu das Abschneiden der Köpfe? Was mich jedoch am meisten beschäftigte, war die Tatsache, daß sich unter ihren Fingernägeln der gleiche rötlich-braune Schlamm befand. Wenige Stunden zuvor, als ich Schwester Siomha zum letzten Mal lebend gesehen hatte, war er noch nicht dort gewesen.

Auf der Treppe, die aus dem Turm in den subterraneus hinunterführt, fand ich Spuren von Blut - Siom-has Blut. Ihr Mörder hatte ihr oben im Turm den Kopf abgeschnitten und ihn nach unten in die Höhle gebracht. Warum?

War hier ein Wahnsinniger am Werk? War das Tatmotiv Haß - Haß auf die Schwestern, die Abtei, die Äbtissin? Bruder Febal verspürt mit Sicherheit Haß auf das alles, besonders auf Äbtissin Draigen, seine frühere Ehefrau. Er war es auch, der mich davon zu überzeugen suchte, daß Draigen widernatürliche Beziehungen zu Novizinnen unterhielt. Febal trägt mehr als genug Haß in sich, um ihn zu so schrecklichen Morden zu treiben.«

Fidelma blickte über die Schulter zu Bruder Febal, der sie mit einem feindseligen Ausdruck auf seinem anziehenden Gesicht anstarrte.

»Febals Anschuldigungen gegen Draigen waren frei erfunden.«

Zum ersten Mal zeigte sich eine Spur von Genugtuung auf Äbtissin Draigens Miene.

»Aber«, fuhr Fidelma nach kurzer Pause fort, »gibt es denn einen heimtückischeren Plan als den von Bruder Febal?«

Beccan räusperte sich.

»Seid Ihr zu irgendeinem Schluß gekommen?«

Fidelma hob den Kopf und antwortete: »Ja. Ich vertraue darauf, daß Ihr mich gewähren laßt und Euch geduldig die ganze Geschichte anhört, denn um zur Wahrheit über diese Morde vorzudringen, muß man unbedingt die Zusammenhänge kennen. Alles, was ich behaupte, kann ich inzwischen auch beweisen.«

»Dann fahrt fort, Schwester.«

»In den Chroniken wird berichtet, daß vor vierhundert Jahren in dieser Gegend ein sagenhaftes gol-denes Kalb aufgestellt und angebetet wurde. Cormac Mac Art, der damalige Oberkönig, weigerte sich jedoch, sich an dessen Anbetung zu beteiligen. In der Geschichte heißt es weiter, der Priester des goldenen Kalbes sei darüber so erbost gewesen, daß er ihn ermordete: er sorgte dafür, daß drei Gräten eines Lachses in Cormacs Hals steckenblieben und er daran erstickte. Hier begegnen wir wieder der Symbolik. Drei Lachsgräten. Sie waren lediglich ein Erkennungszeichen.

Kurz bevor Schwester Comnat und Schwester Al-mu nach Ard Fhearta aufbrachen, erschien hier in der Abtei ein Mann mit einem Buch, einer Abschrift von Cormacs Teagasg Ri, dem Handbuch des Königs. Der Mann war in Not geraten und wollte das Buch gegen Lebensmittel eintauschen. Wahrscheinlich kannte er nicht einmal seinen Inhalt. Er brachte es zur Äbtissin, die wiederum Schwester Comnat, die Bibliothekarin, zu Rate zog. Schwester Comnat hielt das Tauschgeschäft für lohnend, vor allem, da ihr aufgefallen war, daß das Buch am Ende noch eine Kurzbiographie von Cormac enthielt. Dann bat sie Schwester Almu, ihre Gehilfin, die Neuerwerbung durchzusehen und in den Bestand einzuordnen.

Das tat Schwester Almu auch. Stellt Euch ihre Aufregung vor, als sie unverhofft eine Fortsetzung der Geschichte vom goldenen Kalb in Händen hielt. Glaubte man diesem Text, dann hatte das sagenhafte Wesen aus massivem Gold tatsächlich existiert. Und was noch weitaus spannender war: der Priester, der dem Kult des goldenen Kalbes gehuldigt hatte, stammte genau aus dieser Gegend. Wahrhaftig, ist nicht das Symbol der Göttin, die man die Alte von Beara nennt, eine Kuh? Heißt nicht Adnars Festung Dun Boi, die Festung der Kuhgöttin? Und das Junge der Kuh ist das Kalb.«

»Wir haben diese alte Volkssage schon oft genug gehört!« unterbrach Äbtissin Draigen voller Ungeduld. »Wann kommen wir endlich zum Kern der Geschichte?«

Beccan ärgerte sich über ihre ständigen Einwürfe.

