Kapitel 9

Schwester Fidelma war bereits wach, bevor die angstvolle Stimme die Dunkelheit durchschnitt. Das Drehen des Türgriffs an ihrer kleinen Kammertür hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Dank ihres unfehlbaren Gespüres für mögliche Gefahren war sie augenblicklich hellwach. Im Türrahmen stand ein Schatten. Es war mitten in der Nacht, nur der flüchtige Schein des Mondes erhellte den Raum und tauchte ihn in blaßblaues Licht. Die Kälte war beißend, und ihr Atem gefror zu weißen Wölkchen, während sie sich mühsam aufrichtete.

»Schwester Fidelma!« Die Stimme der hochgewachsenen Nonne klang wie ein verängstigter Schrei.

Fidelma erkannte sie trotz des unnatürlichen Tonfalls. Es war Äbtissin Draigen.

Augenblicklich saß Fidelma aufrecht im Bett und griff nach Feuerstein und Zunder, um das Talglicht anzuzünden.

»Mutter Oberin? Was ist los?«

»Ihr müßt sofort mitkommen.« Draigens Stimme versagte, sie konnte ihre Erregung kaum verbergen.

Fidelma hatte die Kerze angezündet und wandte sich nun der Äbtissin zu.

Die war vollständig angekleidet, und selbst im gelblichen Kerzenschein wirkte ihr Gesicht kreidebleich und schreckverzerrt.

»Ist etwas passiert?« Im gleichen Augenblick wurde Fidelma bewußt, daß ihre Frage überflüssig war. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang sie aus dem Bett. Nun, da sie begriff, daß etwas Furchtbares geschehen war, spürte sie die Kälte nicht mehr. »Was ist passiert?«

Die Äbtissin zitterte am ganzen Körper, allerdings vor Angst und Schrecken und weniger wegen der nächtlichen Kälte. Sie schien unter Schock zu stehen und war nicht in der Lage, eine zusammenhängende Antwort zu geben.

Fidelma warf ihren Umhang über und schlüpfte in ihre Schuhe.

»Geht voraus, Mutter Oberin«, befahl sie ruhig. »Ich folge Euch.«

Die Äbtissin zögerte nur einen Augenblick, dann drehte sie sich um und wandte sich zum Innenhof. Draußen war es fast taghell, denn es war Neuschnee gefallen, der jetzt im Mondlicht leuchtete.

Fidelma blickte zum Himmel und erkannte an der Stellung des Mondes sofort, daß es mehrere Stunden nach Mitternacht war. Bis zur Dämmerung würde es jedoch noch einige Zeit dauern. Die nächtliche Ruhe schien vollkommen. Nur das Knirschen ihrer Lederschuhe auf dem gefrorenen Schnee störte die Stille der Nacht.

Fidelma bemerkte, daß sie die Richtung zum Turm eingeschlagen hatten.

Schweigend folgte sie der Äbtissin, in der einen Hand die Kerze, die andere als Schutz vor einem plötzlichen Windstoß vor die Flamme haltend, doch es war trotz der Kälte so windstill, daß die Flamme kaum flackerte.

Die Äbtissin betrat den Turm. Die Bibliothek lag im Dunkel, doch sie eilte zum Fuß der Treppe, die in die oberen Stockwerke führte, ohne abzuwarten, bis Fidelma ihr leuchtete. Sie stiegen eilig in den dritten Stock hinauf, in das Skriptorium. Am Fuße des nächsten Treppenabsatzes, von wo man in das Stockwerk mit der Wasseruhr gelangte, bemerkte Fidelma eine erloschene Kerze und einen Kerzenhalter, die auf dem Boden lagen, als hätte sie jemand achtlos weggeworfen. Draigen blieb so plötzlich stehen, daß Fidelma beinahe mit ihr zusammengestoßen wäre. Im Licht der flackernden Kerze wirkte Draigens Gesicht gespenstisch, doch allmählich schien sie ihre Fassung wiederzugewinnen.

»Ihr solltet Euch wappnen, Schwester. Der Anblick, der Euch bevorsteht, ist alles andere als angenehm.« Das waren die ersten Worte, die Draigen von sich gab, seit sie Fidelma aus dem Schlaf gerissen hatte.

Ohne weitere Erklärung drehte sie sich um und erklomm die Stufen.

Fidelma schwieg. Sie spürte, daß es nichts zu sagen gab, bevor sie die Bedeutung dieses nächtlichen Ausflugs nicht kannte.

Sie folgte der Äbtissin in den Raum mit der Klepsydra.

Das Feuer verbreitete einen weichen rötlichen Schein, das Wasser in der großen Bronzeschale dampfte wie immer. Außerdem brannten hier zwei Laternen, deren Licht ihre Kerze überflüssig machte.

Kaum hatte Fidelma den Raum betreten, da sah sie den Körper ausgestreckt auf dem Boden liegen. Daß es sich um eine Frau handelte, die das Gewand einer Schwester dieser Gemeinschaft trug, bedurfte keines näheren Hinsehens. Soviel war auf den ersten Blick klar.

Äbtissin Draigen sagte nichts, sondern blieb einfach an der Seite stehen.

Fidelma setzte ihre Kerze vorsichtig auf einer Bank ab und trat näher. Obwohl sie schon viele Tote gesehen hatte, die durch Gewalt ums Leben gekommen waren, konnte sie nicht verhindern, daß sie vor Abscheu am ganzen Leib zitterte.

Der Kopf des Leichnams war abgetrennt. Er war nirgends zu sehen.

Die Tote hätte mit dem Gesicht nach unten gelegen, hätte sie noch ein Gesicht gehabt. Die Arme waren zur Seite gestreckt. Fidelma bemerkte sofort, daß die rechte Hand ein kleines Kruzifix umklammerte und um den linken Arm ein kurzer Stab aus Espenholz mit Schriftzeichen in Ogham gebunden war. Um den durchtrennten Hals herum war alles blutverschmiert. Das Blut war noch frisch, rot und klebrig. Eine zweite Blutlache sickerte unter der Brust der Toten hervor.

Fidelma atmete tief ein und langsam wieder aus.

»Wer ist das?« fragte sie die Äbtissin.

»Schwester Siomha.«

Fidelma blinzelte kurz.

