Kapitel 16

Schwester Fidelma stöhnte laut auf, als sie der warmen, dunklen Höhle, in der sie sich so geborgen gefühlt hatte wie im Mutterleib, gewaltsam entrissen und in die grausame Kälte und das graue Dämmerlicht gestoßen wurde. Schwester Bronach beugte sich über sie und rüttelte sie an der Schulter.

»Ihr habt verschlafen, Schwester. Es ist schon spät.«

Fidelma blinzelte, ihr Herz schlug wie rasend. Es dauerte ein Weilchen, bevor sie wieder wußte, wo sie war. Dann erinnerte sie sich, wie sie, gerade als der Morgen dämmerte, zurück ins Gästehaus geschlüpft war. Sie hatte sich im Wald hinter der Abtei von den Gefährten verabschiedet, die aufbrachen, um ihre jeweiligen Aufgaben zu erfüllen, und war den Rest des Weges durch den bitterkalten, frühmorgendlichen Frost zu Fuß gegangen. Erschöpft hatte sie ihre Kleider abgelegt und war auf ihre Bettstatt gesunken. Das alles schien kaum eine Sekunde her zu sein, auch wenn seitdem in Wirklichkeit - nach dem Licht zu urteilen, das durch ihr Fenster drang - fast zwei Stunden vergangen waren.

Einen Augenblick lang erwog Fidelma, Schwester Bronach einfach zu sagen, daß sie weiterschlafen wolle. Vielleicht könnte sie behaupten, sie fühle sich nicht wohl? Aber Schwester Bronach beobachtete sie mit deutlichem Mißfallen, und schließlich sollte doch niemand Verdacht schöpfen, daß sie die ganze Nacht unterwegs gewesen war. Widerwillig kletterte sie aus dem warmen Bett. Es war schneidend kalt, und das Wasser in der Waschschüssel, die für ihre Morgentoilette bereitstand, war mit einer Eisschicht überzogen. Sie spürte Bronachs Blicke, während sie sich wusch.

»Ein junger Krieger wünscht Euch zu sprechen«, bemerkte die mißmutige Schwester schließlich mit vorwurfsvollem Unterton.

Fidelma fühlte, wie sich ihr Nackenhaar sträubte.

»Oh? Wißt Ihr, wer er ist?« fragte sie, drehte sich um und ergriff ihr Handtuch.

»Ja, ich kenne ihn. Es ist der junge Olcan, der Sohn des Häuptlings der Beara.«

Fidelma preßte automatisch die Kiefer aufeinander.

Unglaublich! War Olcan also bereits über Comnats und Eadulfs Flucht aus den Kupferminen informiert?

»Sagt ihm, ich werde ihn gleich empfangen«, bat sie und widmete sich wieder ihrer Morgentoilette. Schwester Bronach ging hinaus, und Fidelma rieb sich mit dem kaltem Wasser ab und wünschte nichts sehnlicher, als wieder in ihr warmes, gemütliches Bett zu kriechen. Sie widerstand der Versuchung und bemühte sich, so ausgeruht zu wirken, als hätte sie die ganze Nacht tief und fest geschlafen.

Zehn Minuten später traf sie Olcan in der duirthech.

Im Hintergrund der hölzernen Kapelle brannte ein Feuer im Kohlenbecken. Abgesehen von den Räumlichkeiten, zu denen nur die Mitglieder der Gemeinschaft Zutritt hatten, schien hier der einzige warme Ort zu sein, an dem Besucher Zuflucht vor Wind und Wetter suchen konnten.

»Einen wunderschönen guten Morgen, Schwester«, grüßte Olcan und erhob sich. Er wirkte ausgeruht und gutgelaunt. »Ich höre, Ihr habt verschlafen?«

Fidelma wünschte, Schwester Bronach hätte ihm das nicht so freimütig erzählt.

»Das Festessen bei Adnar gestern abend war sehr angenehm«, entgegnete sie. »So ausgezeichneten Wein und so leckere Speisen bekomme ich nicht alle Tage. Ich fürchte, ich habe den Köstlichkeiten allzu reichlich zugesprochen.«

»Ihr seid doch früh gegangen«, bemerkte Olcan.

Fidelma sah dem jungen Mann direkt in die Augen, um herauszufinden, ob in seinem Tonfall eine versteckte Anspielung lag.

