Kapitel 12

Fidelma hatte die Längsseite der barc schon erreicht, bevor Ross’ Besatzungsmitglieder mit dem Niederholen der Segel fertig waren. Das Boot, das sie am Anlagesteg der Abtei genommen hatte, war förmlich über das Wasser geflogen, so hatte sie sich in die Riemen gelegt, und war, ehe sie sich versah, mit dem Bug gegen die Seitenwand der Foracha gestoßen. Man half ihr, an Bord zu klettern, während ein Matrose ihr Boot mit einem Seil festmachte.

Ross begrüßte sie mit einem Lächeln.

»Was gibt’s Neues?« fragte Fidelma atemlos, noch bevor sie seine Begrüßung erwidert hatte.

Ross deutete auf seine Kajüte im Achterschiff.

»Laßt uns hineingehen und in Ruhe reden«, sagte er, während sein Gesichtsausdruck ernst wurde.

Fidelma mußte ihre Neugier zügeln, bis sie in der Kajüte Platz genommen und Ross ihr ein irdenes Trinkgefäß mit cuirm angeboten hatte, das sie jedoch ablehnte. Er selbst goß sich einen Becher voll und nippte bedächtig daran.

»Was gibt’s Neues?« drängte sie.

»Ich habe die Stelle gefunden, an der das gallische Handelsschiff vor drei Nächten lag.«

»Gibt es irgendeine Spur von Ead ... der Besatzung oder den Passagieren?« wollte Fidelma wissen.

»Ich muß Euch alles der Reihe nach erzählen, Schwester. Aber Spuren gab es von niemandem.«

Fidelma war ihre Enttäuschung deutlich anzusehen.

»Also erzählt mir die Geschichte, Ross. Wie habt Ihr das, was Ihr wißt, in Erfahrung gebracht?«

»Wie ich schon sagte, bevor ich von hier losfuhr: nach den Strömungen und Winden zu urteilen, gab es zwei mögliche Stellen, von wo das gallische Schiff gekommen sein konnte. Die erste lag an der Landzunge im Südosten, die man Schafskopf nennt. Dorthin segelte ich zuerst. Wir umrundeten sie, konnten jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Fischer berichteten uns, sie hätten ihre Netze die ganze Woche über dort ausgeworfen und nichts gesehen. Also beschloß ich, zu der zweiten möglichen Stelle zu fahren.«

»Die wo lag?«

»An der Spitze dieser Halbinsel.«

»Erzählt weiter.«

»Vor der Spitze der Halbinsel erstreckt sich ein langgezogenes Eiland, das man Doirse nennt, was, wie Ihr sicher wißt, >Die Tore< bedeutet, denn in gewisser Weise bildet es das südwestliche Tor zu unserem Land. Wir umsegelten diese Insel, konnten jedoch erneut nichts Ungewöhnliches feststellen. Ich treibe hin und wieder mit den Inselbewohnern Handel, also dachte ich, ich laufe dort in den Hafen ein und sehe mal, welchen Klatsch und Tratsch ich aufschnappen kann. Wir gingen an Land, und ich bat meine Männer, die Ohren zu spitzen, sobald sie etwas über das gallische Schiff hörten. Wir brauchten nicht lange zu suchen.«

Er hielt inne und trank einen Schluck.

»Was habt Ihr erfahren?« bestürmte ihn Fidelma.

»Das gallische Schiff hatte dort im Hafen festgemacht. Aber was man uns erzählte, klang äußerst merkwürdig: an dem Abend, bevor uns das Schiff auf hoher See begegnete, war es von fremden Kriegern in den Inselhafen gesteuert worden.«

»Von fremden Kriegern? Galliern?«

Ross schüttelte den Kopf.

»Nein. Von Kriegern vom Stamm der Ui Fidgenti.«

Fidelma ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken.

»Sie hatten aber einen gallischen Gefangenen bei sich.«

»Nur einen einzelnen gallischen Gefangenen? Und keine Spur von einem sächsischen Mönch?« Fidelma war zutiefst enttäuscht.

»Nein. Der Gefangene war offenbar ein Seemann. Gastfreundlich, wie sie sind, luden die Inselbewohner die Krieger an Land ein, denn sie schienen keinerlei

Vorräte an Bord zu haben. Ein Wachposten wurde bei dem Gefangenen auf dem Schiff zurückgelassen. Am nächsten Morgen stellten die Leute fest, daß das Schiff verschwunden war - offenbar einfach davongesegelt, während die Fremden, dank der Gastfreundschaft der Inselbewohner, ihren Rausch ausschliefen. Der Krieger, der als Wache an Bord geblieben war, wurde im Hafen angeschwemmt - tot.«

»Welche Schlüsse zogen sie daraus?«

»Daß der gallische Gefangene sich irgendwie befreit, den Wachposten überwältigt und über Bord geworfen hatte und mit dem Schiff aus dem Hafen gesegelt war.«

»Ein einzelner Mann? Mit einem so großen Schiff? Ist das denn möglich?«

Ross zuckte die Achseln.