»Wieso seid Ihr da so sicher?«

Die Äbtissin stieß einen erstickten Laut aus, der ein kurzes, schroffes, zynisches Lachen hatte werden sollen.

»Ihr habt uns erst vor kurzem einen Vortrag darüber gehalten, Schwester, wie man einen Leichnam an anderen Merkmalen als dem Gesicht erkennen kann. Das sind ihre Gewänder. Am linken Bein findet Ihr eine Narbe, die von einem Sturz herrührt. Außerdem war sie für das erste cadar des Tages für die Beaufsichtigung der Wasseruhr eingeteilt. An all diesen Dingen erkenne ich, daß es sich um Siomha handelt.«

Fidelma preßte die Lippen zusammen und bückte sich. Sie hob den Saum des Rockes an und sah die Narbe, wo einst im weißen Fleisch des linken Beines eine tiefe Wunde geklafft haben mußte. Dann drehte Fidelma den Leichnam auf die Seite und musterte ihn von vorne. Aufgrund der Blutmenge und der zerschnittenen Kleidung nahm sie an, daß Siomha zuerst durch einen Stich ins Herz getötet und dann enthauptet worden war. Behutsam ließ sie die Tote wieder in ihre ursprüngliche Lage gleiten. Sie warf einen Blick auf die Hände der Leiche und war nicht überrascht, als sie den bräunlich-roten Lehm an den Fingern und unter den Nägeln entdeckte. Dann band sie den Stab aus Espenholz los und las die Inschrift in Ogham.

»Die Morrigan ist erwacht!«

Mit dem Stab in der Hand richtete sie sich auf und sah Draigen stirnrunzelnd an.

Die Äbtissin hatte sich noch nicht ganz vom Schrecken erholt. Ihre Augen waren gerötet, das Gesicht bleich, der Mund verzerrt. Beinahe tat sie Fidelma leid.

»Wir müssen miteinander reden«, sagte sie sanft. »Bleiben wir hier oder möchtet Ihr lieber anderswo hingehen?«

»Wir müssen die anderen wecken«, entgegnete Draigen.

»Zuerst die Fragen.«

»Dann wäre es besser, wenn Ihr Eure Befragung gleich hier durchführt.«

»Wie Ihr wünscht.«

»Eines möchte ich Euch gleich sagen«, fuhr Draigen fort, bevor Fidelma ihre erste Frage formulieren konnte. »Ich habe die Zauberin, die diese Tat begangen hat, bereits erwischt.«

Fidelma überspielte ihr ungläubiges Staunen.

»Tatsächlich?«

»Es war Schwester Berrach. Ich habe sie auf frischer Tat ertappt.«

Fidelma konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. Äbtissin Draigens Ankündigung verschlug ihr die Sprache.

»Ich denke«, sagte Fidelma nach einer übermäßig langen Pause, »ich denke, Ihr solltet mir zuerst alles der Reihe nach erzählen.«

Äbtissin Draigen ließ sich unvermittelt auf den Stuhl sinken. Sie wandte den Blick von der Toten ab und heftete ihn auf einen Punkt weit draußen, wo vor dem Fenster das Mondlicht auf dem Wasser glänzte und die dunklen Umrisse des gallischen Handelsschiffes beschien, das in der Meerenge vor Anker lag.

»Ich habe Euch erzählt, daß Schwester Siomha die Wache über die Klepsydra übernommen hatte, und zwar für das erste cadar, das erste Viertel des Tages, das heißt, von Mitternacht bis zum morgendlichen Ängelus.«

Fidelma stellte keine Frage. Schwester Bronach hatte ihr die Funktionsweise der Wasseruhr bereits erklärt.

»Ich fand keine Ruhe und spürte eine eigenartige Beklemmung. Was, wenn Eure Vermutung stimmte und unseren zwei Schwestern auf dem Heimweg von Ard Fhearta etwas Schreckliches zugestoßen war? Ich konnte nicht einschlafen. Und weil ich nicht schlafen konnte, fiel mir auf, daß seit dem letzten Gongschlag, der nach Ablauf jedes Zeitabschnittes ertönen sollte, eine überaus lange Zeitspanne verstrichen war.«

Die Äbtissin hielt kurz inne, dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort.

»Mir wurde bewußt, daß der Gong schon einige Zeit nicht mehr zu hören gewesen war. Das paßte gar nicht zu Schwester Siomha, die in solchen Dingen normalerweise sehr pedantisch ist. Ich stand auf, kleidete mich an und ging zum Turm, um herauszufinden, was da nicht stimmte.«

»Hattet Ihr eine Kerze bei Euch?« unterbrach sie Fidelma.

Die Äbtissin runzelte bei dieser Frage unsicher die Stirn und nickte dann hastig.

»Ja, Ja. Ich hatte in meinen Gemächern eine Kerze angezündet und benutzte sie, um mir auf dem Weg durch den Innenhof zu leuchten. Ich betrat den Turm und stieg durch die Bibliothek hinauf in das Skriptorium. Als ich gerade weiter hinaufsteigen wollte, verspürte ich den Drang, nach Schwester Siomha zu rufen. Es war so still. Ich fühlte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, und deshalb rief ich sie.«

»Erzählt weiter«, drängte Fidelma, als sie zögerte.

»Einen Augenblick später kam ein dunkler Schatten die Treppe heruntergestürmt. Das geschah so plötzlich, daß ich beiseitegestoßen wurde und mir die Kerze aus der Hand flog. Die Fliehende drängte sich an mir vorbei und verschwand.«

»Was dann?«

»Ich stieg die Treppe weiter hinauf bis in diesen Raum.«

»Ohne Kerze?«

»Ich sah, daß die Laternen brannten, genau wie jetzt. Dann erblickte ich Schwester Siomhas Leichnam.«

»Die Leiche ohne Kopf, die auf dem Boden lag?«

Äbtissin Draigen wurde plötzlich wütend.

»Die Person, die auf der Treppe an mir vorbeistürmte, war Schwester Berrach. Daran gibt es keinen Zweifel. Da Ihr Berrach kennt, wißt Ihr auch, daß man sie unmöglich mit jemand anderem verwechseln kann.«

Fidelma hätte durchaus einräumen können, daß Draigen in diesem Punkt recht hatte, aber sie wollte sichergehen.