»Vielleicht früh für Euch, aber nicht für eine Nonne«, antwortete sie. »Es war schon Mitternacht, als ich hier ankam.«

»Und jetzt ist es schon nach acht«, bemerkte Olcan, stand auf und reckte und streckte sich vor dem Kohlenbecken. Er trat an eines der Fenster, von dem man einen guten Ausblick über die Meerenge hatte. »Ich sehe, daß Ross mit seiner barc wieder losgesegelt ist. Er muß mit der Flut am frühen Morgen aufgebrochen sein.«

Trieb Olcan etwa ein heimtückisches Spiel mit ihr?

Fidelma hatte keine Ahnung, worauf seine Bemerkungen abzielten.

Sie trat neben ihn und ließ den Blick über die Bucht schweifen. Nur das gallische Handelsschiff mit seinen riesigen Masten ankerte dort auf dem ruhigen blauen Meer. Ross hatte unbemerkt abreisen können. Insgeheim seufzte sie erleichtert auf.

»Sieht ganz so aus«, erwiderte sie, als wüßte sie von nichts.

Olcan musterte sie prüfend.

»Ihr wußtet nicht, daß er wegfährt?« Die Frage kam unerwartet und in scharfem Ton.

»Ross pflegt mich nicht in seine Geschäfte einzuweihen. Ich weiß nur, daß er regelmäßig entlang der Küste Handel treibt. Wahrscheinlich kommt er bald wieder. Er hat einen Teil seiner Besatzung zurückgelassen, damit sie sich um das Schiff kümmern, das er auf See geborgen hat«, erklärte sie und deutete auf das Handelsschiff, »und außerdem soll er mich nach Ros Ailithir zurückbringen, sobald ich meine Untersuchung abgeschlossen habe.«

»Und ist die Untersuchung denn abgeschlossen?«

»Wie ich bereits gestern abend sagte, es gibt noch viel herauszufinden und zu bedenken.«

»Ach? Ich dachte, Ihr hättet gewisse Fortschritte gemacht.«

Es gelang Fidelma, ihn ganz verblüfft anzusehen.

»Gewisse Fortschritte? Seit gestern nacht? Leider hat niemand mich geweckt und mir von Fortschritten berichtet.«

»Ich meinte ...« Olcan zögerte und zuckte dann die Achseln. »Ach, nichts. Es war nur so eine Idee«, druckste er verlegen herum.

»Schwester Bronach sagte, Ihr wolltet mich sprechen.« Jetzt war Fidelma am Zuge. »Ich nehme an, es ging Euch dabei nicht nur darum, zu hören, ob ich gut geschlafen habe, und mir mitzuteilen, daß Ross abgereist ist?«

Ihr spöttischer Unterton verwirrte Olcan.

»Oh, Torcan und ich gehen heute auf die Jagd, und da haben wir uns gefragt, ob Ihr vielleicht mitkommen wollt. Bei unserer ersten Begegnung habt Ihr den Wunsch geäußert, die historischen Stätten unserer Halbinsel zu besichtigen, und wir kommen mit Sicherheit an einigen höchst interessanten Stellen vorbei.«

Fidelma bemühte sich, ernst zu bleiben, denn es war allzu offensichtlich, daß Olcan diese Ausrede gerade erst erfunden hatte.

»Vielen Dank, daß Ihr an mich gedacht habt, aber heute muß ich meine Nachforschungen hier fortsetzen.«

»Dann werde ich, mit Eurer Erlaubnis, Schwester, jetzt zu Torcan zurückkehren und aufbrechen. Ad-nars Jagdmeister hat auf dem Berg westlich von hier ein kleines Rudel Wild erspäht.«

Fidelma beobachtete den jungen Mann, der seinen Umhang enger um sich wickelte und die Kapelle verließ. Sie folgte ihm bis zur Tür und ließ ihn nicht aus den Augen, während er sich durch den Innenhof und zwischen den Häusern immer weiter entfernte. Kurz darauf sah sie ihn davonreiten. Er galoppierte durch den Wald auf Adnars Festung zu.

Für Fidelma lag der Zweck von Olcans Besuch klar auf der Hand.

Sie eilte zurück ins Gästehaus und suchte Schwester Bronach.

»Es tut mir leid, daß ich verschlafen habe«, rief sie ihr zu. »Ich war gestern abend bei Adnar zu einem Festessen. Ist es möglich, noch etwas Eßbares zu bekommen? Das Morgenmahl im Refektorium habe ich leider verpaßt.«

Bronach streifte sie mit einem neugierigen Blick.

