»Und nun, Schwester, möchtet Ihr vermutlich den Leichnam inspizieren?«
Schwester Fidelma zuckte bei Äbtissin Draigens Vorschlag überrascht zusammen. Sie traten gerade aus dem Refektorium der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen, wo die Nonnen, mit wenigen Ausnahmen, gemeinsam ihre Abendmahlzeit eingenommen hatten.
Die Nacht war bereits über die kleine Abtei hereingebrochen, und die Gebäude lagen im Dunkeln, auch wenn an zentralen Stellen auf dem Gelände Lampen angezündet worden waren, um den Schwestern die Orientierung zu erleichtern. Es versprach wieder eine kalte Nacht zu werden, und der Böden war schon mit weißem Reif überzogen wie mit einer Schneedecke. Holzfeuer qualmten zwischen den Gebäuden, die, soweit Fidelma bisher hatte erkennen können, um einen mit Granit gepflasterten Innenhof herum angeordnet waren. In der Mitte des Hofes stand ein hohes Kreuz, und genau gegenüber einem großen, hölzernen Gebäude - duirthech oder Eichenhaus genannt -, das die Kapelle der Abtei beherbergte, lag der Kreuzgang. Überhaupt war die Mehrzahl der Häuser aus Holz gebaut, hauptsächlich aus Eichenholz, denn in der Umgebung wuchsen riesige Eichenwälder. Die wenigen Gebäude aus Stein dienten, so vermutete Fidelma zumindest, als Vorratsräume. An einem Ende der duirthech erhob sich ein gedrungener Turm mit steinernem Fundament und hölzernem Aufbau, der alle anderen Häuser überragte.
Die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen unterschied sich kaum von vielen anderen, die Fidelma überall in den fünf Königreichen gesehen hatte. Es gab jedoch keine Außenmauern wie in den bedeutenderen Abteianlagen, zum Beispiel in Ros Ailithir. Während der Mahlzeit - bei der es gestattet war, sich leise zu unterhalten, ganz im Gegensatz zu anderen Klöstern, in denen ein lector Abschnitte aus den Evangelien vorlas - hatte Fidelma erfahren, daß die Gemeinschaft aus nur fünfzig Schwestern bestand. Unter der Leitung von Äbtissin Draigen widmeten sie sich hauptsächlich dem Betreiben einer Wasseruhr, mit deren Hilfe genau festgestellt werden konnte, wieviel Zeit verstrichen war. Die Abtei war außerdem stolz auf ihre Bibliothek, und ein Teil der Schwestern fertigte Kopien von Büchern für andere Abteien an. Man lebte hier ruhig und beschaulich und beschäftigte sich friedlich mit Studien und religiösen Betrachtungen.
»Nun, Schwester«, fragte die Äbtissin erneut, »möchtet Ihr den Leichnam sehen?«
»Ja«, stimmte Fidelma zu. »Obwohl ich überrascht bin, daß Ihr ihn noch nicht begraben habt. Wie viele Tage ist es her, seit er entdeckt wurde?«
Die Äbtissin geleitete Fidelma vom Refektorium über den Innenhof zu der hölzernen Kapelle.
»Vor sechs Tagen haben wir die Unglückliche aus unserem Brunnen gezogen. Hätte Eure Ankunft sich verzögert, dann hätten wir die Tote selbstverständlich begraben müssen. Es ist jedoch jetzt im Winter kalt genug, um den Leichnam eine Zeitlang aufzubewahren. Er liegt in einem kühlen Raum unter der Kapelle, einem subterraneus, der normalerweise zur Lagerung von Lebensmitteln dient. Angeblich befinden sich unter den Abteigebäuden noch weitere Höhlen. Doch selbst unter diesen Bedingungen könnten wir die Tote nicht ewig dort liegenlassen. Wir haben daher Vorkehrungen getroffen, sie morgen früh auf unserem Friedhof zu beerdigen.«
»Habt Ihr die Identität der Unglücklichen festgestellt?«
»Ich hatte gehofft, daß Ihr dieses Problem lösen werdet.«
Die Äbtissin führte sie durch den mit Steinen gepflasterten Kreuzgang, vorbei an der Kapelle zum Eingang eines kleinen Gebäudes, dessen Wände als Trockenmauern errichtet worden waren, indem man roh behauene Granitblöcke einfach übereinandergeschichtet hatte, ohne sie mit Mörtel zu verbinden. Bei dem Steinhaus, das als Anbau mit dem hölzernen Turm verbunden war, handelte es sich offensichtlich um einen Vorratsraum. Der durchdringende Geruch von getrockneten Kräutern und Gewürzen stach Fidelma in die Nase und raubte ihr den Atem, auch wenn der Duft angenehm erfrischend war.
Äbtissin Draigen ging hinüber zu einem Regal und holte einen Krug heraus. Dann nahm sie von einem Stapel zwei viereckige Leintücher und tränkte sie mit der Flüssigkeit aus dem Gefäß. Fidelma atmete den würzigen Duft von Lavendel ein. Mit ernster Miene reichte Äbtissin Draigen ihr das durchtränkte Tuch.
