Kapitel 11

Fidelma wollte gerade den Innenhof überqueren, um Schwester Berrach zu folgen, als ein heiseres Husten sie innehalten ließ.

»Mir wurde gesagt, daß Ihr um mein Erscheinen hier heute morgen gebeten habt.«

Sie drehte sich um und starrte in die belustigten blauen Augen von Bruder Febal. Er war von Kopf bis Fuß in einen dicken, wollenen, mit Pelz verbrämten Umhang gehüllt, der auch eine Kapuze hatte, und hielt einen derben cambutta, oder Spazierstock in der Hand.

Fidelma sah ihn einen Augenblick fassungslos an. Seit ihrer Unterredung mit Adnar am gestrigen Nachmittag war so viel geschehen. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

»Das habe ich getan«, bestätigte sie eilig. Sie sah sich um und deutete dann auf den Pfad, der hinunter zur Meerenge und zum Anlegesteg der Gemeinschaft führte. Ihr war klar, daß Äbtissin Draigen oder ihre Gefährtinnen Bruder Febal in der Abtei nicht gerade willkommen heißen würden, wenn sie ihn entdeckten. »Kommt, machen wir einen kleinen Spaziergang, dabei können wir reden.«

Bruder Febal musterte sie neugierig mit seinen großen blauen Augen, dann nickte er und schloß sich ihr an. Die Sonne stand nun etwas höher am Himmel, doch es war immer noch ziemlich kalt.

»Worüber möchtet Ihr denn mit mir reden?« begann er in beinahe neckendem Tonfall.

»Ich möchte Euch einige Fragen stellen, Febal.«.

»Adsum!« antworte er großspurig auf Latein. »Zu Diensten!«

»Habt Ihr schon gehört, daß hier in der Abtei eine zweite Tote gefunden wurde?« fragte Fidelma.

»Neuigkeiten verbreiten sich schnell in diesem Land, Schwester Fidelma. In Dun Boi wurde davon gesprochen.«

»Von wem?«

»Ich glaube, ein Diener hat die Neuigkeit mitgebracht«, antwortete er unbestimmt und wechselte sogleich das Thema. »Adnar und der werte Lord Ol-can haben mich gebeten, Euch eine Nachricht zu überbringen, Schwester. Sie laden Euch heute abend zu einem Festessen nach Dun Boi ein. Mein Gebieter Torcan schließt sich dieser Einladung ausdrücklich an.

Er möchte Euch für den Schrecken entschädigen, den er Euch gestern im Wald eingejagt hat. Adnar hat angeboten, seinen persönlichen Bootsführer zu schicken, um Euch in der Abtei abzuholen und Euch anschließend wieder sicher hierher zurückzubringen.«

Er grinste und griff in die schmale Ledertasche, die an seinem Gürtel befestigt war.

»Und seht mal, was ich hier habe!« Er zog einen kleinen Geldbeutel hervor. »Im Namen Torcans fungiere ich außerdem als Überbringer der Geldbuße, die Ihr ihm auferlegt habt. Soviel ich weiß, soll sie den mildtätigen Werken der Abtei zugute kommen.«

Fidelma nahm den Beutel mit den Münzen und verstaute ihn, in Gedanken versunken, in ihrer emmena, ohne sich die Mühe zu machen, das Geld nachzuzählen.

»Ich werde dafür sorgen, daß das weitergeleitet wird.« Sie dachte über die Einladung nach. Da sie sowieso gern mehr darüber erfahren wollte, wie man in Dün Boi über die Situation in der Abtei dachte, nahm sie den Vorschlag schließlich an. »Ihr könnt Adnar bestellen, daß ich seinen Bootsführer erwarten werde.«

Sie gingen ein Weilchen schweigend weiter, dann fragte Fidelma: »Kanntet Ihr Schwester Siomha?«

»Wer kannte sie nicht?« Die Antwort klang wie eine höfliche, aber nichtssagende Floskel.

»Das müßt Ihr mir näher erklären.«

»Als rechtaire der Abtei bekleidete Schwester Siomha hier das zweithöchste Amt nach der Äbtissin. Sie kam häufig in die Festung meines Gebieters.«

»Zu welchem Zweck?« fragte Fidelma überrascht.

»Ihr müßt wissen, daß Adnar nicht gerade auf freundschaftlichem Fuß mit der Äbtissin steht. Deshalb regelte Schwester Siomha alle Angelegenheiten zwischen der Abtei und ihm.«

»Gab es denn viele Angelegenheiten zu regeln?« hakte Fidelma nach.

»Als Häuptling an dieser Küste kontrolliert Adnar einen Großteil des Handels, und die Abtei benötigt immer wieder Güter und Transporte, über die Adnar informiert werden muß. Deshalb hatte Schwester Siomha häufig dienstlich mit Adnar zu tun.«

»Pflegte Schwester Siomha auch freundschaftlichen Umgang mit Adnar?«

»Sehr freundschaftlichen.«

Fidelma warf Bruder Febal einen raschen Blick zu, doch sein Gesicht war ausdruckslos. Sie war nicht sicher, ob sich seine Tonlage verändert hatte.