»Wenn er erfahren und entschlossen genug war, Ja.«

»Was dann?«

»Die Krieger waren wütend und beschlagnahmten mehrere Schiffe der Inselbewohner, um über die Meerenge zum Festland zu gelangen.«

Fidelma dachte über das Gehörte nach.

»Wirklich eine merkwürdige Geschichte. Das gallische Handelsschiff wird von einem Trupp Krieger von den Ui Fidgenti in den Hafen von Doirse gesegelt, mit einem einzelnen gallischen Matrosen als Gefangenen. Das Schiff wird vertäut. Am Morgen ist es, zusammen mit dem gallischen Matrosen, verschwunden. Die Krieger setzen wieder auf die Halbinsel über. Am gleichen Morgen, etwa gegen Mittag, begegnen wir dem Schiff, das unter vollen Segeln fährt - ohne einen Mann an Bord.«

»Das ist die Geschichte - so merkwürdig sie auch klingt.«

»Kann man denn den Dingen, die Ihr auf der Insel aufgeschnappt habt - Doirse, wie Ihr sie nennt -, auch trauen?«

»Den Leuten auf jeden Fall«, versicherte Ross. »Ich treibe schon seit Jahren Handel mit ihnen. Sie sind ein unabhängiges Völkchen und betrachten sich nicht als Untertanen von Gulban, dem Falkenauge - auch wenn es sich genau genommen um sein Gebiet handelt -, sondern fühlen sich in erster Linie ihrem bo-aire verpflichtet. Ihnen liegt also nichts daran, die Geheimnisse der Festlandbewohner zu wahren.«

»Wißt Ihr, ob die Krieger der Ui Fidgenti dem dortigen bo-aire irgendeine Erklärung gaben, was sie mit dem gallischen Schiff vorhatten?«

»Es war die Rede davon, daß es Waren zu den Minen auf dem Festland brachte.«

Fidelma hob ruckartig den Kopf.

»Minen? Sind zufällig Kupferminen gemeint?«

Ross betrachtete sie eindringlich, bevor er nickte.

»Gegenüber von Doirse gibt es auf dem Festland in der nächsten Bucht mehrere Minen, in denen Kupfer abgebaut wird. Sie treiben nicht nur entlang der Küste Handel, sondern auch mit Gallien.«

Fidelma trommelte mit den Fingern auf den Tisch und runzelte die Stirn, während sie nachdachte.

»Erinnert Ihr Euch an den roten, lehmartigen Schlamm im Laderaum des gallischen Schiffes?« fragte sie.

Ross nickte.

»Ich glaube, er stammte aus einer Kupfermine oder einem Kupferlager. Vielleicht finden wir dort die Lösung des Rätsels. Dennoch begreife ich nicht, warum Männer der Ui Fidgenti das Schiff segelten. Ihr Stammesgebiet liegt doch viel weiter nördlich von hier. Wo waren die Männer von Beara, von Gulbans Stamm?«

»Ich könnte zurückfahren und mich bemühen, noch mehr herauszufinden«, erbot sich Ross. »Oder ich könnte zu den Minen segeln, so tun, als suchte ich Handelsware, und mich dort umsehen.«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Zu gefährlich. Wir haben es hier mit einem Geheimnis zu tun, das noch dadurch verzwickter wird, daß Torcan, der Sohn des Prinzen der Ui Fidgenti, als Gast auf Adnars Festung weilt.«

Ross’ Augen weiteten sich.

»Und da besteht auf jeden Fall ein Zusammenhang?«

»Aber ein Zusammenhang womit? Ich glaube, dieses Geheimnis birgt viele Gefahren. Wenn Ihr zurücksegelt, könntet Ihr Verdacht erregen. Wir sollten niemanden unnötig auf uns aufmerksam machen. Zuerst müssen wir herausfinden, womit wir es überhaupt zu tun haben. Wie weit sind die Kupferminen von hier entfernt?«

»Etwa zwei bis drei Stunden mit dem Schiff, wenn man sich nah an der Küste hält.«

»Und wenn man einfach die Halbinsel überquert? Wie viele Meilen sind es dann?«

»Wie viele Meilen ein Vogel fliegen würde? Fünf. Wenn man sich einen Weg über die Berge sucht, höchstens zehn.«

Fidelma schwieg und überlegte.

»Was sollen wir tun?« drängte Ross.

Fidelma hob den Kopf. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß sie sich die Minen genauer ansehen sollte.