»Ihr werdet es brauchen, Schwester.«
Sie geleitete sie zu einer Ecke des Raumes, von wo eine Steintreppe hinunterführte in eine geräumige Höhle, etwa zehn Meter lang, sieben Meter breit und unter der gewölbten Decke über drei Meter hoch. Fidelma erblickte am Eingangsbogen Spuren, die sie zunächst für Schrammen hielt. Dann erkannte sie jedoch, daß es sich um die eingeritzten Umrisse eines Stieres handelte. Nein, das war kein Stier, eher ein Kalb. Äbtissin Draigen bemerkte ihren prüfenden Blick.
»Soviel wir wissen, diente dieser Ort früher als heidnische Kultstätte. Das gilt auch für den Brunnen, den Necht gesegnet hat. Es gibt hier noch Überreste aus uralten Zeiten, zum Beispiel die Zeichnung einer Kuh oder dergleichen.«
Fidelma bestätigte wortlos, daß sie das Gesagte zur Kenntnis genommen hatte. Unmittelbar jenseits des bogenförmigen Eingangs entdeckte sie eine andere Treppe, die nach oben ins Dunkel führte.
»Über diese Treppe gelangt man direkt hinauf in den Turm«, erklärte die Äbtissin, noch bevor Fidelma die naheliegende Frage formulieren konnte. »Dort befinden sich unsere bescheidene Bibliothek und - im obersten Stockwerk - unser ganzer Stolz ... eine Wasseruhr.«
Sie gingen weiter und betraten die Höhle. Hier herrschte Eiseskälte. Nach Fidelmas Schätzung mußte der subterraneus an dieser Stelle unter dem Meeresspiegel liegen. Der Raum war beleuchtet. Das flak-kernde Licht stammte von vier großen Kerzen, die an den vier Ecken eines Tisches am anderen Ende der Höhle aufgestellt waren.
Niemand mußte Fidelma erklären, was dort auf dem Tisch unter dem Leinentuch lag. Der Umriß war leicht zu erkennen, wirkte jedoch verkürzt. Sie trat vorsichtig näher. Die Höhle war fast leer, nur vor einer Wand stapelten sich Kisten, und daneben standen Reihen von amphorae und irdenen Behältern, deren schwache Ausdünstungen darauf schließen ließen, daß sie zur Lagerung von Wein und Spirituosen benutzt wurden.
Mochte es auch noch so kalt sein - Äbtissin Drai-gen hatte recht. Fidelma konnte das Stück lavendelgetränkten Tuches gut gebrauchen. Obzwar Kräuter und andere Duftpflanzen um die Tote herum aufgestellt waren, war der beißende Gestank, der von dem bereits verwesenden Körper aufstieg, unverkennbar. Fidelma hielt unwillkürlich die Luft an und hob das Leintuch vor die Nase. Trotz des winterlichen Frostes roch der Leichnam stark nach Verwesung.
Äbtissin Draigen stand auf der anderen Seite der Toten und lächelte gequält hinter ihrem lavendelgetränkten Tuch hervor.
»Die Trauerfeier findet morgen bei Tagesanbruch statt, Schwester, das heißt, falls Ihr die Leiche nicht noch länger für Eure Untersuchung benötigt. Je schneller das erledigt ist desto besser.« Das war eher eine Feststellung als eine Frage.
Fidelma antwortete nicht, sondern riß sich zusammen und schlug das Leintuch zurück.
Wie oft Fidelma dem Tod auch begegnete - und gewaltsamer Tod war ihr keineswegs fremd -, jedes Mal verspürte sie Abscheu ob seiner Grausamkeit. Sie bemühte sich immer wieder, Leichen als etwas Abstraktes zu betrachten und sie sich nicht als lebende, empfindende Wesen vorzustellen, die geliebt, gelacht und das Leben genossen hatten. Sie preßte die Lippen fest zusammen und zwang sich, das weiße, verfaulende Fleisch in Augenschein zu nehmen.
»Wie Ihr feststellen werdet, Schwester«, betonte die Äbtissin überflüssigerweise, »wurde der Kopf abgetrennt. Deshalb war es uns auch nicht möglich, die Unglückliche zu identifizieren.«
Fidelmas Augen waren sofort zu der Wunde über dem Herzen gewandert.
»Zuerst wurde die Frau erstochen«, sagte sie halb zu sich selbst. »Der leichte Bluterguß beweist, daß ihr die Wunde nicht erst nach dem Tod zugefügt wurde. Sie wurde ins Herz gestochen und hinterher enthauptet.«
Äbtissin Draigen beobachtete die junge ddlaigh mit teilnahmsloser Miene.
Fidelma zwang sich, das durchtrennte Fleisch um den Hals zu untersuchen. Dann trat sie zurück und betrachtete die Tote ganz.
»Eine junge Frau. Kaum über das Alter der Reife hinaus. Ich schätze, sie war höchstens achtzehn. Vielleicht jünger.«
Ihr Blick fiel auf eine Verfärbung der Haut am rechten Knöchel. Stirnrunzelnd untersuchte sie die Stelle genauer.
»War sie hier an das Brunnenseil gebunden?« fragte sie.
Äbtissin Draigen schüttelte den Kopf.
»Die Schwestern, die die Leiche gefunden haben, sagten, sie habe am linken Knöchel gehangen und sei dort festgebunden gewesen.«
Fidelma wandte ihre Aufmerksamkeit dem linken Knöchel zu und entdeckte dort leichte Schrammen und Dellen. In der Tat, die Kratzer sahen mehr nach Seilwunden aus, und es gab keine Blutergüsse, was bewies, daß das Seil unzweifelhaft erst nach dem Tod dort befestigt worden war. Nun untersuchte sie den rechten Knöchel nochmals eingehend. Nein, diese Abschürfungen waren noch zu Lebzeiten entstanden, aber nicht durch ein Seil oder eine Schnur. Um das Bein zog sich ein gleichmäßiger, etwa fünf Zentimeter breiter, verfärbter Streifen, dessen Haut eindeutig geschädigt wurde, solange das Mädchen noch lebte.