»Wie gut kanntet Ihr Schwester Siomha?« fragte sie, einer Eingebung folgend.

»Ich kannte sie, aber nicht sonderlich gut.« Die Antwort kam in entschiedenem Ton.

Sie hatten den Anlegesteg der Abtei erreicht. Fidelma ging voraus, die Stufen hinunter und am Strand entlang auf eine Gruppe von Felsen zu, die, nahe am Ufer, einen guten Platz zum Hinsetzen und gleichzeitig Schutz vor dem Nordwind boten. Die Sonne stand jetzt hoch am wolkenlosen blauen Himmel. Ihre Strahlen waren zwar noch schwach, wärmten jedoch schon ein wenig, wenn man nicht gerade im Schatten saß. Nur das klagende Geschrei herabstürzender Möwen und das leise Plätschern des Wassers gegen den mit Kieseln übersäten Strand unterbrachen die Stille.

Fidelma nahm auf einem bequemen, von der Sonne erwärmten Felsen Platz und wartete, bis Bruder Febal sich ebenfalls gesetzt hatte.

»Als Ihr gestern über Äbtissin Draigen spracht, habt Ihr vergessen zu erwähnen, daß Ihr mit ihr verheiratet wart.«

»Spielt das denn eine Rolle?«

»Ich glaube schon. Angesichts dessen, was Ihr über sie zu berichten hattet, spielt es meiner Meinung nach eine große Rolle. Soweit ich Adnar verstanden habe, wart Ihr es, der die Vermutung aussprach, sie könnte für den Tod der Unbekannten im Brunnen verantwortlich sein. Ob das nun stimmt oder nicht - es zeigt, daß Ihr einander nicht ausstehen könnt.«

Febal errötete und starrte auf seine Sandalen, als verspüre er urplötzlich den Drang, sie eingehend zu untersuchen.

»Offensichtlich hegt Ihr nicht gerade freundschaftliche Gefühle für Eure frühere Frau«, bemerkte Fidelma. »Vielleicht würde es weiterhelfen, wenn Ihr mir erzähltet, wie Ihr sie kennengelernt habt?«

Febal starrte noch ein Weilchen auf seine Füße und runzelte dabei die Stirn, als könne er sich nicht so recht entscheiden.

»Na schön. Ich war siebzehn, als ich hier in die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen eintrat. Damals war es ein gemischtes Kloster, ein conhospitae. Die Oberin zu jener Zeit hieß Äbtissin Marga. Sie war eine aufgeklärte Frau, und sie war es auch, die als erste unsere Schreiber beauftragte, die Bücher in unserer Bibliothek zu kopieren, um sie an andere Bibliotheken zu verkaufen oder gegen andere Werke einzutauschen.«

»Warum seid Ihr in die Abtei eingetreten? Wart Ihr an Büchern interessiert?«

Febal schüttelte den Kopf.

»Ich bin kein Schreiber. Mein Vater war Fischer. Er ist ertrunken. Ich wollte nicht so enden, deshalb trat ich in den Stand der Geistlichkeit ein, sobald ich das Alter der Reife erreicht hatte.«

»Ihr wart also hier, bevor Draigen auftauchte?«

»O Ja. Sie kam in die Abtei, als sie fünfzehn war, also bereits volljährig. Ihre Eltern waren beide gestorben, und so entschied sie sich für ein Leben im Kloster. Zumindest ist das die Geschichte, an die ich mich erinnere. Draigen erhielt ihre Erziehung und Ausbildung hier.«

»Und welche Stellung hattet Ihr damals inne?«

Febal reckte stolz die Brust.

»Ich war schon doirseor, der Pförtner der Abtei.«

»Eine Vertrauensstellung«, stimmte Fidelma zu. »Wie kam es, daß Draigen Eure Frau wurde?«

»Wie Ihr wißt, werden in einigen Klöstern die Mitglieder ermutigt, zu heiraten und ihre Kinder als gehorsame Diener Christi zu erziehen. Ich muß zugeben, ich fühlte mich zu Draigen hingezogen. Sie war hübsch und intelligent. Ich weiß allerdings nicht, was sie damals in mir gesehen hat, außer daß ich hier bereits eine verantwortungsvolle Stellung bekleidete.«

»Versucht Ihr mir gerade mitzuteilen, daß sie Euch womöglich nur wegen Eurer Position als doirseor geheiratet hat?«

»Das wäre ein ebensoguter Grund wie jeder andere.«

»Wie haben sich die Dinge verändert? Wie hat sich Draigen in ihre gegenwärtige Stellung hochgearbeitet? Und wie kam es zur Trennung zwischen Euch?«

Auf Febals Gesicht trat Verbitterung, wenn auch nur für einen Augenblick.