»Ich habe Euch gewarnt, Mutter Oberin. Ich dulde keine Zwischenrufe. Eine Geldstrafe von einem sét wegen Unterbrechung des Gerichts. Auch ich finde jedoch, Schwester Fidelma, daß Eure Erzählweise immer weitschweifiger wird. Was hat das alles mit den beiden Morden zu tun?«

»Die Symbolik der drei Lachsgräten!« erwiderte Fidelma. »Wir wissen, daß die Stelle, an der heute die Abtei steht, früher eine heidnische Kultstätte war. Wir wissen auch, daß man die Abtei heute Der Lachs aus den Drei Quellen nennt. Das ist nicht nur eine Umschreibung für Christus, sondern auch ein Hinweis auf die heidnische Vergangenheit. Das sagenhafte goldene Kalb war genau hier versteckt, in den Höhlen unterhalb des Klosters. Die meisten kennen sicher das primitive Bildnis eines Kalbes, das in die Wand des unterirdischen Vorratsraumes eingemeißelt ist. Eine ähnliche Abbildung befindet sich in der Nachbarhöhle.«

Unter den Schwestern erhob sich aufgeregtes Murmeln.

»Schwester Almu las den Text - und verstand sofort. In der Geschichte wird überliefert, daß die Priester des goldenen Kalbes den Namen Dedelchu trugen

- Wachhund des Kalbes -und hier völlig abgeschieden lebten. Dann kam Necht, die Reine, um das Land zum Christentum zu bekehren. Es gelang ihr, die heidnischen Priester zu vertreiben. Dem Text zufolge war das goldene Kalb seit damals, seit über hundert Jahren, seit Necht, die Reine, die Heiden verjagte und diese Gemeinschaft gründete, unter der Abtei versteckt und wahrscheinlich längst vergessen - abgesehen von dieser einen Erwähnung in einem Buch über die Gegend. Stellt Euch vor, wie aufgeregt Almu reagiert haben muß, ganz besonders, wenn man an das Vermögen denkt, das eine so sagenhafte Statue einbringen würde. Im wahrsten Sinne des Wortes, sie war ihr Gewicht in Gold wert, denn der Überlieferung zufolge bestand sie Ja aus reinem Gold.«

»Könnt Ihr das beweisen?« fragte Beccan.

Fidelma wandte sich zu Eadulf um, der ihr die zwei verschmutzten Pergamentseiten reichte.

»Auf diesen beiden Blättern steht Cormacs Biographie. Sie wurden erst kürzlich aus dem Buch herausgetrennt. Ich habe sie bei Torcans Leichnam gefunden.«

»Fahrt fort«, brummte Beccan und warf einen Blick darauf.

»Ich fand heraus, daß Schwester Almu eng mit Schwester Siomha befreundet war. Sehr eng. Also war Siomha natürlich die erste, der sie von ihrer Entdek-kung berichten würde. Aus diesem Gespräch heraus entwickelte sich bei den beiden der Wunsch, das goldene Kalb zu finden und in ihren Besitz zu bringen. Eines haben all die traurigen Ereignisse in dieser Abtei gemeinsam: das Tatmotiv Habgier. Hat nicht Lukan, der Dichter, gesagt, Habgier sei ein verfluchtes Laster, und für eine genügend große Menge Gold würde jeder - auch wenn er am Verhungern wäre - seine letzten Nahrungsmittel eintauschen, nur um das Gold zu besitzen? Im vorliegenden Fall war es Schwester Siomha, die dem Verhungern nahe war, allerdings eher auf moralischer und geistlicher Ebene.

Schwester Siomha war so überaus habgierig, daß sie sogar ihre Freundin betrog. Sie überredete sie, niemandem von der Geschichte zu erzählen - vielleicht vereinbarten sie, die Sache nach Almus Rückkehr aus Ard Fhearta weiter zu verfolgen. Sobald Schwester Almu abgereist war, zog Siomha einen Dritten ins Vertrauen und erzählte ihm alles. Anhand der Angaben auf den herausgetrennten Seiten des Buches entdeckten Siomha und ihr Komplize die Höhle, in der das sagenumwobene goldene Kalb ihrer Meinung nach versteckt sein mußte, aber ihr Eingang, der sich im subterraneas der Abtei befand, war mit Steinen und Erde zugeschüttet.