»Heute Nacht, im Schutz der Dunkelheit, reiten wir über die Halbinsel zu den Kupferminen. Ich habe das Gefühl, daß wir dort der Lösung ein ganzes Stück näher kommen könnten.«

»Warum reiten wir nicht jetzt? Auf einem der Gehöfte weiter unten an der Küste könnte ich problemlos Pferde kaufen.«

»Nein, wir warten bis Mitternacht, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil wir nicht wollen, daß jemand von unserem Ausflug zu den Minen erfährt. Falls Torcan oder Adnar in ungesetzliche Angelegenheiten verstrickt sind, wollen wir sie doch nicht auf unser Vorhaben aufmerksam machen. Zweitens habe ich für heute abend eine Einladung zu einem Festessen in Dun Boi angenommen, mit Adnar und seinen Gästen, Torcan und Olcan. Vielleicht erweist sich das als durchaus vorteilhaft - wer weiß, was ich dort zu hören bekomme.«

Ross war alles andere als begeistert.

»Die Sache mit den Ui Fidgenti gefällt mir gar nicht, Schwester. Schon seit Wochen kursieren Gerüchte entlang der Küste. Man sagt, Eoganan von den Ui Fidgenti habe ein Auge auf Cashel geworfen.«

Fidelma lächelte matt.

»Ist das alles? Die Ui Fidgenti haben schon immer nach dem Königsthron in Cashel geschielt. Haben sie sich nicht vor fünfundzwanzig Jahren gegen Cashel erhoben, als Aed Slane dort Oberkönig war?«

Die Ui Fidgenti waren ein großer Stamm im Westen des Königreichs Muman, dessen Prinzen und Häuptlinge es vorzogen, sich Könige zu nennen, und die behaupteten, sie seien die wahren Nachkommen der ersten Könige von Cashel und hätten ältere Ansprüche auf den Thron als Fidelmas Familie. Bei Fidelmas Geburt war ihr Vater König von Cashel gewesen, und jetzt saß ihr Bruder Colgu als Nachfolger seines Cousins auf dem Thron des Unterkönigs von Muman und war als solcher einzig und allein dem Oberkönig gegenüber verantwortlich. Fidelma war seit ihrer Kindheit mit den Behauptungen der Ui Fid-genti vertraut. Sie setzten alles daran, ihrer Familie das Königtum von Cashel streitig zu machen, und keiner hatte seine angeblichen Ansprüche bisher lautstarker vertreten als der gegenwärtige Prinz, Eoganan.

Ross runzelte mißbilligend die Stirn.

»Was Ihr sagt, ist richtig, Schwester. Doch Euer Bruder sitzt erst seit wenigen Monaten auf dem Thron. Er ist jung und unerfahren. Falls Eoganan von den Ui Fidgenti versuchen wollte, Colgu zu stürzen, so wäre jetzt der günstigste Zeitpunkt.«

»Was soll er denn versuchen? Die große Versammlung in Cashel hat meinen Bruder in seinem Amt bestätigt, und der Oberkönig hat von Tara aus diese Entscheidung gebilligt.«

»Wer weiß, was Eoganan plant? Überall an der Küste kursieren Gerüchte, daß sich etwas zusammenbraut.«

Fidelma dachte gründlich über die Lage nach.

»Um so mehr Grund für mich, an dem Festessen heute abend teilzunehmen, denn vielleicht verrät Tor-can mir etwas über die Pläne seines Vaters.«

»Ihr bringt Euch damit höchstens in Gefahr«, warnte Ross. »Torcan wird zweifellos herausfinden, wer Ihr seid ...«

»Daß ich die Schwester von Colgu bin? Wir sind uns gestern im Wald begegnet. Er weiß es bereits.«

Sie hielt inne, runzelte die Stirn und dachte an den Pfeil, der ihrem Leben beinahe ein Ende gesetzt hätte. Könnte Torcan diesen Pfeil absichtlich auf sie abgeschossen haben, wohl wissend, daß sie Colgus Schwester war? Aber warum sollte er ihr nach dem Leben trachten? Sie hatte mit der Thronfolge in Cashel nichts zu tun. Nein, darin lag keinerlei Logik. Außerdem hatten sowohl Torcan als auch seine Männer überrascht reagiert, als sie erfuhren, wer sie war, und sich bemüht, ihren Fehler zu bemänteln. Falls Torcan den Pfeil doch mit Absicht abgeschossen hatte, dann hatte er jedenfalls nicht ihr gegolten. Es wäre ein leichtes für ihn gewesen, Fidelma im Wald zu töten.

Ross musterte prüfend ihren Gesichtsausdruck.

»Ist bereits irgend etwas vorgefallen?« fragte er instinktiv.