»Das muß aber ein ausgiebiges Festessen gewesen sein«, bemerkte sie verschmitzt und ging auf den Aufenthaltsraum des Gästehauses zu. »Ich habe bereits ein Gedeck für Euch vorbereitet, Schwester, als ich sah, daß Ihr heute morgen nicht beim Morgenmahl wart.«

Fidelma sank dankbar auf einen Stuhl. Vor ihr standen Schüsseln mit hartgekochten Gänseeiern, Sauerteigbrot und Honig sowie ein kleiner Krug mit Met. Sie langte kräftig zu, doch plötzlich begriff sie die Bedeutung von Bronachs Bemerkung in ihrer vollen Tragweite und sah die Nonne mit dem bekümmerten Gesicht fragend an.

Schwester Bronach lächelte beinahe, als sie die unausgesprochene Frage beantwortete.

»Ich arbeite schon viel zu lange in diesem Gästehaus, um nicht über das Kommen und Gehen der Gäste Bescheid zu wissen.«

»Ich verstehe«, murmelte Fidelma nachdenklich.

»Wie dem auch sei«, fuhr die Pförtnerin der Abtei fort, »es steht mir in meiner Stellung nicht zu, mich bei den Gästen nach ihrer Zeiteinteilung zu erkundigen, solange sie den normalen Ablauf in unserer Gemeinschaft nicht stören.«

»Schwester Bronach, Ihr wißt, warum ich hier bin. Es ist von größter Bedeutung, daß sich meine Abwesenheit aus der Abtei nicht weiter herumspricht. Gebt Ihr mir Euer Wort darauf?«

Die doirseor der Abtei verzog hochmütig das Gesicht.

»Das habe ich doch schon gesagt.«

Nach dem Morgenmahl machte sich Fidelma auf den Weg zur Bibliothek. Unterwegs traf sie Äbtissin Draigen, die ihr Mißfallen schon bei der Begrüßung deutlich zum Ausdruck brachte.

»Ihr scheint der Lösung des Rätsels seit Eurer Ankunft hier keinen Schritt näher gekommen zu sein«, bemerkte sie mit unverhohlenem Spott.

Fidelma ging nicht darauf ein.

»Ganz im Gegenteil, Mutter Oberin«, erwiderte sie strahlend, »ich habe große Fortschritte gemacht.«

»Fortschritte? Während Ihr mit Euren Untersuchungen beschäftigt wart, ist ein weiteres Mordopfer zu beklagen - Schwester Siomha. Sind das Eure Fortschritte? Soweit ich es beurteilen kann, ist das eher ein Ausdruck Eurer Inkompetenz.«

»Was wißt Ihr über die Geschichte dieser Abtei?« fragte Fidelma unvermittelt und ignorierte Draigens Angriff.

Die Äbtissin schien etwas aus der Fassung gebracht.

»Was hat die Geschichte der Abtei mit Eurer Untersuchung zu tun?«

»Kennt Ihr die Geschichte?« wiederholte Fidelma, ohne auf die Gegenfrage einzugehen.

»Schwester Comnat könnte Euch viel mehr darüber erzählen, wenn sie hier wäre«, antwortete die Äbtissin. »Die Abtei wurde vor einhundert Jahren gegründet - von der heiligen Neciir, der Reinen.«

»Das weiß ich bereits. Aber wieso hat sie sie gerade an dieser Stelle errichtet?«

Äbtissin Draigen machte eine ausladende Geste: »Ist dieser Platz nicht ebenso schön wie jeder andere, um ein Kloster zu gründen und dem Neuen Glauben zu dienen?«

»O doch. Aber es wird erzählt, daß die Brunnen hier früher von heidnischen Priestern benutzt wurden.«

»Necht hat sie gesegnet und gereinigt.«

»Also wurde an diesem Ort tatsächlich dem alten Glauben gehuldigt, bevor ihn die Christen übernahmen?«

»Ja. Die Geschichte besagt, daß Necht hierherkam und mit Dedelchu, dem heidnischen Häuptling, der hier in den Höhlen lebte, über die Lehre Christi diskutierte.«

»Dedelchu?«

»So ist es überliefert.«

»Und warum nannte Necht die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen?«

»Ihr solltet eigentlich wissen, daß der Ausdruck >Der Lachs aus den Drei Quellen< eine Umschreibung für Christus ist.«

»Aber es gibt hier tatsächlich drei Quellen.«

»Richtig. Ein erfreulicher Zufall.«

»In heidnischer Zeit wurde behauptet, daß in einem der alten Brunnen tief unten ein Lachs der Weisheit lebe.«

Äbtissin Draigen zuckte die Achseln.