Siomha mußte ihrem Komplizen Zeit und Gelegenheit verschaffen, damit er den Zugang zu der vermeintlichen Schatzhöhle freischaufeln konnte. Deshalb übernahm sie freiwillig so viele Nachtwachen wie möglich im Turm der Abtei. Nur eine Person hörte die klopfenden Geräusche, die beim Freilegen des Durchgangs entstanden, und das war Schwester Ber-rach. Schwester Berrach, eine intelligente junge Frau, die sich aufgrund von Vorurteilen verstellen und die Schwachsinnige spielen mußte, hatte die Angewohnheit entwickelt, sich jeden Morgen, lange vor Sonnenaufgang, heimlich in die Bibliothek zu stehlen, um dort zu lesen - sie wollte ihren Mitschwestern gegenüber nicht offenbaren, wie klug sie in Wirklichkeit war. Doch selbst Schwester Berrach hielt das Dröhnen lediglich für ein Echo der Geräusche, die häufig aus der geheimnisvollen Höhle unter der Abtei zu vernehmen waren. Das Dröhnen entsteht übrigens durch zwei alte Holzfässer, die in einem unterirdischen Wasserbecken, das sich in der Höhle befindet, umhertreiben und vom Meerwasser aus der Bucht, das die Höhle hin und wieder überflutet, in Bewegung versetzt werden. Was diese Vermutung betrifft, hatte Äbtissin Draigen durchaus recht.«

Fidelma legte eine kurze Pause ein, da sie merkte, daß Beccans Schreiber Schwierigkeiten hatte, mitzukommen.

»Schwester Siomhas Komplize hatte gerade den Durchbruch zu der zweiten Höhle gegraben, als eine unvorhergesehene Komplikation eintrat: Schwester Almu kehrte unerwartet in die Abtei zurück. Das Schicksal hatte eine schreckliche Wendung genommen. Schwester Comnat und Schwester Almu gerieten in Gefangenschaft, weil sie heraus gefunden hatten, daß eine Verschwörung im Gange war und daß Gul-ban, der Häuptling der Beara, gemeinsam mit den Ui Fidgenti einen Aufstand gegen Cashel plante. Die beiden Ketten von Ereignissen hatten übrigens ursprünglich nicht das Geringste miteinander zu tun.

Schwester Almu versuchte zu fliehen, wurde jedoch wieder eingefangen und zur Strafe ausgepeitscht. Sie wußte, daß sie kaum eine Chance hatte, aus dem Gebiet in der Nähe der Kupferminen zu entkommen - es sei denn, jemand würde ihr helfen. Nun weilte in der Ortschaft, wo man die Schwestern gefangenhielt, ein junger Prinz der Ui Fidgenti. Schwester Almu begann, sich bei dem jungen Mann einzuschmeicheln. Ich habe Almu zwar nicht gekannt, doch muß sie meiner Meinung nach eine ausgezeichnete Menschenkennerin gewesen sein. Sie begriff, daß Habgier eine der wichtigsten Triebfedern im Denken des Prinzen war. Also erzählte sie ihm die Geschichte vom goldenen Kalb und versprach ihm, das Geheimnis der Statue niemandem sonst zu verraten. Sie konnte Ja nicht wissen, daß ihre Freundin ihr Vertrauen schon längst mißbraucht hatte.«

»Ich vermute, dieser Prinz war Torcan?« warf Bec-can ein.

»Richtig«, bestätigte Fidelma. »Torcan half Almu, in die Abtei zu fliehen - aus purer Habgier. Er verabredete mit ihr ein Treffen auf dem Hof des Bauern Barr. Ahnungslos kehrte Almu in die Abtei zurück. Was sollten Siomha und ihr Komplize tun, als sie unversehens auftauchte? Wir wissen, welches Schicksal sie ereilte. Torcan wartete unterdessen bei Barr auf sie.

Ihr könnt Euch vorstellen, wie wütend er war, als sie nicht erschien. Wahrscheinlich dachte er, Almu hätte ihn hintergangen. Er wartete die ganze Nacht.

Als er tags darauf nichts von ihr hörte, verließ er Barr, kehrte jedoch kurze Zeit später wieder zurück. Er hatte erfahren, daß in der Abtei eine Tote entdeckt worden war. Torcan gab dem Bauern Geld, damit er hierher kam und vorgab, seine Tochter sei verschwunden und er wolle deshalb die Leiche sehen und sich vergewissern, ob sie womöglich die Tote war. Barr hatte gar keine Tochter, weder eine verschwundene noch sonst irgendeine. Er beschrieb Torcan die Leiche, und dieser erkannte sie anhand der Beschreibung - trotz des fehlenden Kopfes. Übrigens kann Barr das alles bestätigen.«

Alle reckten die Hälse und schielten zu dem Bauern, der gesenkten Hauptes dasaß und mit den Füßen scharrte.