»Sie war listig wie eine Schlange«, zischte er. Bei der wortwörtlichen Wiederholung der Redewendung, die Draigen selbst nur wenige Stunden zuvor benutzt hatte, mußte Fidelma lächeln. »Die alte Mutter Oberin, Äbtissin Marga, war eine gütige, vertrauenswürdige Seele. Die Jahre gingen dahin, und Draigen wuchs heran. Oh, ich will gar nicht bestreiten, daß sie sehr klug ist. Die Bildung, die sie hier empfing, fiel bei ihr auf fruchtbaren Boden, und so lernte sie, die Tochter eines armen Bauern, fließend Griechisch, Latein und Hebräisch sowie unsere eigene Sprache, und sie kann all diese Sprachen mühelos lesen und schreiben. Sie kennt die Bibel in- und auswendig und kann Kapitel und Vers genauestens angeben. Sie ist ein kluger Kopf, doch dahinter verbirgt sich ein schlechter Charakter. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede.«

Febal hielt inne und verzog angewidert das Gesicht.

»Aber Ihr habt sie geheiratet«, ließ Fidelma nicht locker.

Febal blickte sie an.

»Ja, aber das muß nicht heißen, daß ihr Ehrgeiz mir gefiel. Sie hat die Grenzen übertreten, die sich für eine Frau geziemen.«

Fidelma zog die Mundwinkel nach unten.

»Welches sind denn diese Grenzen?« fragte sie schroff.

»Als Christin solltet Ihr das eigentlich wissen«, erwiderte Febal in selbstgefälligem Ton.

»Dann helft mir auf die Sprünge.« Ein empfindsamerer Mensch als er hätte den Ärger in ihrer Stimme vielleicht bemerkt.

»Schrieb nicht der heilige Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther: >Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde, denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß sie reden, sondern sie sollen untenan sein ... Wollen sie aber etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es steht den Weibern übel an, in der Gemeinde zu reden.<«

»Ihr glaubt also, Frauen hätten in Abteien und Kirchen nichts zu suchen?« Fidelma hatte dieses Argument schon oft gehört.

»In der Kirche haben die Frauen den Männern zu gehorchen«, verkündete Bruder Febal. »Paulus sagt, ebenfalls in seinem Korintherbrief: >Der Mann aber ist des Weibes Haupt . Und der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes willen, sondern das Weib um des Mannes willen.< Und in seinem ersten Brief an Timotheus schrieb er: >Einem Weibe aber gestatte ich nicht, daß sie lehre, auch nicht, daß sie des Mannes Herr sei, sondern stille sei.< Kann man es noch deutlicher sagen?«

»Das sind die Worte eines ganz gewöhnlichen Mannes, des Paul von Tarsus«, bemerkte Fidelma trocken, »und nicht die Worte Christi. Aber ist es nicht um so erstaunlicher, daß diese Worte Euch nicht davon abhielten, in ein conhospitae einzutreten und darüberhinaus auch noch eine Nonne zu heiraten?«

Febals Augen glühten haßerfüllt.

»Ich war damals noch sehr jung. Doch Eurer Erwiderung entnehme ich, daß Ihr Paulus, der durch Christus die göttliche Erleuchtung empfing, das Recht absprecht, solche Dinge zu lehren?«

»Paulus war nicht Christus«, entgegnete Fidelma ruhig. »In unserem Land sind Männer und Frauen vor Gott gleich.«

Bruder Febal antwortete in spöttischem Tonfall: »Der heilige Johannes Chrysostomus hat festgestellt, daß Frauen sich früher in der Lehre betätigen durften und dadurch alles verdarben. Das Christentum hat dem ein Ende bereitet. Augustinus von Hippo weist darauf hin, daß die Frau nicht als Ebenbild Gottes erschaffen wurde, der Mann dagegen voll und ganz dem Bilde Gottes entspricht.«

Fidelma sah Bruder Febal, dessen Gesicht vor Leidenschaft glühte, traurig an. Sie war schon vielen begegnet, die solche Argumente vorbrachten. Tatsächlich gab es in den fünf Königreichen Klöster, in denen die Anhänger des Neuen Glaubens die althergebrachten Gesetze in Frage stellten, ähnlich wie Draigen es tat.

»Soll das heißen, Bruder Febal«, fragte sie mit schneidender Stimme, »daß Ihr das Fénechus-Gesetz nicht anerkennt?«

Febals Augen wurden zu Schlitzen.

»Nur, sofern es mit den Grundlagen des Christentums übereinstimmt.«

»Und auf welche Grundlagen bezieht Ihr Euch?«

»Auf die Bußvorschriften des Finnian von Clonard und des Cummean Fata von Clonfert.«

Fidelma lächelte ironisch. Es war doch merkwürdig, daß Äbtissin Draigen nur wenige Stunden zuvor dieselben Bußvorschriften zitiert hatte - eine Reihe von kirchlichen Erlässen bezüglich der Leitung religiöser Gemeinschaften-, um ihre Sichtweise zu untermauern. Sonderbar, wie beide, Frau und Mann, so sehr sie sich auch auseinandergelebt hatten, in dieser Frage übereinstimmten. Zumindest kannte Fidelma jetzt die Gedanken, auf denen Bruder Febals Einstellungen basierten.