»Ich begreife wirklich nicht, warum Ihr Euch so für die alte Religion interessiert. Es ist doch allgemein bekannt, daß der >Lachs der Weisheit< ein sehr machtvolles Symbol des heidnischen Glaubens war. Vielleicht verehren wir deshalb Christus als Lachs aus den Drei Quellen: er ist sowohl Teil der Dreifaltigkeit als auch ein Quell der Weisheit. Aber das bringt uns doch sicher nicht weiter, wenn wir den Mörder finden wollen, der die Verbrechen hier in der Abtei begangen hat?«

Fidelmas Miene verriet nichts.

»Vielleicht doch. Vielen Dank, Mutter Oberin.«

Sie setzte ihren Weg zur Bibliothek fort, während die Äbtissin ihr verwundert nachschaute.

»Schwester Fidelma!«

Die Stimme klang leise, aber eindringlich. Zuerst konnte Fidelma sie nicht orten und wandte den Kopf, um nachzusehen, wer sie angesprochen hatte. Im Eingang zu dem steinernen Vorratsraum neben dem Turm stand eine schlanke Gestalt. Es war Schwester Lerben.

Fidelma trat auf sie zu.

»Guten Morgen, Schwester.«

Lerben bedeutete ihr, einzutreten, als wolle sie bei dem Gespräch nicht beobachtet werden. Fidelma runzelte die Stirn, leistete der dringlichen Aufforderung jedoch Folge. Im Lagerraum war Schwester Lerben damit beschäftigt gewesen, beim Schein einer Laterne Kräuter zu sortieren. Draußen war es zwar wolkig, aber hell, hier drinnen dagegen dunkel.

»Was kann ich für Euch tun, Schwester?«

»Gestern habt Ihr mir all diese Fragen gestellt ...« begann sie zögernd. Fidelma unternahm keinen Versuch, ihrem Redefluß nachzuhelfen. »Gestern habe ich ein paar Dinge über . über Febal gesagt, meinen Vater.«

Fidelma sah sie mit unverwandtem Blick an.

»Möchtet Ihr sie zurücknehmen?« fragte sie schließlich.

»Nein!«

Dieses eine Wort klang grausam und unbeherrscht.

»Na schön. Was dann?«

»Muß das in einem Bericht festgehalten werden? Äbtissin Draigen hat ... hat mir jetzt die Funktion einer ddlaigh erklärt. Sie sagt ... nun, ich möchte nicht, daß bekannt wird, nun ... was ich über den Bauern und meinen Vater gesagt habe.«

Offensichtlich hatte dieses Thema die Gefühle des Mädchens völlig durcheinandergebracht. Fidelma ließ sich erweichen und erwiderte nachsichtig: »Wenn es für die Aufklärung der Morde an Almu und Siomha nicht von Bedeutung ist, muß auch nichts davon bekannt werden.«

»Wenn es nicht von Bedeutung ist? Wie wollt Ihr das feststellen?«

»Sobald ich meine Nachforschungen abgeschlossen habe. Wo wir gerade davon sprechen - ich war neulich überrascht, Euch im Wald zu begegnen, als Ihr das Buch für Torcan zu Adnars Festung brachtet. Hattet Ihr keine Angst, Ihr könntet Febal begegnen?«

»Dem?« Ihre Stimme wurde wieder schärfer. »Nein. Ich habe keine Angst mehr vor ihm. Jetzt nicht mehr.«

»Woher kennt Ihr Torcan?«

»Ich habe ihn nie gesehen.«

Fidelma war verblüfft.

»Wieso habt Ihr dann dieses Buch, was war es noch gleich ...?«

Schwester Lerben zuckte die Achseln.

»Irgendeine alte Chronik, glaube ich, ich weiß es nicht genau. Ich habe Euch doch erzählt, daß ich im Lesen und Schreiben nicht sehr bewandert bin.«

»Ja, das habt Ihr erwähnt. Also hat Euch jemand das Buch gegeben, damit Ihr es zu Torcan bringt?«

»Ja.«

»Und wer? Ich dachte, nur die Bibliothekarin dürfte die Erlaubnis erteilen, ein Buch aus der Bibliothek zu verleihen.«

Schwester Lerben schüttelte den Kopf.