»Torcan soll die Leiche anhand der Beschreibung erkannt haben und wir nicht?« höhnte Äbtissin Draigen. »Das kann ich nicht glauben.«

»Dennoch ist es wahr. Ihr habt Euch alle davon beirren lassen, daß Schwester Siomha steif und fest behauptete, die Tote sei auf gar keinen Fall ihre Freundin Almu. Zweifellos hatte Almu Torcan erzählt, daß ihre Freundin Siomha von dem Geheimnis wußte. Als er erfuhr, daß Siomha Almu nicht identifiziert hatte, kam ihm der Verdacht, daß sie versuchen könnte, den Schatz ganz allein zu finden.«

»Wollt Ihr damit sagen, daß Schwester Siomha Al-mu ermordet hat?« Äbtissin Draigen war erneut aufgesprungen - Beccans Ermahnungen schien sie vergessen zu haben.

»Wenn sie die Tat auch nicht eigenhändig ausführte, so war sie doch daran beteiligt. Mein Verdacht, Siomha könnte in die Sache verwickelt sein, gründete sich auf folgende Tatsachen: erstens war sie mit Almu sehr eng befreundet, behauptete jedoch, der Leichnam sei auf keinen Fall der ihrer Freundin. Es ist zwar möglich, daß sie die Leiche wirklich nicht erkannte, aber doch so unwahrscheinlich, daß wir es vernachlässigen können. Zweitens hat sie eindeutig gelogen, als sie Schwester Bronach erzählte, sie hätte kurz vor der Entdeckung der Toten Wasser aus dem Brunnen geschöpft. Almus Leichnam muß von Siomha und ihrem Komplizen noch vor Tagesanbruch im Brunnen versteckt worden sein, sonst wäre das Risiko viel zu groß gewesen. Der dritte Hinweis darauf, daß Siomha irgend etwas mit der Sache zu tun hatte, waren ihre falschen Zeitberechnungen während ihres Dienstes an der Wasseruhr - genau in jener Nacht.«

»Falsche Berechnungen?« fragte Draigen mit schneidender Stimme.

»Siomha galt als ausgesprochen pedantisch. In der Nacht, in der Almu ermordet wurde, stellte sie mehrere falsche Berechnungen an, die Schwester Bronach mir gegenüber einmal nebenbei erwähnte. Mit anderen Worten, irgendwann muß Siomha die Wasseruhr und den Turm verlassen und ihrem Komplizen bei der Beseitigung Almus geholfen haben. Almu stieg hinunter in die freigelegte Höhle - oder wurde dorthin gelockt. Sie hatte roten Schlamm unter den Fingernägeln, den gleichen Schlamm, der - wie man mir versicherte - auch ihren Körper bedeckte, bevor sie für das Begräbnis vorbereitet und gewaschen wurde. Siomha hatte die entscheidenden Zeitabschnitte verpaßt und mußte sie später irgendwie nachtragen. Schwester Bronach wurde auf diese Fehler aufmerksam, als sie am nächsten Morgen ihren Dienst antrat.«

»Warum kam Torcan nicht sofort in die Abtei, um nach dem goldenen Kalb zu suchen?« fragte Beccan.

»Wegen seiner Beteiligung an der Verschwörung mußte er für einige Tage zu den Kupferminen zurück. Als er dann wieder in Adnars Festung eintraf und mit Schwester Siomha Kontakt aufnahm, glaubte er zunächst, er hätte es nur mit ihr zu tun, und verlangte von ihr eine Kopie des Buches mit allen erforderlichen Angaben. Er wußte allerdings nicht, um welches Buch es sich handelte. Siomha nutzte diesen Vorteil und schickte ihm eine Kopie der Chroniken von Clon-macnoise. Da sie außerdem befürchtete, er könnte sie hintergehen, ließ sie ihm das Buch durch Schwester Lerben überbringen. Als weitere Vorsichtsmaßnahme trennte sie die entscheidenden Seiten aus dem richtigen Werk, dem Teagasg Ri, das nach wie vor in der Bibliothek steht, heraus und übergab sie ihrem Komplizen.