Sie wandte sich nun den Füßen zu. Die Fußsohlen waren dick mit Hornhaut bedeckt und wiesen zahllose Schnitte und Wunden auf. Offensichtlich hatte die Tote zu Lebzeiten nicht gerade ein müßiges Dasein geführt und wahrscheinlich nicht sehr oft Schuhe getragen. Die Zehennägel wirkten ungepflegt, einige waren eingerissen oder abgebrochen. Merkwürdigerweise hatte sich darunter Schmutz abgelagert. Man hatte die Tote zwar gewaschen, doch dieser Schmutz - sonderbar rötlich, fast wie dunkelroter Lehm - schien sich an den Zehen in den Poren festgesetzt zu haben.
»Ich nehme an, daß der Leichnam gewaschen wurde, nachdem man ihn aus dem Brunnen zog?« fragte Fidelma und blickte auf.
»Selbstverständlich.« Die Äbtissin schien durch die Frage verärgert. Nach altem Brauch pflegte man Tote vor der Beerdigung zu waschen.
Fidelma machte keine weitere Bemerkung, sondern wandte ihre Aufmerksamkeit den Beinen und dem Rumpf zu. Dort konnte sie nichts erkennen, außer daß das Mädchen zu Lebzeiten über einen wohlproportionierten Körper und schlanke Gliedmaßen verfügt hatte. Als nächstes widmete sie sich den Händen. Überrascht stellte sie fest, daß ihr Zustand dem der Füße in keiner Weise entsprach. Sie waren weich, ohne Schwielen, mit sauberen, gepflegten Fingernägeln. An der rechten Hand entdeckte sie eine merkwürdige blaue Färbung, an der Außenseite des kleinen Fingers und entlang der Handkante sowie an Daumen und Zeigefinger. Sie untersuchte die andere Hand, fand dort jedoch keinerlei Farbspuren. Die Hände waren nicht die eines Menschen, der körperliche Arbeit gewöhnt war. Dies stand allerdings in völligem Gegensatz zu den Füßen des Mädchens.
»Mir wurde berichtet, daß die Tote mehrere Gegenstände umklammert hielt. Wo sind sie?« fragte Fidelma schließlich.
Die Äbtissin zögerte verlegen.
»Als die Schwestern den Leichnam wuschen und vorbereiteten, wurden die Gegenstände entfernt. Ich verwahre sie in meinen Gemächern.«
Fidelma schluckte die mißbilligende Entgegnung, die ihr auf der Zunge lag, herunter. Was sollte denn die ganze Untersuchung, wenn möglicherweise entscheidende Hinweise entfernt worden waren? Sie besann sich jedoch eines Besseren und sagte: »Dann seid wenigstens so gut und erklärt mir genau, wo die Tote die Gegenstände hatte.«
Äbtissin Draigen schnaubte gefährlich. Sie war offensichtlich nicht gewohnt, Anweisungen zu befolgen, schon gar nicht die einer jungen Nonne.
»Schwester Siomha und Schwester Bronach, die den Leichnam entdeckten, werden Euch Näheres darüber sagen können.«
»Ich spreche später mit ihnen«, erwiderte Fidelma geduldig. »Jetzt würde ich gerne wissen, wo die Gegenstände gefunden wurden.«
Die Äbtissin preßte die Lippen zusammen, atmete tief durch und antwortete steif: »Mit der rechten Hand umklammerte die Tote ein schäbiges Kruzifix aus Kupfer an einem Lederriemen, der um das Handgelenk gewickelt war.«
»Schien es ihr in die Hand hineingelegt worden zu sein?«
»Nein; die Finger waren fest darum geschlossen. Die Schwestern mußten erst zwei Finger brechen, um es herauszuziehen.«
Fidelma zwang sich, die Hand genau zu untersu-chen, um sich von der Richtigkeit dieser Angaben zu überzeugen.
»Abgesehen davon, daß die Finger gebrochen wurden - hat man, als die Tote gewaschen wurde, den Händen besondere Aufmerksamkeit gewidmet? Wurden sie besonders sorgfältig manikürt?«
»Ich weiß es nicht. Die Tote wurde gesäubert und gewaschen, wie es Sitte ist.«
»Habt Ihr eine Vermutung, woher die blaue Färbung stammt?«
»Nicht die geringste.«
»Und was war der andere Gegenstand, der bei ihr gefunden wurde?«
»Am linken Arm hing ein Holzstab mit einer Inschrift in Ogham«, fuhr die Äbtissin fort. »Er war am Unterarm festgebunden und konnte leichter abgenommen werden.«
»Festgebunden? Und Ihr habt ihn noch? Und die Schnur auch?« hakte Fidelma nach.
»Selbstverständlich.«
Fidelma trat zurück und sah die Leiche prüfend an.
Nun kam der unangenehmste Teil ihrer Aufgabe.