»Nein, auch die rechtaire ist dazu befugt.«

»Die rechtaire!« »Ja. Schwester Siomha gab mir das Buch und bat mich, es zu Adnars Festung zu bringen und Torcan zu übergeben.«

»Schwester Siomha! Am Nachmittag vor ihrem Tod?«

»Ich glaube schon.«

»Hat sie Euch erklärt, warum Torcan die Erlaubnis erhielt, das Buch auszuleihen, anstatt es sich hier in der Abtei anzusehen?«

»Nein. Sie trug mir lediglich auf, es zu ihm zu bringen und unverzüglich zurückzukommen. Das ist alles.«

Fidelma spürte eine schreckliche Enttäuschung. Jedes Mal, wenn sie hoffte, einen Punkt aufklären zu können, tauchten wieder neue Fragen auf, die sie verwirrten. Sie dankte Schwester Lerben, verließ den Vorratsraum und betrat den Turm.

Im Hauptraum der Bibliothek war es dunkel, und Fidelma hielt im Finstern vergeblich Ausschau nach einer Lampe.

Sie tastete sich zum Fuß der Treppe, die in den zweiten Stock hinaufführte. Plötzlich hörte sie ein Geräusch, als würde jemand über ihr einen Sack über den Boden schleifen.

Sie hielt einen Augenblick inne, schlich dann vorsichtig Stufe um Stufe hinauf und lauschte.

Da war das Schleifen wieder.

Jetzt lag der Fußboden in Augenhöhe, und Fidelma blickte sich um.

Jemand saß am Fenster und las, das Tageslicht nutzend, ein Buch.

Sie seufzte erleichtert auf.

Es war Berrach. Das Geräusch, das sie gehört hatte, war durch die Schritte der gehbehinderten Schwester entstanden.

»Guten Morgen, Schwester Berrach!« grüßte Fidelma und kletterte die letzten Stufen hinauf.

Die junge Nonne fuhr erschrocken zusammen und ließ das Buch, in das sie sich vertieft hatte, beinahe fallen.

»Ach, Ihr seid es, Schwester Fidelma.«

»Was macht Ihr denn hier?«

Berrach reckte abwehrend das Kinn.

»Ich habe Euch doch erzählt, daß ich gerne lese. Da Schwester Comnat und Schwester Almu noch nicht zurück sind und Schwester Siomha nicht da ist, um mir Vorschriften zu machen, muß ich nun nicht mehr mitten in der Nacht hier hinauf schleichen, wenn ich lesen will.«

Fidelma setzte sich neben Berrach.

»Auch ich bin hergekommen, um zu lesen, aber ich konnte unten keine Lampe finden.«

»Hier liegen Kerzen.« Berrach deutete auf einen Tisch. »Sucht Ihr ein bestimmtes Buch?«

»Ich wollte mir eines der Jahrbücher ansehen, die es hier geben soll. Und was lest Ihr gerade?« Fidelma beugte sich vor und warf einen Blick auf das Geschriebene.

»Eo na d Tri d Tobar ... Der Lachs aus den Drei Quellen!«

Fidelma war völlig perplex. Konnte das bloßer Zufall sein? »Was ist das für ein Text?« »Ein kurzer Bericht über das Leben von Necht, der Reinen, der Gründerin unserer Abtei«, antwortete Schwester Berrach.

»Wird darin auch ihr Streitgespräch mit Dedelchu, dem heidnischen Priester, erwähnt?«

Berrach starrte sie überrascht an.

»Ihr wißt wirklich eine Menge über diesen Ort. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und jetzt zum ersten Mal etwas darüber gelesen.«

»Man schnappt immer das eine oder andere auf, Berrach. Steht in dem Buch viel über Dedelchu? Ein merkwürdiger Name. Die letzte Silbe ist leicht zu übersetzen, sie bedeutet >Wachhund von< - der Wachhund von Dedel. Ich frage mich, wer oder was Dedel ursprünglich war? Die Bedeutung dieser alten Namen zu verstehen ist faszinierend, findet Ihr nicht auch?«

Berrach schüttelte den Kopf.