Zufällig befand ich mich gerade auf dem Weg zu Adnars Festung, als Torcan auf Siomha wartete, die bald mit der gewünschten Abschrift den Pfad entlang durch den Wald kommen mußte. Er hielt mich für Siomha und schoß auf mich. Ich bin dem Pfeil, der für sie bestimmt war, nur mit knapper Not entkommen. Als Torcan und seine Männer ihren Irrtum bemerkten, versuchten sie, alles zu vertuschen, und behaupteten, sie seien auf der Jagd und hätten mich mit einem Hirsch verwechselt - eine äußerst schwache Ausrede. Mein Verdacht bestätigte sich, da kurze Zeit später Schwester Lerben den Waldweg daherkam und ein Buch bei sich trug, das sie Torcan überbringen sollte.«

Schwester Lerbens Gesicht wurde kreidebleich.

»Ich hätte getötet werden können«, platzte sie heraus.

Fidelma achtete nicht auf sie und fügte hinzu: »Torcan kam schnell dahinter, daß er überlistet worden war. Er machte sich auf die Suche nach Siomha.«

»Und tötete sie?« fragte Beccan.

»Nein. Das war Siomhas Komplize in diesem Ränkespiel - er hatte inzwischen erkannt, daß sie nur eine Belastung für ihn darstellte.«

»Ah Ja, der Komplize«, schnaufte Beccan. »Diesen geheimnisvollen Unbekannten habe ich ganz aus den Augen verloren.«

»Schwester Siomha war nun das einzige Bindeglied zwischen Torcan und dem Komplizen. Also mußte sie sterben - um zu verhindern, daß Torcan die Wahrheit herausfand.«

»Und wer war nun dieser Komplize?« wollte Drai-gen wissen. »Ihr habt schon so viel über ihn geredet, uns seine Identität jedoch immer noch nicht verraten.«

»Siomhas Komplize war gleichzeitig ihr Liebhaber. Er hat die beiden Morde auf dem Gewissen.«

In der Kapelle knisterte es vor gespannter Erwartung.

»Bei beiden Morden ließ der Täter sein Opfer - mit symbolträchtigen Gegenständen ausgestattet - absichtlich so zurück, daß er damit eine doppelte Wirkung erzielte: erstens lockte er jeden, der möglicherweise Nachforschungen anstellte, auf die falsche Fährte, und zweitens verbreitete er unter den Mitgliedern der Gemeinschaft Angst und Schrecken. Vielleicht hoffte er sogar, einige Nonnen würden die Abtei vor lauter Angst verlassen, da sie zu der Überzeugung gelangt waren, sie sei mit einem heidnischen Fluch belegt. Deshalb hat er die Opfer enthauptet und ihnen ein an einen Arm gebunden und ein Kruzifix in die rechte Hand gesteckt.

Mittlerweile interessierte sich Torcan natürlich nicht mehr so sehr für den Aufstand seines Vaters gegen Cashel. Vielleicht war das auch vorher nicht der Fall. Ihm ging es hauptsächlich darum, persönlichen Reichtum zu erlangen und dadurch letztendlich auch Macht und Einfluß. Seine Habgier übertönte die Stimme der Vernunft. Er wußte, daß ich dem Geheimnis auf der Spur war, und versuchte deshalb, den Verdacht auf Olcan zu lenken, indem er ihn in die Abtei und auf das gallische Schiff schickte und ihm auftrug, gewisse Fragen zu stellen.

Torcan beobachtete mich ganz genau. Ich muß zugeben, daß ich nicht merkte, wie genau. Er folgte Eadulf und mir in die Höhle, als wir den Eingang zu der vermeintlichen Schatzkammer entdeckten. Er schlich sich hinter uns hinein und schlug Eadulf vorübergehend bewußtlos. Vermutlich dachte er, wir hätten das goldene Kalb schon gefunden, und wollte mir Angst einjagen, damit ich alles preisgab, was ich seiner Meinung nach wußte.«

»Adnar sagte aus, daß Torcan Euch gerade töten wollte, als er einschritt und Euch das Leben rettete«, betonte Beccan.