»Ich brauche Hilfe, um den Leichnam umzudrehen, Äbtissin Draigen«, sagte sie. »Würdet Ihr so freundlich sein?«
»Ist das denn wirklich notwendig?«
»Ja. Ihr könnt nach einer anderen Schwester schik-ken, wenn Ihr wünscht.«
Die Äbtissin schüttelte den Kopf. Sie atmete noch einmal tief den Lavendelduft ein, bevor sie das Stück Stoff in ihren Ärmel stopfte, trat einen Schritt vor und half Fidelma, die Leiche umzudrehen, zunächst auf die Seite und dann auf den Bauch, so daß der Rücken sichtbar wurde. Die Spuren frischer Striemen waren nicht zu übersehen. Sie liefen kreuz und quer über die weiße Haut, als sei die Unglückliche noch kurz vor ihrem Tod gezüchtigt worden. An manchen Stellen war die Haut sogar aufgeplatzt und hatte, als sie noch lebte, geblutet.
Fidelma atmete tief ein, bereute es jedoch sofort, denn durch den Verwesungsgestank mußte sie würgen und husten. Sie tastete nach ihrem Lavendeltuch.
»Habt Ihr genug gesehen?« fragte die Äbtissin mit eisiger Stimme.
Fidelma nickte zwischen ihren Hustenanfällen.
Gemeinsam drehten sie die Leiche in ihre Ausgangslage zurück.
»Ich nehme an, jetzt wünscht Ihr die Gegenstände zu sehen, die bei der Leiche gefunden wurden?« fragte die Äbtissin, während sie in den großen Vorratsraum vorausging.
»Was ich zuerst wünsche, Mutter Oberin«, erwiderte Fidelma bedächtig, »ist, mich zu waschen.«
Äbtissin Draigen verzog den Mund zu einem fast boshaften Grinsen.
»Selbstverständlich. Folgt mir hier entlang. Unser Gästehaus verfügt über eine Badewanne, und um diese Zeit nehmen die Schwestern normalerweise ihr Bad, so daß das Wasser gerade heiß sein dürfte.«
Man hatte Fidelma das tech-oired, das Gästehaus der Abtei, wo sie während ihres Aufenthaltes in der Gemeinschaft wohnen würde, bereits gezeigt. Es war ein langgestrecktes, niedriges Holzhaus, aufgeteilt in ein halbes Dutzend Kammern, mit einem Badezimmer in der Mitte. In einem bronzenen Behälter wurde das Wasser über einem Holzfeuer erhitzt und anschließend in eine hölzerne dabach oder Badewanne geschüttet.
Die Mitglieder der Gemeinschaft hatten sich offenbar der in Irland weitverbreiteten Mode angeschlossen, allabendlich nach der Abendmahlzeit ein Vollbad zu nehmen, das fothrucud, und sich am Morgen als erstes Gesicht, Hände und Füße zu waschen, eine Reinigungszeremonie, die man indlut nannte. Das tägliche Baden war für die Bewohner der fünf Königreiche mehr als nur eine Sitte, es hatte sich immer mehr zu einem religiösen Ritual entwickelt. Jede irische Herberge verfügte über ein Badehaus.
Die Äbtissin verabschiedete Fidelma am Eingang zum Gästehaus und vereinbarte, sie eine Stunde später in ihren Gemächern zu treffen. Zur Zeit wohnte sonst niemand im tech-oired, so daß Fidelma das ganze Haus für sich hatte. Sie wollte gerade in ihre Kammer eintreten, als sie Geräusche aus dem Badezimmer hörte.
Mit gerunzelter Stirn ging sie den düsteren Korridor hinunter und öffnete die Tür.
Eine Schwester in mittleren Jahren schürte das Feuer unter dem bronzenen Kessel, in dem das Wasser schon dampfte, und richtete sich nun auf. Bei Fidelmas Erscheinen senkte sie hastig den Blick, faltete die Hände unter ihrem Gewand und neigte unterwürfig den Kopf.
»Bene vobis«, grüßte sie leise.
Fidelma betrat den Raum.
»Dens vobiscum«, erwiderte sie auf die lateinische Begrüßungsformel.
»Ich wußte nicht, daß es hier noch andere Gäste gibt.«
»Oh, die gibt es auch nicht. Ich bin die doirseor der Abtei, aber ich kümmere mich auch um das Gästehaus. Ich habe Euer Bad vorbereitet.«
Fidelmas Augen weiteten sich kaum merklich.
»Das ist sehr freundlich von Euch, Schwester.«
»Es ist meine Pflicht«, erwiderte die Ältere, ohne aufzublicken.
Fidelma ließ ihren prüfenden Blick durch das peinlich saubere Badezimmer schweifen. Die hölzerne Wanne stand bereit und war schon fast mit heißem Wasser gefüllt, und das Holzfeuer verbreitete wohlige Wärme im Raum. Die Luft war durchtränkt vom Duft frischer Kräuter. Ein Lappen aus Leinen war bereitgelegt, ebenso ein Stück sléic, parfümierte Seife. Daneben lagen ein Spiegel und ein Kamm sowie Tücher zum Abtrocknen. Alles wirkte gepflegt und ordentlich. Fidelma lächelte.
»Ihr erfüllt Eure Pflicht vorbildlich, Schwester. Wie ist Euer Name?«
»Ich bin Schwester Bronach«, entgegnete die andere.
»Bronach? Dann seid Ihr eine der beiden Schwestern, die den Leichnam gefunden haben.«
Die Augen der Nonne mieden Fidelmas Blick.