»Eigentlich nicht. Ich interessiere mich mehr für Geschichte, dafür, wie die Menschen früher lebten. Aber wir haben hier in der Bibliothek eine Kopie des Wörterbuchs von Longarad.«

»Tatsächlich? Und Ihr habt einige der Chroniken gelesen?«

Berrach bejahte.

»Ich habe in allen Jahrbüchern gelesen, die in der Bibliothek zu finden sind.«

»Kennt Ihr auch die Chroniken von Clonmacnoise?«

»Kennen? Ja. Schwester Comnat hat die Kopie selbst angefertigt. Sie verbrachte sechs Monate in der Abtei des heiligen Kieran und schrieb dort das Buch ab, natürlich mit Zustimmung des Abtes. Ihr findet es hier irgendwo im Regal.«

»Es ist nicht mehr hier. Es wurde verliehen, und zwar, wie Schwester Lerben behauptet, an Torcan, der gerade als Gast bei Adnar weilt.«

»Torcan, der Sohn von Eoganan von den Ui Fidgenti?« fragte Berrach verblüfft. »Was will denn der damit?«

»Genau das hoffte ich herauszufinden. Ich glaube, er interessierte sich vor allem für die Geschichte von Cormac Mac Art. Eine bestimmte Seite war besonders häufig aufgeschlagen worden, ein Abschnitt über Cormacs Tod. Wahrscheinlich wißt Ihr auch nicht mehr, was dort steht?«

Berrach runzelte nachdenklich die Stirn.

»Ich verfüge über ein gutes Erinnerungsvermögen und ein ausgezeichnetes Langzeitgedächtnis.« Sie überlegte eine Weile. »In dem Kapitel geht es darum, wie Cormac seinen Feind Fergus tötete und danach ein weiser und angesehener Oberkönig wurde. Dann ging es noch um das Handbuch, das er geschrieben hat, und ...« Sie überlegte einen Augenblick. »Ach Ja. Dann ist da von einem goldenen Kalb die Rede, das in Tara aufgestellt wurde. Man erklärte es zu einem Gegenstand kultischer Verehrung, zu einer Gottheit, die alle anzubeten hatten. Die Priester dieses Kultes forderten Cormac auf, dem goldenen Idol zu huldigen, er aber weigerte sich und erklärte, er würde lieber dem Goldschmied huldigen, der dieses herrliche Bildnis geschaffen hatte. In dem Kapitel heißt es weiter, der oberste Priester des Kultes habe es so eingefädelt, daß dem Oberkönig bei einem Essen die Gräten eines Lachses im Halse steckenblieben, so daß er daran starb.«

Fidelma war fasziniert von der mühelosen Leichtigkeit, mit der sich Berrach an den Abschnitt erinnerte.

»Wißt Ihr noch mehr über die Geschichte?«

Die junge Nonne schüttelte den Kopf.

»Nur noch, daß ich sie eher symbolisch verstanden habe. Ich meine die Geschichte von dem heidnischen Priester, dem es gelungen ist, Cormac durch drei Lachsgräten zu töten.«

»Drei Lachsgräten?« hakte Fidelma nach. »Welche symbolische Bedeutung seht Ihr darin?«

»Meiner Meinung nach war das ein Hinweis auf die Identität des Priesters. Cormac ist wahrscheinlich ermordet worden, denn schließlich kann niemand bewirken, daß jemandem drei Fischgräten im Halse steckenbleiben - es sei denn, man glaubt an Schwarze Magie.« Berrach lächelte schelmisch. »Ich denke, Ihr habt unsere Gemeinschaft davon überzeugt, daß Dinge wie Zauberei und Magie nicht existieren.«

»Was weiß man noch über den Kult um das goldene Kalb?«

»Nicht viel. Der Abschnitt in den Chroniken von Clonmacnoise ist, soviel ich weiß, der einzige Hinweis auf die Erschaffung und Verehrung dieses Idols. Ich habe schon viele Jahrbücher gelesen, aber der Kult um das goldene Kalb wird sonst nirgendwo erwähnt.

Warum eigentlich nicht?« fügte sie nachdenklich hinzu, »denn falls es dieses sagenhafte Götzenbild wirklich gab, muß es doch ein Vermögen wert gewesen sein.«

Von der Treppe kam ein leises Schlurfen. Es war kaum hörbar, doch Fidelma bemerkte es, wirbelte herum und bedeutete Schwester Berrach zu schweigen. Sie wollte gerade zur Treppe hinüberschleichen, als dort Kopf und Schultern von Schwester Bronach auftauchten. Selbst im Halbdunkel konnte Fidelma erkennen, daß sie verlegen wirkte.