»Als Mann, der davon überzeugt ist, daß Frauen in der Kirche nichts zu suchen haben, hat es Euch doch sicherlich gestört, in einem conhospitae, einem gemischten Kloster, zu leben? Ich wundere mich immer noch, daß Ihr in eine solche Einrichtung eingetreten seid. Außerdem wundere ich mich, daß Ihr eine Heirat mit Draigen überhaupt in Betracht ziehen konntet.«

»Ich habe bereits gesagt, daß ich noch sehr jung war, als ich in die Abtei eintrat. Ich hatte die Bibel noch nicht vollständig gelesen und kannte die Werke von Finnian und Cummean noch nicht. Und anfangs war Draigen Ja ein ruhiges Mädchen, willig und gehorsam. Ich wußte nicht, daß sie nur den rechten Augenblick abwartete, daß sie lernte, soviel sie konnte, und unterdessen auf ihre Chance lauerte.«

»Ihre Chance - war das ihre Ernennung zur rechtaire? Habt Ihr damals den Entschluß gefaßt, die Ehe aufheben zu lassen?«

»Etwa ein Jahr nach unserer Heirat hörten wir auf, wie Mann und Frau zusammenzuleben. Jeder von uns ging seine eigenen Wege. Ich verabscheute sie, das will ich nicht leugnen. Ich war Pförtner, und als die alte rechtaire starb, hätte eigentlich ich ihre Nachfolge antreten sollen. Doch die betagte Äbtissin Marga hatte Draigen so sehr in ihr Herz geschlossen .«

»Wie alt war Draigen zu diesem Zeitpunkt?«

Febal runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern.

»Ich glaube, etwa Mitte zwanzig. Ja, so ungefähr in diesem Alter.«

»Und Äbtissin Marga machte Draigen zu ihrer Verwalterin?«

»Ja. Sie übertrug ihr das zweithöchste Amt in der Abtei. Und Draigen gefiel es natürlich, ihre Macht zu nutzen.«

»Inwiefern?«

»Sie begann, den Männern in der Gemeinschaft das Leben schwer zu machen und immer mehr Frauen in unser Kloster aufzunehmen. Sie bekämpfte jeden Glaubensbruder, der es zu etwas hätte bringen können. Sie schickte die Mönche auf weite Missionsreisen oder erlegte ihnen als Buße auf, Pilgerfahrten in andere Länder zu unternehmen. Bald lebten kaum noch Männer in der Abtei.«

»Wollt Ihr damit sagen, daß Draigen Männer nicht mochte?«

»Sie haßt alle Männer!« brauste Bruder Febal auf.

»Und Eure Einstellung zu Frauen«, brachte Fidelma ihm freundlich in Erinnerung, »rührt sie daher, wie Draigen Euch behandelt hat, oder hattet Ihr Eure Abneigung gegenüber Frauen in der Kirche schon vorher entwickelt?«

»Meine Einstellung basiert auf logischem Denken«, widersprach Febal ohne Bitterkeit. »Ich empfinde weder Zuneigung noch Abneigung gegenüber Frauen. Doch der Heilige Columban schrieb in einem seiner Gedichte:

Laßt jeden pflichtbewußten Menschen das tödlich Gift vermeiden,

Das die stolze Zunge einer bösen Frau verströmt.

Die Frau zerstörte die höchste Krone der Schöpfung...

In diesem Gedicht spielt er darauf an, daß der Niedergang unserer Gattung Evas Schuld war«, fügte Febal süffisant hinzu.

»Ich sehe, daß Ihr die letzte Zeile dieses Verses unterschlagen habt«, erwiderte Fidelma ruhig. »Die Zeile lautet:

Doch die Frau spendete die dauerhaften Freuden des Lebens.

In dieser Zeile bezieht er sich auf Maria, die Mutter unseres Erlösers.«

Bruder Febal wurde zornesrot, weil sie ihn verbessert hatte.

»Maria wußte wenigstens, wo ihr Platz war«, fauchte er. »Draigen weiß das nicht. Sie ist eine gottlose Frau, die ihre Macht mißbraucht, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen.«

»Ah Ja. Laut Adnar begann Draigen die Gesellschaft junger Frauen vorzuziehen.«

»Sie hat zahlreiche junge Gespielinnen«, versicherte ihr Febal ohne Zögern. »Wahrscheinlich hatte sie auch Affären mit älteren Nonnen, die sich dafür erkenntlich zeigten und ihr zu einem raschen Aufstieg in der Abtei verhalfen.«

Fidelma beugte sich zu Bruder Febal vor und schaute ihm eiskalt in die Augen.