»Das stimmt, Schwester. Ich und Schwester Siomha fanden die Leiche.« Sie beugte rasch die Knie.
»Dann kann ich etwas Zeit sparen, Schwester, wenn Ihr mir darüber berichtet, während ich bade.«
»Während Ihr badet?« wiederholte sie mit mißbilligendem Unterton.
Fidelma wurde neugierig.
»Habt Ihr etwas dagegen?«
»Ich ...? Nein.«
Die Frau drehte sich um, hob mit erstaunlicher Kraft den bronzenen Kessel vom Feuer und goß das heiße Wasser in die halbvolle, dampfende Holzwanne.
»Euer Bad ist jetzt fertig, Schwester.«
»Sehr gut. Ich habe saubere Kleidung dabei und meinen ciorbholg.« Der ciorbholg war, wörtlich genommen, ein Kamm-Beutel, für irische Frauen ganz unentbehrlich, denn dann bewahrten sie nicht nur Kämme auf, sondern auch andere Toilettenartikel. Die alten Gesetze im Buch von Acaill legten sogar fest, daß eine Frau bei bestimmten Streitigkeiten nicht belangt wurde, wenn sie ihren »Kamm-Beutel« vorzeigen konnte und ihren Spinnrocken, einen gespaltenen Stock von etwa einem Meter Länge, von dem Wolle oder Flachs abgewickelt wurden. Die beiden Gegenstände galten als Symbole der Weiblichkeit.
Fidelma ging, um frische Kleider aus ihrer Tasche zu holen. Sie war sehr anspruchsvoll, was persönliche Reinlichkeit betraf, und hätte ihre Kleidung gerne regelmäßig gewaschen. Auf Ross’ kleinem Schiff hatte sie keine Möglichkeit dazu gehabt, so daß sie jetzt die Gelegenheit nutzte, um wenigstens die Kleider zu wechseln. Als sie zurückkehrte, erhitzte Schwester Bronach erneut Wasser auf dem Feuer.
»Wenn Ihr mir Eure getragenen Sachen reicht, Schwester«, erbot sie sich, »werde ich sie waschen, während Ihr badet. Sie können dann vor dem Feuer trocknen.«
Fidelma dankte ihr, doch wieder gelang es ihr nicht, Blickkontakt mit der bekümmerten Nonne aufzunehmen. Sie entledigte sich ihrer Kleidung, schauderte trotz des Feuers vor Kälte, glitt rasch in das verschwenderisch warme Badewasser und stieß einen tiefen Seufzer der Behaglichkeit aus.
Dann griff sie nach der sléic und begann sich einzuseifen. Schwester Bronach sammelte ihre abgelegten Kleidungsstücke ein und warf sie in den Bronzekessel.
»Also«, begann Fidelma, während sie im Schaum der parfümierten Seife schwelgte, »Ihr wolltet gerade erzählen, wie Ihr und Schwester Siomha die Tote gefunden habt?«
»So ist es, Schwester.«
»Und wer ist Schwester Siomha?«
»Sie ist die Verwalterin der Abtei, die rechtaire oder dispensator, wie das Amt in einigen der größeren Abteien auf Latein bezeichnet wird.«
»Erzählt mir, wann und wie Ihr die Tote gefunden habt.«
»Die Gemeinschaft war gerade beim Mittagsgebet, und der Gong verkündete den Beginn des dritten cadar. «
Das dritte Viertel des Tages begann am Mittag.
»Um diese Uhrzeit habe ich stets dafür zu sorgen, daß die persönliche Badewanne der Äbtissin rechtzeitig gefüllt wird. Sie zieht es vor, mittags zu baden. Das Wasser wird aus dem Hauptbrunnen geschöpft.«
Fidelma lehnte sich in der Wanne zurück.
»Hauptbrunnen?« fragte sie stirnrunzelnd. »Gibt es hier denn mehr als einen Brunnen?«
Bronach nickte düster.
»Sind wir nicht die Gemeinschaft Eo na d Tri d To-bar?« fragte sie.
»Der Lachs aus den Drei Quellen«, wiederholte Fidelma interessiert. »Aber das ist doch nur ein Sinnbild für den Namen Christi.«
»Selbst wenn, Schwester, es gibt an diesem Ort tatsächlich drei Quellen. Den geweihten Brunnen der Heiligen Necht, der Gründerin dieser Gemeinschaft, sowie zwei kleinere Quellen im Wald hinter der Abtei. Zur Zeit wird das gesamte Wasser von den Quellen im Wald geholt, denn Äbtissin Draigen hat noch nicht alle Reinigungszeremonien für den Hauptbrunnen ausgeführt.«
Fidelma war froh über diese Mitteilung, denn schon allein bei dem Gedanken, das Wasser zu trinken, in dem die enthauptete Tote gelegen hatte, ekelte es sie.
»Ihr gingt also zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen?«
»Ja. Aber ich konnte die Seilwinde nur äußerst mühsam betätigen. Sie war schwer zu drehen. Später wurde mir klar, daß das am Gewicht der Toten lag. Als ich mich gerade nach Kräften mühte, den Wassereimer hochzuziehen, kam Schwester Siomha, um mich für meine Säumigkeit zu tadeln. Sie glaubte mir sicher nicht, daß ich Schwierigkeiten hatte.«
»Warum nicht?« fragte Fidelma aus der Wanne.