»Das ist es Ja gerade, was mich verwirrt. Ihr sagtet, Schwester Berrach >kam die Treppe heruntergestürmt< - das waren Eure Worte -, aber wir beide wissen, daß sie an einer Gehbehinderung leidet. Seid Ihr sicher, daß es Berrach war? Vergeßt nicht, daß Euch die Kerze aus der Hand fiel und daß die betreffende Person sich im Dunkeln an Euch vorbeidrängte.«

»Vielleicht habe ich in der Aufregung eine falsche Formulierung benutzt. Die Fliehende bewegte sich zwar recht behende, aber trotzdem würde ich ihre unförmige Gestalt überall erkennen.«

Fidelma stimmte insgeheim mit ihr überein: man verwechselte Schwester Berrach nicht leicht mit jemand anderem.

»Und nachdem sie an Euch vorbeigerannt war ...?«

»Bin ich unverzüglich zu Euch gekommen, damit Ihr Euch diesen Wahnsinn anseht.«

Fidelma blickte finster drein. »Machen wir uns auf die Suche nach Schwester Berrach.«

Äbtissin Draigen hatte, nachdem sie ihre Geschichte losgeworden war, die Kontrolle über sich wiedererlangt. Sie ließ ein zynisches Grunzen hören.

»Die ist inzwischen bestimmt aus der Abtei geflohen.«

»Selbst in diesem Falle wird sie, sofern ihr nicht ein Pferd zur Verfügung steht und sie reiten kann, noch nicht sehr weit gekommen sein. Trotzdem ...«

Beim Geräusch leiser Schritte auf der Treppe unter ihnen verstummte Fidelma.

Die Äbtissin trat vor, als wolle sie etwas sagen, doch Fidelma legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete ihr, zurückzutreten. Jemand kam die Stufen herauf, direkt zum Raum mit der Klepsydra.

Fidelma merkte, wie sich ihr Körper verkrampfte, und ärgerte sich darüber. Wenn sie überhaupt etwas trainiert hatte, dann, nicht auf Reize von außen zu reagieren, so daß sie jederzeit auf alles vorbereitet war. Vorsichtig entspannte sie ihre Muskeln und stellte sich neben die Äbtissin, so daß der Neuankömmling, wer auch immer das sein mochte, ihnen den Rücken zuwandte. Eine Schwester im Habit der Gemeinschaft kam die Treppe herauf. Fidelma sah sofort, daß es sich nicht um eine der jungen Schwestern handelte. Sie hatte sie erkannt, noch bevor sie sich umdrehte.

»Schwester Bronach! Was habt Ihr um diese Zeit hier zu suchen?«

Bronach zuckte vor Schreck und Überraschung heftig zusammen. Nachdem sie zuerst Fidelma und dann die Äbtissin erkannte, entspannte sie sich.

»Nun, ich komme gerade aus der Kammer von Schwester Berrach. Sie ist vollkommen durcheinander. Sie erzählte mir, daß hier ein Mord begangen wurde.«

»Ihr habt sie gesehen?« wollte Draigen wissen. »Sie hat Euch geweckt?«

»Nein. Ich war bereits wach. Ich wollte gerade zum Turm gehen«, erklärte Bronach. »Mir war aufgefallen, daß seit dem letzten Gongschlag schon einige Zeit vergangen war. Tatsächlich mußten schon mehrere Zeitabschnitte verstrichen sein, seit ich zuletzt einen vernommen hatte. Also bin ich aufgestanden, um herzukommen und nachzusehen, was mit der Zeitnehmerin los ist. Als ich meine Kammer gerade verlassen wollte, hörte ich, wie jemand den Korridor entlangeilte. Ich erkannte Schwester Berrach, ging zu ihr und fand sie völlig verstört auf ihrem Bett sitzend vor. Sie erzählte mir, daß Schwester Siomha tot sei, und ich kam sofort hierher, um nachzusehen, ob vielleicht ihre Phantasie .«

Plötzlich fiel ihr Blick auf den hingestreckten Körper auf dem Fußboden hinter Fidelma. Sie schlug die Hand vor den Mund, und ihre Augen weiteten sich angsterfüllt.

»Es ist Schwester Siomha«, bestätigte die Äbtissin ernst.

Fidelma, die Bronachs Mienenspiel beobachtete, glaubte, einen Ausdruck der Erleichterung über ihr Gesicht huschen zu sehen - doch er war verschwunden, bevor sie sich dessen sicher sein konnte. Das Licht der Laternen tat ein Übriges, um die Gesichtszüge zu verzerren.

»Schwester Bronach, bitte seht nach, was Ihr tun könnt, um die Klepsydra wieder richtig einzustellen«, sagte Äbtissin Draigen, die sich nun wieder vollkommen in der Gewalt hatte. »Seit Generationen sind wir in dieser Abtei stolz auf die Genauigkeit unserer Wasseruhr. Tut, was Ihr könnt, damit wir die Zeit wieder richtig berechnen können.«

Schwester Bronach wirkte verwirrt, beugte jedoch fügsam den Kopf.

»Ich werde mein Bestes tun, Mutter Oberin, aber .« Sie warf einen furchtsamen Blick auf die Tote.

»Ich gehe ein paar Schwestern wecken, damit sie unsere unglückliche Gefährtin in den subterraneas bringen. Ihr werdet nicht lange allein sein.«

Als sie sich schon zum Gehen gewandt hatte, fiel Fidelma plötzlich etwas ein. Sie drehte sich noch einmal zu Bronach um.

»Habt Ihr mir nicht erzählt, daß die Zeitnehmerin jedes Mal, wenn ein Zeitabschnitt verstrichen und der Gong ertönt ist, die Zeit auf einer Lehmtafel einzutragen hat?«

Schwester Bronach nickte.

»Das ist so üblich, für den Fall, daß wir den Überblick über die Zeitabschnitte verlieren.«

»Um welche Zeit hat Schwester Siomha ihre letzte Eintragung gemacht?«

Fidelma erkannte, daß sie auf diese Weise den genauen Zeitpunkt des Mordes an Schwester Siomha feststellen konnte.

Schwester Bronach blickte sich nach der mit Lehm bestrichenen Schreibtafel um. Sie lag verkehrt herum neben der steinernen Feuerstelle.

»Nun?« drängte Fidelma, während Bronach die Tafel aufhob und in Augenschein nahm.