»Als ddlaigh der Gerichtsbarkeit bin ich verpflichtet, Euch zu warnen, Bruder. Falls ich diese Aussage in meinem Bericht erwähnen soll, müßt Ihr darauf vorbereitet sein, öffentlich zu Eurer Anschuldigung zu stehen. Sollte die Anschuldigung falsch sein, haftet Ihr nach dem Gesetz ...«

»Ich kenne das Gesetz. Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe. Es ist bekannt, daß Äbtissin Draigen sich junge Novizinnen ins Bett holt.«

Nach dem Gesetz galt Homosexualität nicht als strafbar, solange Draigen ihre Machtposition nicht ausnutzte, um junge Mädchen, die nicht aus freien Stücken mit ihr ins Bett gehen wollten, dazu zu zwingen. Normalerweise wurde Homosexualität vor dem Cain Lanamna als Scheidungsgrund für beide Ehepartner anerkannt. In Fidelmas Abtei in Kildare war es ein offenes Geheimnis, daß die heilige Brigida, die Gründerin der Gemeinschaft, eine Geliebte namens Darlughdaca hatte, eine Novizin, mit der sie zusammenlebte. Einmal, als Darlughdaca einem jugendlichen Krieger, der in Kildare zu Gast war, schöne Augen machte, tobte Brigida vor Eifersucht und ließ Darlughdaca - wenn man den Überlieferungen Glauben schenkte - zur Strafe über glühende Kohlen laufen. Doch als Brigida starb, wurde Darlughdaca ihre Nachfolgerin.

»Wem ist es bekannt?« hakte Fidelma nach.

»Es ist allgemein bekannt.«

»Normalerweise bedeutet das, daß es sich lediglich um Gerüchte handelt. Ich brauchte schon eine präzisere Zeugenaussage, bevor ich das ernst nehme. Doch jetzt erzählt mir, wie wurde Draigen eigentlich Äbtissin?«

Bruder Febal kratzte sich nachdenklich mit dem Finger an der Nasenspitze.

»Das muß wohl mit dem Teufel zugegangen sein. Wie gesagt, Marga war alt. Sie litt unter Schmerzen in der Brust. Am Ende bestand Draigen darauf, daß sie, und nur sie allein, die alte Äbtissin pflegen durfte. Sie bereitete ihr die Medizin vor und bediente sie in ihrem Gemach. Ich war nicht überrascht, als eines Tages verkündet wurde, daß Marga gestorben war.«

»Wann war das .?«

»Im Sommer vor fünf Jahren.«

»Und so wurde Draigen Äbtissin?«

»Oh, es fand natürlich eine Versammlung statt, denn wie in allen irischen Klöstern trat die Gemeinschaft zusammen und sprach über die Verdienste der Anwärterinnen auf das Amt.«

»Aber Draigen war die einzige Anwärterin?«

»Ich legte Protest ein und verlangte, bei der Frage der Nachfolge berücksichtigt zu werden.«

»Und?«

»Zu diesem Zeitpunkt lebten nur noch ich und zwei ältere Brüder in der Abtei. Man lachte über uns. Und natürlich wurde Draigen Äbtissin. Noch auf der nämlichen Versammlung verkündete sie, daß sie die Abtei nicht länger als conhospitae führen wolle. Ich wurde aus meinem Amt als doirseor entlassen und zusammen mit meinen Brüdern aufgefordert zu gehen.«

»Ihr habt also das Kloster verlassen und seid bei Adnar geblieben?«

»Ja. Meine beiden Gefährten beschlossen, in den Norden zu gehen und der Gemeinschaft von Emly beizutreten. Ich blieb hier, denn Adnar suchte einen Mönch, der sein Seelen-Freund sein und die Messe für ihn lesen sollte.«

»Wann habt Ihr erfahren, daß Adnar Draigens Bruder war?«

»Vor langer Zeit.«

»Etwas genauer vielleicht?«

»Einige Jahre, bevor Draigen zur rechtaire der Abtei ernannt wurde, kehrte Adnar, der in Gulbans Heer gedient hatte, zurück. Es gab damals sehr viel Gerede. Er verklagte Draigen sogar vor Gericht - wegen seines Anteils an dem Land ihrer Eltern -, doch seine Klage wurde abgewiesen.«

»Abgewiesen?« Fidelma runzelte die Stirn. »Es klingt doch ganz so, als hätte Adnar das Recht auf seiner Seite.«

»Dennoch wurde sie abgewiesen. Jeder wußte, daß ich mit Draigen verheiratet gewesen war, und offensichtlich hatte Adnar Mitleid mit mir.«

»Und habt Ihr diese Beziehung ausgenutzt?«

»Warum sollte ich sie ausnutzen, und wie?«

»Ihr wart schließlich verbittert über Draigens Verhalten. Schlug sich das nicht in Euern Diensten für ihren Bruder nieder?«

Febal lächelte, doch es lag weder Wärme noch Humor in seinem Lächeln.