»Verzeiht, wenn ich Euch störe. Ich bin auf dem Weg nach oben, zur Klepsydra.«

Fidelma spürte, daß das eine soeben erfundene Ausrede war, doch Schwester Berrach schien nichts Ungewöhnliches daran zu finden und lächelte Bronach freundlich zu, während diese ins nächste Stockwerk hinaufstieg. Fidelma nahm ihr Gespräch mit Berrach wieder auf.

»Wenn ich mich recht erinnere, starb König Cor-mac vor fast vierhundert Jahren, nicht wahr?«

»Richtig.«

»Fällt Euch sonst noch etwas zu Cormac und dem goldenen Kalb ein?«

Schwester Berrach schüttelte den Kopf.

»Nein, aber ich weiß, daß Schwester Comnat erst vor kurzem einem Bettler eine Kopie von Cormacs Handbuch abgekauft hat. Das Buch heißt Teagasg Ri, Instruktionen des Königs. Ein alter Mann, der oben in den Bergen wohnte, kam eines Tages in die Abtei und erzählte Comnat, seine Familie habe das Buch seit vie-len Jahren aufbewahrt, doch er müsse es nun gegen Lebensmittel eintauschen. Ich kam gerade vorbei und hörte ihre Unterhaltung. Wenn Ihr Euch für Cormac interessiert, solltet Ihr es lesen. Es steht in der Bibliothek.«

Fidelma sagte nicht, daß sie das bereits wußte und daß sie sogar schon darin geblättert und, wie sie sich erinnerte, Spuren von rotem Schlamm entdeckt hatte.

»Wann hat dieser Tausch stattgefunden?«

»Das ist noch nicht lange her - vielleicht eine Woche, bevor Schwester Comnat und Schwester Almu nach Ard Fhearta aufbrachen.«

Fidelma erhob sich, nahm eine Kerze und zündete sie an.

»Vielen Dank, Schwester Berrach. Ich gehe das Buch suchen. Ihr wart mir eine große Hilfe.«

Cormacs Buch der Instruktionen, Teagasg Ri, hing in seiner Büchertasche an einem Haken. Sie nahm es heraus und schaute sich nach einer Sitzgelegenheit um. Nachdem sie die Kerze auf einem Sims abgestellt hatte, schlug sie es auf und blätterte die Pergamentseiten durch. Wieder fielen ihr überall die merkwürdigen rotbraunen Schmutzflecken auf, aber irgend etwas an dem Buch war anders als beim letzten Mal. Sie wünschte, sie hätte es damals aufmerksamer untersucht. Dann sah sie, daß zwei Seiten fehlten. Offensichtlich waren sie erst vor kurzem mit einer scharfen Klinge herausgetrennt worden, wahrscheinlich mit einem Messer, denn die nächste Seite war entlang der Trennlinie eingeritzt.

Warum hatte man die Seiten entfernt?

Sorgfältig studierte sie den Text.

Der Abschnitt hatte nichts mit dem Hauptteil des Buches zu tun, in dem es um die philosophischen Ideen von König Cormac ging. Es handelte sich um einen Anhang, einen Aufsatz über das Leben des Oberkönigs. Aus dem Text vor und hinter den fehlenden Blättern konnte sie nichts entnehmen. Sie schlug die erste Seite auf, um noch etwas anderes nachzusehen.

Das Buch war alt, doch von primitiver Machart und mit Sicherheit nicht von einem ausgebildeten Schreiber geschrieben. Beim Hauptteil des Buches handelte es sich, wie zu erwarten war, eindeutig um eine Kopie, aber Cormacs Kurzbiographie war ihr neu und schien von einem Historiker aus dieser Gegend verfaßt worden zu sein. Fidelma wünschte, Schwester Comnat wäre bei Bruder Eadulf auf dem gallischen Schiff geblieben. Sie hätte ihr bestimmt etwas über die fehlenden Seiten sagen können.