»Adnar irrt sich. Man kann Torcan in diesem Fall für keinen Mord verantwortlich machen, lediglich für einen Mordversuch, als er mich im Wald für Siomha hielt. Torcan hätte mich dort unten in der Höhle niemals getötet, bevor er nicht alles erfahren hatte, was ich, wie er glaubte, über das goldene Kalb wußte.«

»Ihr habt gesagt, Siomhas geheimnisvoller Komplize war gleichzeitig ihr Liebhaber. Dann kann es sich doch nur um Adnar handeln.«

»Siomhas Liebhaber!« Äbtissin Draigen hatte sich wutentbrannt halb umgedreht und starrte ihren Bruder voller Abscheu an. »Das hätte ich mir denken können.«

»Das ist nicht wahr!« rief Adnar. »Ich war niemals Siomhas Liebhaber.«

»Und doch verbrachte Siomha reichlich Zeit in Eurer Festung, besonders in den letzten drei Wochen«, warf Schwester Lerben ein. »Ich habe Schwester Fidelma davon erzählt.«

Unter den Zuhörern erhob sich erregtes Gemurmel.

»Ihr irrt Euch«, sagte Fidelma. »Siomhas Liebhaber war nicht Adnar.«

Gespanntes Schweigen breitete sich aus.

»Ich kann Euch wirklich nicht mehr folgen, Schwester Fidelma«, erklärte Beccan bedächtig. »Von wem redet Ihr denn dann?«

»Zufällig hat Schwester Berrach ihn gesehen, gleich nachdem er Schwester Siomha getötet hatte. Wahrscheinlich war er da gerade mit Siomhas abgetrenntem Kopf auf dem Weg hinunter in den subterraneas. Berrach sah eine Gestalt mit einer Kapuze. Vergeßt nicht: nur einer fütterte Adnar mit Lügengeschichten über Draigen. Nur einer versuchte, mich mit den gleichen Geschichten hinters Licht zu führen. Nur einer verhielt sich wie die listige Schlange, setzte hier und dort Gerüchte in Umlauf und zog die Fäden in dieser Tragödie. Nur einer, der nicht zu dieser Gemeinschaft gehörte und dennoch eine Kapuze trug.«

Bruder Febal war aufgesprungen und drängte sich durch die Zuschauer zum Fenster der duirthech.

Mail und seine Männer waren vor ihm dort und hielten ihn zurück, als er hinauszuklettern versuchte.

Nicht wenige Zuhörer schnappten vor Überraschung oder vor Schreck nach Luft.

Adnar wurde kreidebleich und zitterte, als er zusehen mußte, wie man Febal in Fesseln legte.

»Bruder Febal hat Euch erzählt, daß Torcan hinter allem steckt, nicht wahr?« fragte Fidelma den bo-aire. »Febal hat ein Talent dafür, Geschichten zu verbreiten. Er gab Euch die beiden Seiten, die aus dem Tea-gasg Ri entfernt worden waren ...«

»Sagtet Ihr nicht, Ihr hättet die zwei Blätter bei Torcaos Leichnam gefunden?« schaltete sich Beccan ein.

»Das habe ich auch. Aber wie sind sie dorthin gekommen? Bruder Febal gab sie Adnar ...«

»Er sagte, er hätte sie in Torcans Satteltaschen gefunden«, gestand Adnar.

»Hat er vorgeschlagen, sie Torcans Leichnam unterzuschieben?«

Adnar senkte den Kopf.

»Ich habe wirklich gedacht, daß er Euch umbringen will. Ich glaubte alles, was Febal mir erzählte. Aber es war meine Idee, die Seiten Torcan unterzuschieben. Als wir in die größere Höhle zurückgingen, dachte ich, Ihr hättet vielleicht nicht genügend Beweismaterial, um Torcans Schuld nachzuweisen. Febal hatte behauptet, die Seiten in Torcans Satteltaschen entdeckt zu haben, und deshalb beschloß ich, sie bei dem Toten zurückzulassen, damit Ihr sie entdeckt.«

»Ich weiß. Ihr erfandet eine Ausrede, um noch einmal zurückzugehen und die Blätter Torcans Leiche unterzuschieben, während ich mich um Bruder Eadulf kümmerte.«

Adnar wirkte überrascht.

»Woher wißt Ihr das?«

»Das ist kein Geheimnis. Ihr erinnert Euch sicher, daß ich Torcan untersuchte - und nur noch seinen Tod feststellen konnte -, bevor wir Bruder Eadulf in die andere Höhle brachten. Als ich später mit Eadulf zurückkam, fielen mir sofort die unförmigen Seiten unter Torcans Hemd ins Auge. Ich wußte, daß sie vorher noch nicht dort gewesen waren. Es lag auf der Hand, daß nur Ihr sie dort hingesteckt haben konntet.«

»Also«, unterbrach Beccan seufzend ihre Ausführungen, »wollt Ihr damit sagen, daß Adnar an diesem Verbrechen völlig unschuldig ist? Daß er von Bruder Febal manipuliert und in die Irre geführt wurde?«

»Adnar trifft keinerlei Schuld an den Morden an Almu und Siomha, und er wußte auch nichts von der Jagd nach dem goldenen Kalb. Ihn trifft jedoch eine Mitschuld an der Verschwörung zum Aufstand gegen Cashel.«

Adnar erhob sich und blickte verzweifelt umher.