»Ich brauchte sie gar nicht auszunutzen. Bruder und Schwester haßten sich von Anfang an. Adnar gab Draigen die Schuld am Verlust seines Erbes, und Draigen gab Adnar die Schuld am Tod ihrer Eltern.«

»Man könnte behaupten, daß Ihr Euch eine Stellung in Adnars Haus suchtet, um die beiden gegeneinander auszuspielen. Um noch mehr Streit zwischen ihnen zu entfachen. Man könnte behaupten, daß Ihr Lügen über Draigen verbreitet habt. Die Sache mit ihrer Vorliebe für Novizinnen, zum Beispiel?«

»Das ist nicht wahr. Es gab ohnehin genügend Streit zwischen den beiden. Adnar bot mir an, bei ihm in Dun Boi zu bleiben, und ich akzeptierte sein Angebot. Ich empfand eine gewisse Genugtuung darüber, daß es Draigen nicht gelungen war, mich ganz aus meiner Heimat zu vertreiben.«

»Aber Ihr müßt Draigen gegenüber doch auch Haß und Rachegelüste empfinden?«

»Niemand weiß, wie sehr ich diese Frau aus tiefster Seele hasse. Aber wenn Ihr meint, daß ich Lügen über sie verbreite, dann sucht doch Schwester Bronach auf und fragt sie, ob die Äbtissin das Bett mit Schwester Lerben teilt.«

Fidelma war überrascht, daß Bruder Febal seine Anschuldigung plötzlich präzisierte.

»Das werde ich tun. Doch erlaubt mir, Bruder, Euch daran zu erinnern, daß Haß kein Grundsatz unseres Glaubens ist. Sprach Johannes nicht mit den Worten unseres Erlösers: >Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe, auf daß auch ihr einander liebhabt.««

Bruder Febal stieß ein verbittertes Lachen aus.

»Christus sprach von der Nächstenliebe. Draigen aber ist eine Schlange, eine Teufelin . der Teufel. Und ruft Petrus uns nicht auf, den Teufel zu hassen und wachsam zu sein? Ich halte mich an Petrus, und ich hasse die Schlange, die zum Oberhaupt dieser Gemeinschaft wurde.«

Febals Wut auf die Äbtissin war so heftig, daß die Kluft zwischen ihnen mit gesundem Menschenverstand niemals zu überbrücken war.

»Dann hat Euch also lediglich Eure Wut dazu veranlaßt, Adnar gegenüber zu behaupten, die Tote ohne Kopf sei vermutlich von seiner Schwester ermordet worden? Welche Begründungen habt Ihr sonst für Eure Anschuldigung? Erzählt mir bloß nicht, das sei Ja allgemein bekannt.«

Febal warf ihr einen raschen Blick zu.

»Ihr wißt also nicht, daß Draigen schon einmal getötet hat?«

Diese Antwort hatte Fidelma nicht erwartet.

»Einen solchen Vorwurf müßt Ihr erst einmal beweisen. Wen hat sie getötet?«

»Eine alte Frau, die in den Wäldern dieser Gegend hauste.«

»Wann war das?«

»Kurz bevor sie in die Gemeinschaft eintrat, mit fünfzehn.«

»Ach so? Dann wart Ihr also nicht unmittelbar Zeuge dieser Tat?«

»Nein. Aber die Geschichte ist bekannt.«

»Ah. Sie ist bekannt«, wiederholte sie mit sarkastischem Unterton. »Und wem ist sie bekannt?«

»Es gab Gerüchte .«

»Gerüchte sind keine Beweise ...«

»Dann fragt Schwester Bronach.«

»Warum Schwester Bronach?«

»Die Alte, die Draigen getötet hat, war Bronachs Mutter.«

Sprachlos vor Staunen starrte Schwester Fidelma Febal an.

»Laßt mich das noch mal klarstellen«, sagte sie nach einer Weile leise. »Wollt Ihr damit sagen, daß Äbtissin Draigen die Mutter von Bronach getötet hat? Derselben Bronach, die heute ihre doirseor ist?«

»Derselben«, brummte Febal gleichgültig.

»Und wollt Ihr damit sagen, daß Bronach das weiß?«

»Selbstverständlich. Fragt sie, wenn Ihr mir nicht glaubt. Und sie wird auch bestätigen, daß Lerben mit der Äbtissin das Lager teilt.«

Fidelma schwieg.

»Ich bin sicher, daß Ihr alles glaubt, was Ihr da sagt«, bemerkte sie nach einer Weile. »Eine so absonderliche Geschichte muß einfach der Wahrheit entsprechen, denn wenn sie gelogen wäre, könnte man das mühelos herausfinden. Ihr habt jedoch noch nicht erzählt, ob es sich um eine rechtswidrige Tötung handelte.«

»Gibt es denn eine Tötung, die rechtens wäre?« höhnte Febal.

»Das ist wahr, aber manche Tötungen können als schlimmer beurteilt werden als andere. Kaltblütiger, vorsätzlicher Mord zum Beispiel. Sind Euch Tatsachen über diesen Fall bekannt?«

Der stattliche Glaubensbruder zuckte die Achseln.

»Mir wäre es lieber, Ihr erfährt Eure Tatsachen von Schwester Bronach. Dann könnt Ihr wenigstens nicht behaupten, ich hätte Euch etwas Falsches erzählt.«

»Wie Ihr wollt. Dennoch ist es ein langer Weg von einer Tötung vor zwanzig Jahren bis zu Euerm Verdacht, daß Draigen die Person ermordet hat, deren Leichnam im Brunnen dieses Klosters gefunden wurde. Und falls sie tatsächlich für deren Tod verantwortlich wäre, müßte man daraus den logischen Schluß ziehen, daß sie auch für den Tod von Schwester Siom-ha die Verantwortung trägt.«

Bruder Febal machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Das liegt durchaus im Bereich des Möglichen, Schwester Fidelma.«

»Zugegeben. Falls Eure Behauptungen zutreffen.«

Augenblicklich brauste Bruder Febal empört auf.