»Die zweite Stunde des Tages ist vermerkt und die erste pongc, das heißt, die erste Viertelstunde danach.«

»So? Dann wurde sie zwischen zwei Uhr fünfzehn und zwei Uhr dreißig heute morgen ermordet«, grübelte Fidelma.

»Ist das denn wichtig?« fragte Äbtissin Draigen ungeduldig. »Wir wissen doch bereits, wer diese schreckliche Tat begangen hat.«

»Was glaubt Ihr, wie spät es jetzt ist?« fragte Fidelma sie unversehens.

»Ich habe keine Ahnung.«

»Ich schon«, schaltete sich Schwester Bronach ein. Sie trat ans Fenster und blickte in den allmählich heller werdenden Nachthimmel. Auf ihrem Gesicht lag ein selbstzufriedener Ausdruck. »Die vierte Stunde des Tages ist längst vorbei. Ich glaube, wir nähern uns der fünften Stunde.«

»Danke, Schwester«, bestätigte Fidelma geistesabwesend. Ihre Gedanken rasten. Fragend wandte sie sich an die Äbtissin: »Könnt Ihr abschätzen, wie lange es ungefähr her ist, seit Ihr die Tote gefunden habt?«

Äbtissin Draigen zuckte die Achseln.

»Ich sehe nicht, daß das eine Rolle spielt ...«

»Trotzdem, sagt es mir«, verlangte Fidelma.

»Weniger als eine Stunde, würde ich sagen. Ich bin, nachdem ich sie entdeckt hatte, fast augenblicklich zu Euch gekommen.«

»In der Tat, es ist viel weniger als eine Stunde her«, stimmte Fidelma zu. »Ich würde sagen, wir sind kaum eine halbe Stunde hier.«

»Wir sollten lieber Schwester Berrach suchen, anstatt mit diesen Nebensächlichkeiten Zeit zu vergeuden«, beharrte Äbtissin Draigen.

»Könnt Ihr das arme Mädchen nicht erst morgen früh verhören?« Es war Schwester Bronach, die das sagte, sehr zu Draigens Überraschung. »Schwester Berrach steht noch unter dem Schock, die Tote gefunden zu haben.«

Fidelma fragte: »Hat sie denn gesagt, daß sie sie gefunden hat?«

»Nicht ausdrücklich. Sie erzählte nur, daß sie Schwester Siomha im Turm sah - tot. Also liegt es doch auf der Hand, daß sie den Leichnam gefunden hat.«

»Vielleicht«, erwiderte Fidelma. »Ich denke, wir sollten Schwester Berrach trotzdem jetzt gleich aufsuchen. Nur eines noch, Schwester Bronach - da Ihr gerade hier seid«, fügte sie hinzu, so daß Äbtissin Draigen ein ungeduldiges Stöhnen entfuhr. »Sagt Euch der Name Morrigan irgendwas?«

Schwester Bronach erschauerte.

»Kennt denn nicht jeder den Namen des Bösen, Schwester? In alter Zeit, bevor das Wort Christi in dieses Land gebracht wurde, galt sie hier als Göttin des Todes und als Kriegsgöttin. Sie war die Gottheit, die alles Widernatürliche und Schreckliche verkörperte.«

»Ihr kennt also die alten heidnischen Traditionen?« bemerkte Fidelma.

Schwester Bronach spitzte die Lippen.

»Wer weiß denn nicht über die alten Götter und Göttinnen und die alten Traditionen Bescheid? Ich bin hier in den Wäldern aufgewachsen, wo viele noch immer dem früheren Glauben anhängen.«

Fidelma nickte, wandte sich, zu Äbtissin Draigens offensichtlicher Erleichterung, um, nahm ihre Kerze wieder in die Hand und ging der Äbtissin voraus die Treppe hinunter. Sie hatten das Erdgeschoß des Turmes gerade erreicht, als ein dumpfes Klopfen Fidelma innehalten ließ. Es war das gleiche Geräusch, das sie in der duirtbech gehört hatte. Das heftige Poltern von Holz auf Holz hallte aus der Tiefe durch den Turm.

Fidelma wandte sich der dunklen Ecke zu, aus der das Geräusch am lautesten zu hören war, und ging vorsichtig, die Kerze vor sich hertragend, darauf zu.

»Das ist nur die Treppe, die in die darunterliegende Höhle führt«, erklang Draigens Stimme hinter ihr.

»Hat denn nie jemand nachgeforscht, woher dieses Poltern kommt?« fragte Fidelma, als sie die oberste Treppenstufe erreichte.

»Nein, warum sollten wir?« schnaubte Draigen nervös. »Jedenfalls kommt es nicht aus unserem sub-terraneas. «

Fidelma spähte hinunter in die Finsternis.

»Es scheint aber doch von dort zu kommen. Ihr sagtet, daß es wahrscheinlich dadurch entsteht, daß Wasser in eine Höhle unter der Abtei einströmt.«

»Das glaube ich zumindest«, erwiderte Draigen, klang jedoch keineswegs restlos überzeugt. »Wohin geht Ihr?« fragte sie, als Fidelma die steinernen Stufen in die Höhle hinunterzusteigen begann.

»Ich will nur nachsehen ...«. Fidelma beendete ihren Satz nicht, sondern folgte der schmalen Treppe nach unten.

Die darunterliegende Höhle war leer und inzwischen wieder ruhig. Enttäuscht blickte Fidelma sich um. Es gab keinen Platz, wo sich jemand verstecken konnte, nur ein paar Kisten in einer Ecke. Fidelma unterdrückte einen Seufzer und begann, sich in der Finsternis mit einer Hand an der kalten Mauer entlangtastend, wieder die Treppe hinaufzusteigen.

Die Masse, in die sie plötzlich hineingriff, war feucht und klebrig, und sie wußte bereits, was es war, noch bevor sie ihre Finger im Licht der Kerze betrachten konnte. Dann untersuchte sie die Mauer. Sie entdeckte einen Blutfleck. Er war noch frisch.

»Was ist los, Schwester?« kam Draigens Stimme fragend von oben.

Fidelma wollte es ihr gerade erklären, überlegte es sich jedoch anders.

»Nichts, Mutter Oberin. Es ist nichts.«

Draußen im Hof begegneten sie einer höchst beunruhigten Schwester Lerben.