Die Nonne hörte auf, den großen Kessel mit Fidelmas Kleidern umzurühren, und dachte nach.
»Sie sagte, sie hätte dort erst vor kurzem Wasser geschöpft, und mit der Seilwinde sei alles in Ordnung gewesen.«
»Hatte sonst jemand an diesem Vormittag den Brunnen benutzt - entweder vor Schwester Siomha oder bevor Ihr dort Wasser holen wolltet?«
»Nein, das glaube ich nicht. Es gab vor dem Mittag keinen Grund, frisches Wasser zu schöpfen.«
»Erzählt weiter.«
»Nun, wir zogen beide mit aller Kraft, bis der Leichnam auftauchte.«
»Ihr wart natürlich beide sehr erschrocken?«
»Natürlich. Schließlich fehlte der Kopf. Wir hatten Angst.«
»Ist Euch sonst noch etwas an der Leiche aufgefallen?«
»Das Kruzifix? Ja. Und natürlich der Espenstab.«
»Der Espenstab?«
»Am linken Unterarm war ein Stab aus Espenholz festgebunden, in den Buchstaben in Ogham eingeritzt waren.«
»Und was habt Ihr Euch dabei gedacht?«
»Dabei gedacht?«
»Was bedeuteten die Zeichen? Ihr habt doch sicherlich genau erkannt, was dort stand.«
Bronach hob die Schultern.
»Ich kann zwar erkennen, daß es sich um Buchstaben der Oghamschrift handelt, wenn ich welche sehe, aber lesen kann ich sie nicht.«
»Hat Schwester Siomha sie gelesen?«
Bronach schüttelte den Kopf, hob den bronzenen Kessel vom Feuer, fischte die einzelnen Kleidungsstücke mit einem Stock heraus und legte sie in eine Wanne mit kaltem Wasser.
»Also war keine von Euch beiden in der Lage, die Inschrift zu lesen oder ihren Sinn zu entziffern?«
»Ich sagte der Äbtissin, daß ich sie für eine Art heidnisches Symbol hielt. Haben unsere Vorfahren nicht Zweige an Verstorbenen festgebunden, um sie vor den rachsüchtigen Seelen der Toten zu schützen?«
Fidelma musterte die ältere Schwester prüfend, doch wandte ihr diese den Rücken zu und bückte sich, um das Wasser aus den Kleidern zu schlagen.
»Davon habe ich noch nie gehört, Schwester Bronach. Was meinte die Äbtissin zu Eurer Idee?«
»Äbtissin Draigen behält ihre Meinung meistens für sich.«
Irrte Fidelma, oder klang die Antwort tatsächlich ein wenig schnippisch?
Fidelma erhob sich aus der Wanne und griff nach dem Trockentuch, bevor sie hinauskletterte. Energisch rieb sie sich ab und genoß das belebende Prik-keln in ihren Gliedern. Sie fühlte sich erfrischt und entspannt und schlüpfte in die sauberen Kleider. Seit ihrer Rückkehr aus Rom frönte sie dem Luxus, Unterhemden aus weißer sida - Seide - zu tragen, die sie von dort mitgebracht hatte. Ihr entging nicht, daß Schwester Bronach einen Blick auf ihre Unterkleider warf, einen fast neidischen Blick, die erste Gefühlsregung, die Fidelma in ihrem ansonsten so unbewegten Gesicht feststellen konnte. Über die Unterwäsche zog Fidelma ihr braunes inar oder Überkleid, das fast bis zu den Füßen reichte und von einer mit Troddeln geschmückten Schnur um die Taille zusammengehalten wurde. Dann schlüpfte sie in ihre wohlgeformten, spitz zulaufenden Lederschuhe, cuaran, die am Spann mit einer Ziernaht versehen waren und paßten, ohne daß man sie mit Riemen zubinden mußte.
Nun wandte sie sich zum Spiegel und vollendete ihre Toilette, indem sie ihr langes, widerspenstiges rotes Haar in Ordnung brachte.
Schwester Bronach war still geworden und noch mit dem Waschen von Fidelmas Kleidern beschäftigt.
Fidelma belohnte sie mit einem Lächeln.
»Na also, Schwester. Jetzt fühle ich mich wieder wie ein Mensch.«
Schwester Bronach beschränkte sich darauf, ohne weiteren Kommentar zu nicken.
»Gibt es noch irgend etwas, was Ihr mir sagen solltet?« drängte Fidelma. »Zum Beispiel, was geschah, nachdem Ihr und Schwester Siomha den Leichnam aus dem Brunnen gezogen hattet?«
Schwester Bronach hielt den Kopf gesenkt.
»Wir sprachen ein Gebet für die Tote, und dann ging ich die Äbtissin holen, während Schwester Siom-ha bei der Leiche blieb.«
»Und Ihr kehrtet unverzüglich mit der Äbtissin zurück?«
»Sobald ich sie gefunden hatte.«
»Und Äbtissin Draigen nahm die Sache in die Hand?«
»Selbstverständlich.«
Fidelma ergriff ihre Tasche und wandte sich zur Tür. Dort hielt sie einen Augenblick inne und warf einen Blick zurück.
»Ich bin Euch sehr dankbar, Schwester Bronach. Ihr führt Euer Gästehaus sehr gut.«
Schwester Bronach hielt ihren Blick gesenkt.
»Ich tue nur meine Pflicht«, erwiderte sie knapp.