»Wollt Ihr mich der Lüge bezichtigen?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Laßt uns genauer betrachten, was Ihr mir erzählt habt. Ihr sagt, Ihr habt gehört, daß Draigen jemanden getötet hat, bevor sie hierher in die Abtei kam. Ihr sagt, es gebe Gerüchte, daß Draigen junge Novizinnen in ihr Bett einlädt. Selbst wenn Ihr das beweisen könntet, ist letzteres nicht strafbar.«

»Es ist strafbar vor Gott!« brummte Febal böse.

»So, Ihr sprecht also auch im Namen Gottes?« bemerkte Fidelma leise. Dann sagte sie in schärferem Ton: »Ihr habt mir nichts erzählt, was vor einem Gericht gegen Draigen verwendet werden könnte, um nachzuweisen, daß sie für die beiden Todesfälle in der Abtei verantwortlich ist. Aber Ihr habt Behauptungen aufgestellt, durch die Ihr Euch sehr wohl schuldig gemacht haben könntet, böswillige Verleumdungen zu verbreiten und Draigens Ruf in den Schmutz zu ziehen. Ein guter Anwalt könnte Eure Behauptungen zerpflücken, allein schon aufgrund der Tatsache, daß Ihr mit Draigen verheiratet wart und in der Abtei Eures Amtes enthoben wurdet, bevor sie Euch schließlich ganz von dort vertrieb. Wenn es um Beweise und Gesetze geht, ist Eure Position äußerst angreifbar, Fe-bal.«

Bruder Febal erhob sich.

»Ich habe von Euch nichts anderes erwartet.«

Ruhig erwiderte Fidelma seinen wütenden Blick.

»Das solltet Ihr mir erklären«, forderte sie ihn mit eiskalter Stimme auf.

»Ihr seid eine Frau! >Laßt jeden pflichtbewußten Menschen die stolze Zunge einer Frau meiden!< Ihr haltet doch alle zusammen und deckt Euch gegenseitig.«

»Ihr habt das Gedicht falsch zitiert«, wies ihn Fidelma zurecht.

»Das spielt keine Rolle. Der Sinn ist derselbe. Ich habe gehört, daß Ihr eine Vorliebe für die griechischen und lateinischen Weisen habt. Ich habe hier ein Zitat für Euch, Fidelma von Kildare. Es stammt von Euripides: >Die Frau ist die natürliche Verbündete der Frau<. Ich hätte damit rechnen müssen, daß Ihr alles daransetzen werdet, Draigen zu decken - schließlich ist sie eine Frau, genau wie Ihr.«

Fidelma verschränkte bedächtig die Arme vor der Brust und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln.

»Ich nehme Euch das nicht übel, Febal. Es ist Euer Haß auf Draigen, der Euch zu solchen Reden verleitet. Geht zurück nach Dun Boi und beruhigt Euch. Es steckt sehr viel Wut in Euch.«

Bruder Febal schwankte, als habe er das Gleichgewicht verloren, und schien zu überlegen, ob er noch etwas sagen sollte. Dann drehte er sich um und ging mit großen Schritten davon. Sein Gang und seine hochgezogenen Schultern verrieten seinen Zorn.

Fidelma sah ihm nach, bis er hinter der nächsten Biegung der Küste verschwunden war.

Plötzlich spürte sie eine schreckliche Traurigkeit. Und fühlte sich sehr einsam.

Wenn sie Menschen begegnete, die so verbittert waren, wurde sie immer traurig. Und ihr war sofort bewußt, warum sie sich so einsam fühlte: sie dachte an Bruder Eadulf. Er war ein Mann, der das Leben und die Menschen liebte. In ihm war keine Bosheit. Bosheit. Warum hatte sie gerade dieses Wort gewählt? Bosheit war genau das, was sie in Febal spürte. Seine Feindseligkeit war mit Böswilligkeit durchtränkt.

Es ist wahr: nach einem einschneidenden Erlebnis sucht der Mensch oft nach Rechtfertigungen für seine Gefühle. Er sieht die Dinge dann häufig ganz anders als zuvor. Sicherlich fand sich Weiberhaß in Finnians Bußvorschriften, die Febal als Rechtfertigung für seine Haßgefühle verstehen könnte, doch vielleicht hatte sein Haß ganz andere Wurzeln. Und ein Mann, der zum Haß fähig war, zu leidenschaftlichen Gefühlen, ein solcher Mann konnte durchaus fähig sein, diese Gefühle auch auf anderen Wegen zum Ausdruck zu bringen. Auch durch Mord.