»Aber ich habe Euch doch davor gewarnt!« protestierte er. »Ich habe Euch vor dem Aufstand gewarnt, bevor irgend etwas davon durchsickerte.«

»Das stimmt«, flüsterte Bruder Eadulf. »Er hat uns gewarnt.« Fidelma beachtete ihn nicht.

»Ja, Adnar«, entgegnete sie. »Ihr habt mich gewarnt, als der Aufstand bereits niedergeschlagen war. Ganz früh am Morgen trafen Boten auf Eurer Festung ein - ich habe sie gesehen, ich war gerade unterwegs zu Bruder Eadulf. Das war genau an jenem Morgen, als Ihr beschlossen habt, Olcan gefangenzunehmen und Torcan in die Höhle zu folgen. Die Boten brachten Euch und Torcan die Kunde, daß Gulban tot und die fränkischen Söldner und ihre Waffen vernichtet waren. Vielleicht war es diese Nachricht, die Torcan dazu trieb, das Versteckspiel zu beenden und sich zu einer letzten, verzweifelten Suchaktion nach dem goldenen Kalb in die Abtei zu wagen.«

Adnars Miene verriet, daß Fidelma ins Schwarze getroffen hatte.

»Ihr wußtet, Ihr würdet Euch bald gegen den Vorwurf, an der Verschwörung beteiligt gewesen zu sein, verteidigen müssen. Um Eure Loyalität zu beweisen, nahmt Ihr als erstes Gulbans Sohn Olcan gefangen, der in Wirklichkeit nicht das Geringste mit dem Komplott der Aufständischen zu tun hatte. Dann folgtet Ihr Torcan hierher und konntet mich so vor dem Aufstand warnen - obgleich Ihr bereits wußtet, daß Gulbans Angriff gescheitert war.«

Beccan flüsterte seinem Schreiber etwas zu, bevor er das Wort an Fidelma richtete.

»Laßt mich das noch einmal klarstellen. Adnar ist unschuldig, was die Morde an Almu und Siomha betrifft. Ihr deutet jedoch an, daß er Torcan tötete, allerdings in der Überzeugung, dazu berechtigt zu sein?«

»Es ist verwirrend«, gab Fidelma zu, »aber man darf eines nicht vergessen: Adnar hielt Torcan zwar für schuldig an der Ermordung von Almu und Siom-ha. Er tötete ihn allerdings vorsätzlich, um zu verhindern, daß er seine Beteiligung an der Verschwörung verraten könnte. Er hat sich daher trotzdem des Mordes schuldig gemacht.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann begann Adnar zu protestieren.

»Ihr könnt nicht beweisen, daß ich von dem Kom-plott wußte und von den Vorfällen bei den Kupferminen.«

»Ich glaube doch«, versicherte ihm Fidelma. »Erinnert Euch: Als Ihr die Höhle betreten und Torcan getötet hattet, spracht Ihr Bruder Eadulf mit seinem Namen an. Woher konntet Ihr wissen, wer er war, wenn Ihr keine Ahnung davon hattet, was bei den Kupferminen vor sich ging und daß er gerade von dort entflohen war?«

Adnar wollte etwas erwidern, zögerte jedoch, und seine Schuld stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Plötzlich ließ er sich auf seinen Platz sinken, als hätte ihn alle Kraft verlassen.

Beccan konnte seine Genugtuung nicht verbergen. Er wandte sich an Fidelma.

»Dann bleibt also Bruder Febal als Mörder von Schwester Almu und Schwester Siomha?«

»Richtig. Er tötete Almu und legte die falsche Fährte. Als Torcan ihm auf die Schliche kam, opferte er Siomha - seine Geliebte.« Sie schaute Schwester Lerben an. »Siomha besuchte in Dun Boi nicht Adnar, wie Ihr vermutet habt, sondern Febal.«

Bruder Febal stand mit gefesselten Händen zwischen den beiden Kriegern. Nun fing er an zu lachen und rief mit hysterischer Stimme: »Sehr schlau das alles, ddlaigh! Habe ich nicht gesagt, daß Ihr Frauen immer zusammenhaltet? Aber eines müßt Ihr mir noch verraten, ddlaigh: Wo befindet sich das goldene Kalb denn jetzt? Wenn ich soviel darangesetzt haben soll, es zu finden, wo ist es denn nun?«

Brehon Beccan richtete den Blick auf Fidelma.