»Damit jedoch die Pflicht einen Sinn bekommt, muß man sie gerne tun«, entgegnete Fidelma. »Mein Mentor, Brehon Morann von Tara, sagte einmal: wenn Pflicht nur noch Zwang ist, hört das Vergnügen auf, denn die oberste Pflicht ist die Pflicht, glücklich zu sein. Gute Nacht, Schwester Bronach.«
In ihrem Gemach musterte Äbtissin Draigen Fidelma - das Gesicht noch gerötet, die Haut noch prickelnd von der Wärme des Bades - mit neidvoller Anerkennung. Die Äbtissin saß an ihrem Tisch, vor sich ein in Leder gebundenes Evangelium, in dem sie gerade gelesen hatte.
»Setzt Euch, Schwester«, lud sie Fidelma ein. »Möchtet Ihr mit mir ein Glas Glühwein trinken, um die abendliche Kühle zu vertreiben?«
Fidelma zögerte nur einen Augenblick.
»Ja, vielen Dank, Mutter Oberin«, sagte sie. Auf dem Weg hierher, als eine junge Novizin, die sich als Schwester Lerben vorstellte und als persönliche Dienerin der Äbtissin, sie über den Innenhof begleitete, hatte es geschneit, und Fidelma wußte, daß der Abend noch eisiger werden würde.
Die Äbtissin erhob sich und nahm einen Krug vom Regal. Ein Eisenstab wurde bereits im Feuer erhitzt, und Äbtissin Draigen wickelte ein Stück Leder darum, zog ihn heraus und senkte seine rotglühende Spitze in den Krug. Dann goß sie die warme Flüssigkeit in zwei Keramikbecher und reichte einen davon Fidelma.
»Nun, Schwester«, sagte sie, nachdem beide mehrmals dankbar an der Flüssigkeit genippt hatten, »hier sind die Gegenstände, die Ihr sehen wolltet.«
Sie ergriff ein in Tuch gewickeltes Päckchen, legte es auf den Tisch, setzte sich gegenüber auf ihren Platz und begann in kleinen Schlucken von ihrem Wein zu trinken, während sie Fidelma über den Becherrand beobachtete.
Fidelma stellte ihren Becher ab und wickelte das Tuch auf. Es enthielt ein kleines Kruzifix aus Kupfer an einem Lederbändchen.
Sie starrte lange auf den polierten Gegenstand, bevor sie sich plötzlich an ihren Glühwein erinnerte und eilig daran nippte.
»Nun, Schwester«, fragte die Äbtissin, »was haltet Ihr davon?«
»Von dem Kruzifix nicht viel«, erwiderte Fidelma. »Es ist nichts Besonderes. Armselige Handwerkskunst, ein billiges Stück, wie es sich die Mehrzahl der Schwestern leisten kann. Es könnte von einem hiesigen Handwerker stammen. Falls es dem Mädchen gehörte, dessen Leichnam gefunden wurde, bedeutet das, daß es sich um eine Glaubensschwester handelte.«
»Darin pflichte ich Euch bei. Die meisten Nonnen in unserer Gemeinschaft besitzen ähnlich gearbeitete Kruzifixe aus Kupfer. Das ist hier in der Gegend reichlich vorhanden, und die hiesigen Handwerker stellen jede Menge solcher Kruzifixe her. Doch das Mädchen scheint nicht von hier zu sein. Ein Bauer aus der Umgebung dachte, es könnte sich um seine vermißte Tochter handeln. Er kam, um sich die Leiche anzusehen, doch sie war es nicht. Seine Tochter hatte eine Narbe, die der Leichnam nicht aufwies.«
Fidelma unterbrach ihre Betrachtung des Kruzifixes und hob den Kopf.
»Oh? Wann war der Bauer denn hier?«
»Einen Tag, nachdem wir die Tote gefunden hatten. Sein Name ist Barr.«
»Woher wußte er von der Leiche?«
»In diesem Teil der Welt verbreiten sich Neuigkeiten schnell. Jedenfalls verbrachte Barr reichlich Zeit damit, den Körper zu untersuchen. Er wollte offenbar ganz sichergehen. Der Leichnam könnte aber von einer Nonne aus einem anderen Bezirk stammen.«
In der Tat, dachte Fidelma, der Zustand der Hände der Toten ließ vermuten, daß sie einer religiösen Gemeinschaft angehörte. Wer keine Feldarbeit verrichten mußte, war stolz auf ordentlich gepflegte Hände. Die Fingernägel wurden stets sorgfältig geschnitten und gefeilt. Ungepflegte Nägel zu haben war eine Schande, und zwar für Angehörige beiderlei Geschlechts. Der Ausdruck créchtingnech oder >abgebrochene Nägel< galt als eine der schlimmsten Beleidigungen.
Das paßte jedoch nicht zu den zerschundenen Füßen, den Spuren einer Fußfessel und den Peitschenstriemen auf dem Rücken des Mädchens.
Die Äbtissin hatte ein zweites Stück Tuch ergriffen und es vorsichtig auf den Tisch gelegt.
»Dies ist der Espenstab, der an ihrem linken Unterarm festgebunden war«, kündigte sie an, während sie vorsichtig den Stoff zurückschlug.