»Irgend etwas ist passiert, Mutter Oberin«, begrüßte sie sie atemlos. »Die einfältige Schwester Berrach sitzt schluchzend in ihrer Zelle. Ich habe Licht im Turm gesehen, jedoch schon lange keinen Gongschlag mehr gehört. Irgend etwas stimmt nicht mit der Aufsicht über die Wasseruhr.«

Äbtissin Draigen legte der jungen Frau eine Hand auf die Schulter.

»Wappnet Euch, Kind. Schwester Siomha ist ermordet worden. Berrach hat es getan .«

»Das wißt Ihr nicht mit völliger Sicherheit«, unterbrach Fidelma. »Laßt uns gehen und das Mädchen befragen, bevor wir ihr die Schuld zuweisen.«

Doch Schwester Lerben war bereits mit der Neuigkeit davongeeilt und weckte die schlafende Gemeinschaft mit lauten Rufen. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Alle wachten auf und erfuhren, was geschehen war. Äbtissin Draigen befahl einer vorbeikommenden Novizin, in die Schlafhäuser zu gehen und den Aufruhr zu besänftigen, doch bevor sie noch reagieren konnte, wimmelte der Hof schon von verängstigten Schwestern. Erregte und wütende Stimmen redeten wirr durcheinander. Kerzen und Lampen wurden angezündet, und die Schwestern, die sich eilig angekleidet oder Umhänge um ihre Schultern geworfen hatten, versammelten sich in kleinen Grüppchen und unterhielten sich in furchtsamem oder aufgebrachtem Tonfall.

Schwester Berrach schien sich in ihrer Zelle verbarrikadiert zu haben. Lerben kehrte zurück und meldete, Berrachs klagendes Heulen sei noch immer zu hören, eine sonderbare Mischung aus Gebeten und volkstümlichen Verwünschungen.

»Was sollen wir tun, Mutter Oberin?«

»Ich werde zu ihr gehen und mit ihr reden«, schaltete sich Fidelma entschlossen ein.

»Das ist keine gute Idee«, riet ihr die Äbtissin ab.

»Warum nicht?«

»Ihr wißt, wie stark Berrach ist, trotz ihrer Behinderung. Sie könnte Euch angreifen.«

Fidelma lächelte müde.

»Ich glaube nicht, daß ich vor Schwester Berrach Angst haben muß. Wo ist ihre Zelle?«

Schwester Lerben warf einen Blick zur Äbtissin hinüber und deutete dann auf eines der Schlafhäuser.

»Sie bewohnt die letzte Kammer in diesem Gebäude, Schwester. Aber solltet Ihr Euch nicht lieber bewaffnen?«

Fidelma schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Wartet hier und kommt nicht herein, bis ich Euch rufe.«

Sie hob eine Hand, um ihre Kerze gegen die auffrischende Morgenbrise zu schützen, und ging hinüber zu dem Gebäude, das Schwester Lerben ihr gezeigt hatte. Es war ein langgestrecktes Holzhaus, das aus einem Korridor mit zwölf nebeneinanderliegenden, zellenähnlichen Kammern bestand. Anscheinend waren sämtliche Schlafhäuser der Gemeinschaft so gebaut.

Sie trat ein und blickte sich in dem dunklen Flur prüfend um.

Vom anderen Ende konnte sie Berrachs Schluchzen hören.

»Schwester Berrach!« rief Fidelma und bemühte sich, ihrer Stimme die Angst, die sie in Wirklichkeit verspürte, nicht anmerken zu lassen. »Schwester Ber-rach! Ich bin es, Fidelma.«

Es entstand eine Pause, das Weinen schien aufzuhören, nur noch vereinzeltes Schluchzen folgte.

»Berrach, ich bin Schwester Fidelma. Erinnert Ihr Euch?«

Nach einer erneuten Pause war Schwester Berrachs abwehrende Stimme zu hören.

»Selbstverständlich. Ich bin doch keine Idiotin.«

»Das habe ich auch nie gedacht«, erwiderte Fidelma in versöhnlichem Tonfall. »Können wir sprechen?«

»Seid Ihr allein?«

»Ganz allein, Berrach.«

»Dann tretet vor, bis ich Euch sehen kann.«

Langsam, mit hoch erhobener Kerze, schritt Fidelma den Korridor entlang. Sie hörte das Scharren von Möbelstücken und vermutete, daß Berrach eine Barrikade vor ihrer Tür beiseite räumte. Als sie sich dem Ende des Korridors näherte, öffnete sich die Tür einen Spaltbreit.

»Halt!« befahl Berrach.

Fidelma gehorchte sofort.

Die Tür öffnete sich weiter, und Berrachs Kopf erschien, um nachzusehen, ob sonst niemand bei ihr war. Dann wurde die Tür ganz aufgestoßen.

»Kommt herein, Schwester.«

Fidelma betrachtete die junge Nonne. Ihre Augen waren gerötet, ihre Wangen tränenverschmiert. Fidelma betrat die Zelle und blieb stehen, während Ber-rach hinter ihr die Tür zuschlug und einen Tisch davorschob, um sie zu sichern.

»Warum verbarrikadiert Ihr Euch?« fragte Fidelma. »Vor wem habt Ihr Angst?«

Berrach wankte zu ihrem Bett, setzte sich darauf und umklammerte ihren dicken Schwarzdornstock.

»Wißt Ihr nicht, daß Schwester Siomha ermordet wurde?«

»Warum solltet Ihr deshalb die Tür Eurer Kammer verbarrikadieren?«

»Weil man mich des Verbrechens beschuldigen wird, und weil ich nicht weiß, was ich machen soll.«

Fidelma blickte sich um, entdeckte einen Hocker und nahm Platz. Die Kerze stellte sie auf den Tisch daneben.

»Warum sollte man gerade Euch der Tat bezichtigen?«

Schwester Berrach musterte sie verächtlich.

»Weil Äbtissin Draigen mich im Turm gesehen hat, als die Tote gefunden wurde. Und weil die meisten hier mich aufgrund meiner Behinderung ablehnen. Sie werden mich ganz bestimmt beschuldigen, Schwester Siomha ermordet zu haben.«

Fidelma lehnte sich zurück, faltete die Hände im Schoß und betrachtete Berrach lange und nachdenklich.

»Ihr scheint von Euerm Stottern befreit zu sein«, stellte sie vorsichtig fest.