Eadulf! Plötzlich bemerkte sie, daß sie nicht mehr an ihn gedacht hatte, seit sie heute in aller Frühe todmüde auf ihr Bett gesunken war. Sie freute sich, daß er am Leben war, in Sicherheit und wohlauf, doch gleich darauf, als sie sich an die Befreiungsaktion in der vergangenen Nacht erinnerte, spürte sie deutlich ihre Erschöpfung. Sie mußte sich hinlegen - wenigstens kurz.

Sie stand auf, steckte das Buch in die lederne Büchertasche zurück und gähnte. Ihr Kiefer knackte widerspenstig, und sie betastete mit der Hand die empfindliche Stelle. Dann nahm sie die Kerze und wollte sie gerade ausblasen, da fiel ihr das Wort »Dedel« wieder ein, und sie sah in Longarads Wörterbuch nach. Seine Bedeutung überraschte sie nicht.

Dann kam ihr noch ein Gedanke.

Fidelma unterdrückte erneut ein Gähnen, ergriff die Kerze, hielt ihre Hand schützend vor die Flamme und verließ die Bibliothek. Unten ging sie zur Treppe in der Ecke und stieg hinunter. Auf halbem Wege sah sie, daß das Blut an der Wand getrocknet war. Es stammte -daran zweifelte sie keinen Augenblick - von Siomha. War die Schwester unten im subterraneus getötet und dann nach oben in den Turm gebracht worden, oder hatte man sie oben ermordet und ihren Kopf hinuntergetragen ...?

Sie stieg weiter in die Tiefe und blieb erneut stehen. Da war er, der gewölbte Eingang mit den Einritzungen darüber. Sie reichte hinauf und ließ ihren Finger über die Umrisse der primitiven Tierzeichnung gleiten. Dann seufzte sie.

»Dedelchu!« flüsterte sie zu sich selbst. »Der Wachhund von Dedel.«

Sie trat durch den Eingang in die Höhle mit der gewölbten Decke und nahm sie im flackernden Licht der Laterne gründlich in Augenschein.

Dort, wo die Leiche gelegen hatte, standen jetzt keine vier Kerzen mehr. Den flachen, länglichen Felsen benutzten die Schwestern offenbar als Tisch. Fidelma begann, die Höhlenwände abzuschreiten und so sorgfältig zu untersuchen, wie es ihr in dem schwachen, flackernden Licht nur irgend möglich war. Es gab nicht viel zu entdecken. Außer den großen Kisten, die an einer Seite des Raumes übereinandergestapelt standen, und der Reihe von amphorae und anderen Behältern, die nach Wem und Alkohol rochen, war die Höhle vollkommen leer.

Fidelmas eingehende Untersuchung brachte nichts weiter zutage, als daß es sich um eine ziemlich große Höhle handelte, die nur über zwei Treppen zu erreichen war: die eine führte aus dem gemauerten Vorratsraum hinunter, die andere direkt aus dem Turm. Sie starrte enttäuscht ins Dunkel. Als sie gerade gehen wollte, hörte sie plötzlich ein Geräusch, das sie so heftig zusammenfahren ließ, daß ihr die Kerze fast aus der Hand gefallen wäre.

Es war ein dumpfes Dröhnen - als würden zwei Holzboote aneinanderstoßen -, und es schien aus der Richtung genau hinter ihr zu kommen. Doch hinter ihr war nichts - nur massiver grauer Fels, Höhlenwände aus Stein. Sie drehte sich um, und ihre Gedanken überschlugen sich, während sie die Felswand musterte und nach einem Anhaltspunkt suchte. Da war es wieder, das dumpfe Dröhnen, als stießen zwei Boote gegeneinander. Sie legte eine Hand auf den kalten, feuchten Stein und wartete. Doch alles blieb still.

Fidelma wollte sich gerade umdrehen, da sah sie auf dem felsigen Boden einen dunklen Fleck. Sie bückte sich. Es war Erde. Noch feucht und klebrig. Und rotbraun. Die schlammige Erde war unregelmäßig verteilt, als wäre jemand hineingetreten und dann weiter durch die Höhle gestapft. Der einzig möglichen Logik gehorchend, folgte sie der Spur vom Eingang aus und gelangte so zu den hölzernen Kisten, die vor der Höhlenwand aufgestapelt waren.

Sie stellte die Kerze ab und versuchte, die oberste Kiste beiseitezuschieben, hatte jedoch nicht die Kraft dazu. Da hörte sie erneut das dumpfe, dröhnende Geräusch, das durch die Kisten zu dringen schien. Dann war es wieder still.

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