Fidelma starrte auf den etwa vierzig Zentimeter langen Stab aus Espenholz. Als erstes fiel ihr auf, daß er in regelmäßigen Abständen eingekerbt war und daß auf einer Seite eine Zeile in Ogham stand, der althergebrachten irischen Schrift. Die Buchstaben waren neueren Datums als die Kerben. Sie betrachtete sie genau, und ihre Lippen formten die Worte.
»Begrabt sie gut. Die Morrigan ist erwacht!«
Sie erbleichte, richtete sich auf und begegnete dem Blick der Äbtissin, die sie spöttisch musterte.
»Ihr wißt, was das ist?« fragte Draigen leise.
Fidelma nickte bedächtig. »Es ist ein fé.«
Ein fé oder Espenstab, gewöhnlich mit einer Inschrift in Ogham, war das Maß, mit dem die Größe von Leichen und Gräbern ermittelt wurde. Der fé war das Werkzeug des Leichenbestatters und wurde mit äußerstem Entsetzen betrachtet, so daß ihn niemand, unter gar keinen Umständen, in die Hand nehmen oder berühren würde, außer demjenigen natürlich, dessen Beruf es war, Leichen und Gräber zu vermessen. Seit den Tagen der alten Götter galt ein fé als Symbol des Todes und des Unheils. Noch heute war die schlimmste Verwünschung, die man gegen jemanden aussprechen konnte: »Möge Euch der fé bald vermessen.«
Es war still, während Fidelma dasaß, den Blick starr auf das Espenholz gerichtet.
Erst als sie einen leisen, aber gereizten Seufzer vernahm, regte sie sich, hob die Augen und sah die Äbtissin an.
Offensichtlich wußte Draigen genau, was der Stock zu bedeuten hatte, denn ihre Miene wirkte besorgt.
»Versteht Ihr jetzt, Fidelma von Kildare, warum ich dem hiesigen bo-aire nicht gestatten konnte, in dieser Angelegenheit seines Amtes als Friedensrichter zu walten? Versteht Ihr jetzt, warum ich Abt Broce eine Nachricht sandte, damit er einen ddlaigh der Brehon-Gerichtsbarkeit schickt, der niemand anderem verantwortlich ist als dem König von Cashel?«
Fidelma erwiderte ihren Blick mit ernsten Augen.
»Ich verstehe, Mutter Oberin«, sagte sie ruhig. »Es gibt viel Böses hier. Viel Böses.«
Fidelma brauchte eine Weile, bis sie einschlafen konnte. Draußen fiel dichter Schnee, doch diesmal war es nicht die eisige Kälte in ihrer Kammer, die ihr das Einschlafen erschwerte. Es war auch nicht das Geheimnis der Toten ohne Kopf, das ihre Gedanken nicht zur Ruhe kommen ließ und sie wachhielt, während sie versuchte, ihre beklemmende Furcht zu beschwichtigen. Zweimal nahm sie das kleine Meßbuch vom Nachttisch, drehte es immer wieder um und um und starrte darauf, als wisse es die Antworten auf all ihre Fragen.
Was war mit Eadulf von Seaxmund’s Ham geschehen?
Vor mehr als zwölf Monaten hatte sie sich in Rom auf dem Kai nahe der Brücke von Probi von Eadulf verabschiedet und ihm dieses kleine Meßbuch geschenkt. Auf der ersten Seite stand ihre Widmung.
Zweimal hatte das Schicksal sie und Eadulf zusammengeführt, um den Tod von Mitgliedern ihrer jeweiligen Kirche zu untersuchen. Sie hatten festgestellt, daß sie trotz entgegengesetzter Charaktereigenschaften eine gegenseitige Anziehung verspürten und daß sich ihre Stärken bei der Suche nach Lösungen für die Probleme, die ihnen gestellt wurden, gut ergänzten. Dann kam für sie die Zeit, getrennte Wege zu gehen. Fidelma mußte in ihre Heimat zurückkehren, und Ea-dulf wurde zum scriptor und Berater von Theodor von Tarsus berufen, dem neu ernannten Erzbischof von Canterbury, Roms wichtigstem Vertreter in den sächsischen Königreichen. Theodor, selbst Grieche und erst vor kurzem zur Römischen Kirche übergetreten, brauchte jemanden, der ihn in die Feinheiten seiner neuen Aufgaben als Geistlicher einweihte. Obwohl Fidelma damals geglaubt hatte, sie werde Eadulf niemals wiedersehen, mußte sie feststellen, daß ihre Gedanken immer häufiger um ihre Erinnerungen an den sächsischen Mönch kreisten. Sie hatte sich einsam gefühlt und sich erst vor kurzem eingestanden, daß sie Eadulfs Gesellschaft vermißte.
Jetzt war sie mit einem Geheimnis konfrontiert, das für sie weitaus schlimmer war als alle anderen Rätsel, mit deren Lösung man sie bisher beauftragt hatte.
Warum hatte sich dieses kleine Meßbuch, ihr Abschiedsgeschenk für Eadulf, auf einem verlassenen gallischen Handelsschiff befunden, in einem ganz anderen Teil der Welt, vor der Südwestküste von Irland? War Eadulf als Passagier auf diesem Schiff gewesen? Wenn Ja, wo war er jetzt? Wenn nicht, in wessen Besitz war das Buch zuletzt? Und warum sollte sich Ea-dulf von ihrem Geschenk getrennt haben?
Endlich, trotz der bohrenden Fragen in ihrem Kopf, wurde Fidelma vom Schlaf überwältigt.