Das Gesicht des Mädchens verzog sich zu einem zynischen Grinsen.

»Euch bleibt wohl nichts lange verborgen, Schwester Fidelma. Ganz im Gegensatz zu den anderen. Die sehen nur, was sie sehen wollen. Etwas anderes existiert für sie nicht.«

»Ich vermute, Ihr habt gestottert, weil es von Euch erwartet wurde?«

Schwester Berrachs Augen weiteten sich ein wenig.

»Ziemlich klug von Euch, Schwester.« Sie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr. »In einem mißgebildeten Körper steckt notwendigerweise auch ein mißgebildeter Geist. So lautet die Philosophie der Unwissenden. Ich stottere für sie, denn sie halten mich für einfältig. Würde ich mich verhalten wie ein intelligentes Wesen, könnten sie auf die Idee kommen, ich sei von einem bösen Geist besessen.«

»Aber mir gegenüber seid Ihr ehrlich. Warum könnt Ihr das nicht auch gegenüber anderen sein?«

Wieder verzog Schwester Berrach den Mund.

»Ich bin Euch gegenüber ehrlich, weil Ihr hinter den Vorhang aus Vorurteilen schaut, wo andere nicht hingucken.«

»Ihr schmeichelt mir.«

»Schmeichelei ist nicht meine Art.«

»Erzählt mir, was passiert ist.«

»Heute nacht?«

»Ja. Äbtissin Draigen sah Euch aus dem Raum kommen, in dem die Wasseruhr steht. Schwester Siomha wurde, wie Ihr wißt, enthauptet in jenem Raum gefunden. Ihr hattet es eilig und habt die Äbtissin beiseitegestoßen, so daß ihre Kerze herunterfiel und erlosch.« Fidelma betrachtete Schwester Berrachs Kleidung. »Vorne auf Eurem Habit ist ein dunkler Fleck, Schwester. Ich nehme an, es handelt sich um Siomhas Blut?«

Die wachsamen blauen Augen blickten Fidelma ernst an.

»Ich habe Schwester Siomha nicht ermordet.«

»Ich glaube Euch. Wollt Ihr mir vertrauen und mir genau erzählen, was passiert ist?«

Schwester Berrach breitete in einer fast rührenden Geste die Arme aus.

»In der Abtei hier hält man mich für einfältig, nur weil ich körperlich behindert bin. Ich wurde schon so geboren. Probleme mit der Wirbelsäule, haben die Heilkundigen meiner Mutter erklärt. Aber mein Körper und meine Arme sind stark. Nur meine Beine sind nicht richtig gewachsen.«

Schwester Berrach hielt inne, doch Fidelma erwiderte nichts und wartete, bis das Mädchen weitersprach.

»Zuerst sagte der Heilkundige, so könnte ich nicht leben, und dann sagte er, so sollte ich nicht leben. Meine Mutter konnte mich in ihrer Gemeinschaft nicht aufziehen. Mein Vater wollte nichts mit mir zu tun haben. Nach meiner Geburt hat er meine Mutter verlassen. Also wuchs ich bei meiner Großmutter auf, doch sie wurde getötet, als ich noch klein war. Ich überlebte und wurde im Alter von drei Jahren in diese Abtei gebracht, und hier kümmerte sich Bronach um mich. Ich blieb am Leben, und ich lebe immer noch. Die Gemeinschaft war mein Zuhause, so lange ich zurückdenken kann.«

In ihrer Stimme lag ein leises Schluchzen. Jetzt verstand Fidelma, warum Schwester Bronach sich immer schützend vor das Mädchen stellte.

»Nun erzählt mir, was im Turm geschehen ist«, drängte sie freundlich.

»Jede Nacht, vorm Morgengrauen, wenn die meisten hier noch schlafen, stehe ich auf und gehe in die Bibliothek«, gestand Berrach. »Dann widme ich mich dem Lesen. Ich kenne schon fast alle bedeutenden Bücher aus unserem Bestand.«

Fidelma war verwundert.

»Warum wartet Ihr bis zum Morgengrauen, um zum Lesen in die Bibliothek zu gehen?«

Berrach lachte. Es klang jedoch alles andere als fröhlich.

»Sie halten mich für einfältig und glauben, daß ich nicht denken kann, geschweige denn lesen. Ich habe mir selbst beigebracht, meine Muttersprache zu lesen, aber ich verstehe auch Latein, Griechisch und sogar etwas Hebräisch.«

Fidelma musterte sie nachdenklich, doch das Mädchen schien keineswegs angeben zu wollen, sondern einfach Tatsachen festzustellen. Ein abwegiger Gedanke schoß Fidelma durch den Kopf.

»Wußtet Ihr, daß die Abtei eine Kopie der Chroniken von Clonmacnoise besitzt?«

Schwester Berrach nickte sofort.

»Es ist eine Kopie, die unsere Bibliothekarin angefertigt hat«, ergänzte sie bereitwillig.

»Habt Ihr sie gelesen?«

»Nein. Aber viele andere Bücher.«

»Erzählt weiter«, seufzte Fidelma enttäuscht. »Ihr sagtet, daß Ihr vorm Morgengrauen aufsteht und in die Bibliothek geht. Fürchtet Ihr Euch nicht, ganz allein an so einem Ort?«

»Eine Schwester tut stets Dienst im Turmzimmer darüber. In letzter Zeit«, sie zitterte, »war es Schwester Siomha, die die meisten Nachtwachen übernahm. Vor den jüngsten Ereignissen bestand keinerlei Gefahr für Leib und Leben, nichts, wovor man sich dort zu fürchten brauchte.«

Fidelma verzog das Gesicht.

»Es ging mir nicht um Gefahren für Leib und Leben. Was ist mit dem Klopfen unter der duirthech, das die Schwestern am Vortag erschreckte? Mir wurde berichtet, daß es schon früher zu hören war.«

Schwester Berrach überlegte einen Augenblick.