»Obzwar wir offenbar genügend Beweise und Geständnisse haben, wirft Febal da eine durchaus interessante Frage auf. Wo befindet sich das sagenumwobene goldene Kalb, um dessentwillen so viel Blut geflossen ist?«

Fidelma zuckte die Achseln.

»Tja, das ist leider ein Rätsel, das niemals gelöst wird.«

Ungläubiges Schnauben war zu hören.

»Wollt Ihr damit etwa sagen, daß mein Opfer völlig sinnlos war?« Febals Stimme überschlug sich.

»Euer Opfer?« rief Beccan mit Donnerstimme. »Ihr habt zwei Mitglieder dieser Gemeinschaft getötet und mit Euern Ränken auch Torcans Tod auf dem Gewissen. Schafft ihn hier raus!« befahl er den Kriegern. »An Bord meines Schiffes. Adnar ebenfalls. Wir nehmen die beiden mit nach Cashel.«

Mail und seine Krieger stießen Adnar und Febal aus der Kapelle hinaus.

Beccan warf Fidelma einen fragenden Blick zu.

»Wollt Ihr behaupten, daß das goldene Kalb in Wirklichkeit nie existiert hat?«

Fidelma verzog das Gesicht.

»Wahrscheinlich schon. Wer sind wir, daß wir die Worte der alten Chroniken anzweifeln können? Doch es befindet sich mit Sicherheit nicht mehr in der Höhle. Vielleicht wurde es vor vielen Jahren von dort fortgeschafft. Und vielleicht war das auch der Grund, warum der Eingang zur Höhle zugeschüttet wurde.

Vielleicht konnte man vor Jahren von der Meerseite her in die hintereinanderliegenden Höhlen gelangen, vielleicht lag dort der ursprüngliche Eingang.«

»Wie kommt Ihr darauf?«

»Durch die zwei Fässer - die beiden Holzfässer, die auf dem unterirdischen Becken trieben und aneinanderstießen.«

»Ich verstehe nicht.«

»Ganz einfach. Wie sind die Fässer in die Höhle gelangt? Wie konnte das goldene Kalb in die Höhle hinein- oder von dort wieder hinausgebracht werden? Der Eingang, durch den sich Febal und Siomha Zutritt verschafften, war, wie Eadulf und ich herausfanden, nur gut einen halben Meter breit. Folglich müssen die Fässer durch einen anderen Zugang hineingelangt sein, durch den auch das goldene Kalb hinein-und hinausgeschafft wurde. Und noch etwas: die Fässer sind, ihrem Aussehen nach zu urteilen, noch keine hundert Jahre alt. Mit Sicherheit nicht älter, denn das Holz ist nicht verfault, innen noch recht trocken und hart genug, um bei jedem Zusammenstoß ein dumpfes Dröhnen hervorzurufen. Ich möchte eine gewagte Behauptung aufstellen: Derjenige, der die Fässer in die Höhle hineinbrachte, nahm das goldene Kalb mit hinaus.«

»Dann werden wir also nie erfahren, wer das goldene Kalb an sich nahm und wo es sich heute befindet?«

Fidelma schürzte die Lippen. Bevor sie antwortete, ließ sie den Blick bedächtig umherschweifen - von dem mächtigen Altarkreuz aus Gold zu den goldenen Ikonen, die an den Wänden der duirthech hingen. Dann wandte sie ihre spöttischen blauen Augen wieder dem Richter zu.

»Als Necht, die Reine, den Heiden Dedelchu und seine Gefolgschaft von hier verjagte und diesen Ort dem Neuen Glauben weihte, verschwand das goldene Kalb möglicherweise mit ihnen.«

Nach einer Pause erhob sich der Brehon von seinem Sitz.

»Die Vorverhandlung ist geschlossen. Wir sind heute Zeugen Eurer großen Klugheit geworden, Fidelma von Kildare«, bemerkte er anerkennend.

Fidelma zuckte bescheiden die Achseln.

»Vitam regitfortuna non sapientia«, antwortete sie.

»Wenn Glück und nicht Weisheit das menschliche Leben regiert«, erwiderte Beccan trocken, »dann ist Euch das Glück wirklich ausgesprochen hold.«

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