Fidelma stand auf und reckte sich und verspürte plötzlich Unbehagen. Nein, Widerwillen. Nicht so sehr gegen die Frauenfeindlichkeit eines einzelnen Mannes wie Febal, sondern gegen eine ganze Bewegung unter den Anhängern des Glaubens, die er vertrat. Fidelma war in ihrer Kultur zutiefst verwurzelt, doch das Christentum veränderte diese Kultur. Die neuen Ideen aus Griechenland, Rom und aus anderen Ländern, die in die Entwicklung der neuen Religion einflossen, beeinflußten allmählich die weltanschaulichen Grundlagen der irischen Kirche. Es waren Frauen gewesen, ebenso wie Männer, die die fünf Königreiche zum Christentum bekehrt hatten - jeder Frauenname eine Legende: die fünf Schwestern von Patrick, dem Obersten Apostel von Irland, und Frauen wie Darerca, Brigida, Ida, Etain sowie zahllose andere.

Aber nach zweihundert Jahren Christentum hatte sich eine Gruppe von Kirchenvertretern, darunter sogar einige Frauen, zusammengefunden, die das irische Zivilrecht nicht anerkannte. Unter der Führung des Finnian von Clonard hatten sie ein Kirchenrecht geschaffen, mit dem sie das Fénechus-Gesetz, das in den fünf Königreichen galt, ersetzen wollten.

Febal hatte die Bußvorschriften des Cummean erwähnt, die von Finnians Gesetzen angeregt worden waren. Sie wurden nun, mit ausdrücklicher Billigung Ultans von Armagh, von Kloster zu Kloster verkündet. Cummean war erst vor vier Jahren gestorben, und schon bekannten sich einige der männlichen Anhänger des Glaubens zu seinem Kirchenrecht, das, genau wie Febals Ansichten, auf den Lehren des Paulus von Tarsus beruhte.

Fidelma hatte guten Grund, sich an den Bußvorschriften des Cummean zu stoßen. Cummean war verantwortlich für den tragischen Tod ihrer Freundin aus Kindertagen, Liadin, die mit ihr zusammen in Cashel erzogen wurde. Liadin war Nonne geworden und außerdem eine ausgesprochen begabte Dichterin. Sie verliebte sich in Cuirithir, einen Dichter aus dem Königreich von Connacht. Der Abt der Gemeinschaft, der Cuirithir angehörte, war Cummean. Er forderte von seinen Untergebenen eine sehr harte Selbstzucht, und er schickte Cuirithir in die Fremde und untersagte ihm, Liadin jemals wiederzusehen. Als Begründung dienten ihm die Lehren des Paulus von Tarsus. Cui-rithir verließ Irland und ward nie wieder gesehen. Liadin wurde bald darauf krank und starb als gebrochener, unglücklicher Mensch. Ihr Kummer war grenzenlos gewesen.

Fidelma hielt nicht viel von Gesetzen, die die Menschen ohne ersichtlichen Grund unglücklich machten und ihnen ihr höchstes Gut nahmen - die Liebe. Lia-din und Cuirithir hätten Cummeans übertriebenes Asketentum ignorieren und stark genug sein müssen, um gemeinsam fortzugehen. Während sie im Sterben lag, hatte Liadin ihr letztes Lied geschrieben, das mit folgenden Versen endete:

Warum sollte ich verbergen,

was mein Herz noch immer begehrt,

mehr als alles in der Welt.

Ein glühendheißer Liebessturm brachte mein Herz zum Schmelzen.

Ohne seine Liebe kann es nimmermehr schlagen.

Wenige Tage später hatte sie ihr Herz tatsächlich dazu gebracht, daß es nicht mehr schlug.

Fidelma stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Sie sollte nicht an diese Dinge denken. Sie sollte keine moralischen Urteile fällen, sondern nach Beweisen suchen, anhand deren sie die Schuldigen an den beiden entsetzlichen Morden dingfest machen konnte.

Zumindest war ihr nächster Schritt jetzt klar. Sie mußte ein längeres Gespräch mit Schwester Bronach führen.

Sie erhob sich und begann am Strand entlang zu dem hölzernen Anlegesteg zurückzugehen.

Als sie die Stufen zum Kai erklomm, bemerkte sie plötzlich vor dem Grün und Braun der fernen Hügel, die die Durchfahrt zur Meerenge umschlossen, ein weißes Segel. Von Adnars Festung erschallte ein Horn weit über die kleine Bucht, das offensichtlich die Einfahrt des Schiffes in die Meerenge ankündigen sollte.

Fidelma hob die Hand, um ihre Augen gegen die Sonne abzuschirmen, und spähte über die glitzernde Wasserfläche.

Plötzlich begann ihr Herz schneller zu schlagen.

Es war die Foracha, die barc von Ross, die zügig und sicher in den Hafen segelte.

Febal und Draigen waren augenblicklich vergessen. Ihre Gedanken kreisten nur noch darum, welche Nachrichten Ross wohl mitbringen mochte, und um das Geheimnis des gallischen Handelsschiffes. Und was noch wichtiger war, ihr Herz schlug nun eher aus Angst - Angst vor den Neuigkeiten, die er womöglich über das Schicksal von Bruder Eadulf erfahren hatte.

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