»Ja, aber nicht oft. Äbtissin Draigen sagt, die Geräusche kommen aus einer unterirdischen Höhle, in die Meerwasser einströmt, aber manchmal macht es den Schwestern Angst. Ich fürchte mich nicht, und wer ein guter Christ ist, braucht davor keine Angst zu haben.«

»Sehr lobenswert, Schwester. Haltet Ihr die Erklärung der Äbtissin für richtig, daß das Geräusch entsteht, wenn Wasser aus der Meerenge in eine unterirdische Höhle strömt?«

»Das ist durchaus eine Möglichkeit. Jedenfalls weitaus wahrscheinlicher als die Geschichten über die ruhelosen Geister all derer, die früher angeblich bei heidnischen Opferritualen an diesem Ort getötet wurden.«

»Aber Ihr seid Euch nicht sicher, daß es sich nur um Wasser in einer unterirdischen Höhle handelt?«

»Manchmal, wie vorgestern in der duirthech, scheint die Erklärung der Äbtissin durchaus überzeugend. Andere Male, besonders, wenn ich mich nachts in der Bibliothek aufhalte, klingt das Geräusch zwar schwächer, aber eher wie ein Schlagen, als würde jemand Steine behauen oder ein Loch ausheben. Doch was immer es auch sein mag, das Geräusch ist irdischen Ursprungs -wovor sollte ich mich also fürchten?«

»Recht so. Und heute morgen gingt Ihr wie gewöhnlich in die Bibliothek?«

»Ja, in den Stunden vor Tagesanbruch. Ich verhielt mich so leise wie möglich, denn ich wollte die Aufseherin der Wasseruhr nicht auf mich aufmerksam machen. Schon gar nicht Schwester Siomha, die mich stärker ablehnt als die meisten anderen.«

»Wann habt Ihr die Bibliothek heute morgen betreten? Könnt Ihr die Zeit möglichst genau angeben?«

»Soweit ich mich erinnere, hörte ich den Gong zur zweiten Stunde schlagen, und vielleicht noch zur ersten Viertelstunde danach, ich bin mir nicht ganz sicher. Die dritte Stunde war noch nicht vorbei, das weiß ich ganz genau, denn ich erinnere mich nicht, daß sie geschlagen wurde.«

»Erzählt weiter.«

»Ich betrat die Bibliothek und fand das Buch, das ich suchte ...«

»Welches?«

»Wollt Ihr den Titel des Buches wissen?« fragte Schwester Berrach stirnrunzelnd.

»Ja.«

»Der Reisebericht des Aethicus von Istrien. Ich trug das Buch zu einem kleinen Tisch in einer Ecke. Ich setze mich meistens dorthin: falls jemand unerwartet eintritt, bleibt mir noch Zeit, mich zu verstecken. Ich las gerade die Passage über Aethicus’ Aufenthalt in Irland, wo er sich eingehend mit unseren Bibliotheken beschäftigte, als mir auffiel, daß die Zeit verging, ohne daß der Gong ertönte, den die Aufseherin der Klepsy-dra schon längst hätte schlagen müssen. Ich trat zum Fuß der Treppe und horchte. Alles war ruhig. Zu ruhig.«

Berrach hielt inne und rieb sich einen Augenblick abwesend die Wange.

»Ich spürte, daß etwas nicht stimmte. Kennt Ihr das, wenn man plötzlich so ein Gefühl bekommt? Ich beschloß, hinaufzugehen, um nachzusehen ...«

»Obwohl Ihr nicht wolltet, daß jemand von Eurer Anwesenheit erfuhr, am allerwenigsten Schwester Siomha?«

»Falls etwas nicht stimmte, hielt ich es für besser, nicht darüber hinwegzusehen.«

»Und was habt Ihr mit dem Buch gemacht?«

»Ich ließ es auf dem Tisch zurück, wo ich es gelesen hatte.«

»Also muß es noch dort liegen? Sehr gut. Erzählt weiter.«

»Ich stieg so vorsichtig wie möglich die Treppe hinauf in den Raum, in dem sich die Klepsydra befindet. Ich dachte, ich sähe Schwester Siomha auf dem Boden liegen.«

»Ihr dachtet?« betonte Fidelma.

»Die Tote hatte keinen Kopf. Aber das erkannte ich nicht sofort. Ich sah nur eine Gestalt im klösterlichen Habit und kniete daneben nieder, um ihr den Puls zu fühlen. Ich nahm an, sie sei bewußtlos vielleicht ohnmächtig geworden, weil sie zuwenig gegessen hatte oder aus einem anderen Grund. Meine Hände berührten ihren Hals, kalt, nicht richtig eiskalt, aber feucht und klamm. Dann spürte ich etwas Klebriges. Ich tastete nach ihrem Kopf .«

Schwester Berrachs Stimme stockte, und sie schauderte bei der Erinnerung.

»Heilige Mutter Gottes, schütze mich! In diesem Augenblick wurde mir klar, daß Schwester Siomha auf die gleiche Weise getötet worden war wie der Leichnam im Brunnen. Ich glaube, ich habe vor Entsetzen laut aufgeschrien.«

»Und dann seid Ihr die Treppe hinuntergerannt?« half Fidelma etwas nach.

»Nicht sofort. Als ich aufschrie, hörte ich hinter mir ein Geräusch. Ich drehte mich um, mein Herz raste. Ich sah einen Schatten, Kopf und Schultern vermummt, der schnell durch die Klapptür im Boden und die Treppe hinunter verschwand.«

Fidelma beugte sich rasch vor.

»Waren Kopf und Schultern die eines Mannes oder einer Frau?«

Berrach schüttelte den Kopf.

»Es tut mir leid, das weiß ich nicht. Es war so finster, und alles ging so schnell. Ich war vor Angst wie gelähmt und nicht in der Verfassung, weitere Nachzu-forschungen anzustellen. Daß ich mit dem Ungeheuer, das die Tat begangen hatte, allein gewesen war, weckte in mir die Furcht vor der ewigen Verdammnis. Ich weiß nicht, wie lange ich dort in dem dunklen Raum neben der Toten kniete. Zweifellos eine ganze Weile.«

»Ihr habt einfach dort im Dunkeln gekniet? Ihr habt Euch nicht bewegt oder geschrien?«

»Angst übt eine seltsame Gewalt über den Körper aus, Schwester. Angst bringt den Lahmen zum Laufen, der Gesunde dagegen wird lahm wie ein Krüppel.«

Fidelma nahm das mit einer ungeduldigen Geste zur Kenntnis.

»Was dann, Berrach?«

»Schließlich erhob ich mich und spürte, wie mir das Blut eiskalt durch die Adern schoß. Wie gesagt, ich weiß nicht, wie lange das dauerte. Ich wollte den Gong schlagen, um die anderen zu alarmieren, und zündete gerade die Laternen an, da hörte ich wieder ein Geräusch.«

»Was für ein Geräusch?«

»Ich hörte das Schlagen einer Tür. Ich hörte Schritte, die die Treppe heraufkamen. Ich hörte, wie sie sich näherten. Mein erster Gedanke, Schwester, war, daß der Mörder zurückkehrte - zurückkehrte, um sicherzustellen, daß ich nicht mehr reden würde.«

Sie hielt inne und schien einen Augenblick nach Luft zu ringen, doch dann fing sie sich wieder.

»Diesmal ließ mich die Angst nicht, wie beim ersten Mal, wie angewurzelt stehenbleiben, sondern verlieh mir ungeahnte Kräfte. Ich drehte mich um und arbeitete mich, so schnell ich konnte, mit Händen und Füßen die Treppe hinunter. Ich erinnere mich, daß ich eine Gestalt heraufkommen sah und dachte, der Vermummte kehrt zurück. Das ist die Wahrheit! Ich nahm alle Kraft zusammen, um die Gestalt brutal niederzustoßen, damit ich Zeit gewann, um zu entkommen .«

»Erinnert Ihr Euch, ob die Gestalt ein Licht in der Hand hatte?«

Berrach runzelte die Stirn.

»Ein Licht?«

»Eine Lampe oder eine Kerze?«

Das Mädchen dachte eine Weile nach.

»Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht eine Kerze. Ist das wichtig? Ich hörte sie aufschreien. Erst als ich den Innenhof schon überquert hatte, wurde mir bewußt, daß es die Äbtissin gewesen war.«

»Warum seid Ihr dann nicht zurückgekehrt?«

»Ich war ganz durcheinander. Immerhin hatte ich die vermummte Gestalt in dem Raum mit der Wasseruhr gesehen. Vielleicht war die Äbtissin sogar die Mörderin. Woher sollte ich das wissen?«

Fidelma antwortete nicht.

»Ich lief hierher, so schnell ich konnte. Ich hatte gerade meine Zelle erreicht, als Bronach hereinkam und mich fragte, warum ich so aufgeregt sei. Ich erzählte es ihr, und sie wollte hingehen und nachsehen, was passiert war. Ich hatte Angst, der Mörder könnte mir gefolgt sein.«

»Aber das hatte der Mörder nicht getan. Ihr wart doch bestimmt um Bronachs Sicherheit besorgt, als sie allein zum Turm hinüberging?«

»Ich war ganz durcheinander«, wiederholte Berrach.

»Warum habt Ihr Euch verbarrikadiert?«

»Ich hörte den Lärm, als die Schwestern geweckt wurden. Erst war Licht im Turm und dann in den Schlafräumen. Ich wollte gerade hinausgehen, doch eine der Schwestern, es war Lerben, rief: >Schwester Siomha ist von Berrach ermordet worden!< Da wußte ich, daß ich verloren war. Welche Chance hat denn jemand wie ich, Gerechtigkeit zu finden? Ich soll für etwas bestraft werden, was ich nicht getan habe.«

Fidelma betrachtete sie nachdenklich.

»Noch eine Frage, Berrach. Ist Euch irgend etwas Besonderes an Schwester Siomhas Körper aufgefallen? Abgesehen von der Enthauptung, meine ich?«

Berrach riß sich einen Augenblick von ihren angstvollen Gedanken los und starrte Fidelma fragend an.

»Etwas Besonderes?«

»Vielleicht eine Ähnlichkeit in der Art und Weise, wie die namenlose Tote im Brunnen zurückgelassen wurde«, legte ihr Fidelma nahe.

Schwester Berrach dachte einen Augenblick gründlich nach.

»Ich glaube nicht.«

»Ich meine, habt Ihr bemerkt, daß etwas an ihren linken Arm gebunden war?«

Die Bestürzung des Mädchens wirkte echt, als es den Kopf schüttelte.

»Kennt Ihr die uralten, heidnischen Bräuche?«

»Wer kennt sie nicht?« erwiderte Berrach. »Ihr solltet wissen, daß die Menschen in diesen abgelegenen Gegenden, fernab der großen Kathedralen und Städte, nach wie vor sehr naturverbunden leben und den ausgetretenen Pfaden weiterhin folgen. Bringt hier einem Christen einen Kratzer bei, und Ihr werdet sehen, daß das Blut in seinen Adern heidnisch ist.«

Fidelma wollte gerade etwas darauf erwidern, als sie von draußen Stimmen hörte, die immer lauter wurden, bis sie als Sprechgesang zu ihnen in die Kammer drangen. Erstaunt hörte sie, daß die Stimmen einen Namen riefen: »Berrach! Berrach! Berrach!«

Die Schwester stieß ein mitleiderregendes Stöhnen hervor.

»Seht Ihr?« wimmerte sie. »Seht Ihr? Sind sie gekommen, um mich zu bestrafen?«

»Schwester Fidelma!«

Fidelma erkannte die Stimme von Schwester Ler-ben, die den Lärm übertönte. Allmählich verstummte der Sprechchor.

Fidelma erhob sich und ging zur Tür. Sie warf Schwester Berrach einen Blick zu und versuchte, ermutigend zu lächeln.

»Habt Vertrauen zu mir«, beruhigte sie das Mädchen. Dann schob sie den Tisch beiseite und öffnete die Tür.

Schwester Lerben stand am anderen Ende des Korridors, und einige ihrer Mitnovizinnen drängten sich hinter ihr zusammen, Laternen in den Händen.

»Seid Ihr dort sicher, Schwester?« wollte die Novizin von Fidelma wissen. »Wir haben uns Sorgen gemacht, als wir nichts mehr von Euch hörten.«

»Was hat dieses aufrührerische Geschrei zu bedeuten? Die Schwestern sollen sich zerstreuen und in ihre Zellen zurückkehren.«

»Wir, die Mitglieder dieser Gemeinschaft, sind gekommen, um die Mörderin zu holen. Die Ermordung Schwester Siomhas darf nicht ungestraft bleiben. Bringt Berrach heraus. Ihre Schwestern haben beschlossen, daß der Tod die einzig angemessene Strafe für sie ist.«

Загрузка...