»Nein«, log sie schnell. »Zumindest«, korrigierte sie sich, nachdem sie plötzlich Schuldgefühle verspürte, »nichts, was unseren Plan ändern könnte. Um Mitternacht, nach dem Festessen in Dun Boi, treffe ich mich mit Euch und einem Eurer Männer im Wald hinter der Abtei. Beschafft drei Pferde, ohne dabei Verdacht zu erregen.«

»Wie Ihr wünscht. Ich nehme Odar mit, er ist genau der Richtige für unser Vorhaben. Aber wenn Tor-can auch an dem Festessen teilnimmt, wäre es mir lieber, Ihr würdet nicht hingehen.«

»Einer Beamtin der irischen Gerichtsbarkeit wird niemand ein Leid zufügen - das würden weder König noch Bürger wagen«, verkündete Fidelma zuversichtlich, doch noch während sie die Worte aussprach, wünschte sie, sie könnte wahrhaftig daran glauben.

Fidelma erhob sich, und Ross folgte ihr hinaus aufs Deck. Es lag auf der Hand, daß er ihren Plan nicht vorbehaltlos billigte, doch in Ermangelung einer besseren Idee willigte er ein.

Sie wollte gerade an der Außenseite des Schiffes hinunterklettern, als er fragte: »Wie geht es eigentlich mit dem Fall voran, dessentwegen Ihr gekommen seid?« Er deutete mit dem Daumen zur Abtei hinüber. Der ursprüngliche Grund, der Fidelma hierhergeführt hatte, war fast in Vergessenheit geraten. »Habt Ihr das Rätsel inzwischen gelöst?«

Fidelma fühlte sich schuldig, weil sie nach Ross’ Rückkehr und aufgrund seiner Neuigkeiten kaum noch einen Gedanken an das Geheimnis des Leichnams ohne Kopf und an Schwester Siomhas Ermordung verschwendet hatte.

»Noch nicht.« Mit betretener Miene fügte sie hinzu: »In der Abtei ist noch ein weiterer Mord geschehen. Wir fanden die rechtaire, Schwester Siomha, auf die gleiche Weise getötet wie die Unbekannte. Ich glaube jedoch, daß sich der Schleier des Geheimnisses zu lüften beginnt. Es gibt viel Böses in der Abtei.«

»Falls Ihr je in Gefahr geraten solltet ...«. Ross zögerte verlegen. »Ihr könnt mich und jeden meiner Männer jederzeit um Hilfe bitten. Vielleicht wäre es besser für Euch, von jetzt an einen Leibwächter bei Euch zu haben.«

»Um das Wild darauf aufmerksam zu machen, daß die Jäger ihm bereits dicht auf den Fersen sind?«

Schwester Fidelma schüttelte den Kopf, legte ihre Hand auf den Arm des besorgten Seemanns und lächelte.

»Wartet mit Odar und den drei Pferden um Mitternacht im Wald und achtet darauf, daß Euch niemand sieht.«

Man sagte Fidelma, daß sie Schwester Bronach in Ber-rachs Zelle antreffen könne. Sie schritt gerade über den Innenhof auf das Wohnhaus zu, als Bronach mit bedrückter Miene aus dem Eingang trat. Dort zögerte sie und wäre der ddlaigh anscheinend lieber aus dem Weg gegangen, doch Fidelma lief auf sie zu.

»Wie geht es Schwester Berrach?«

Bronach zögerte.

»Im Augenblick schläft sie. Sie hat eine anstrengende Nacht und einen unerfreulichen Morgen hinter sich.«

»Das hat sie allerdings«, stimmte Fidelma zu. »Sie kann sich glücklich schätzen, jemanden wie Euch zur Freundin zu haben. Wollt Ihr mich ein Stück begleiten, Schwester?«

Widerwillig schloß sich Schwester Bronach Fidelma an und schritt langsam neben ihr über den gepflasterten Hof zum Gästehaus hinüber.

»Was wollt Ihr von mir, Schwester?«

»Antworten auf einige Fragen.«

»Ich stehe Euch stets zur Verfügung. Leider hatte ich noch keine Gelegenheit, Euch für das zu danken, was Ihr für Schwester Berrach getan habt.«

»Warum solltet Ihr mir danken?«

Schwester Bronach machte ein abwehrendes Gesicht.

»Ist es denn falsch, jemandem dafür zu danken, daß er einer Freundin das Leben gerettet hat?«

»Ich habe nur getan, was recht war und was jeder gläubige Christ tun sollte. Obwohl einige der Schwestern hier sich offenbar allzu leicht durch Gefühle davon abbringen lassen.«

»Durch Äbtissin Draigen, meint Ihr?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Nichtsdestotrotz«, fuhr Schwester Bronach im Brustton der Überzeugung fort, »habt Ihr genau das gemeint. Euch ist sicher nicht entgangen, daß alle Schwestern hier sehr jung sind? Schwester Comnat, unsere Bibliothekarin, und ich sind die Ältesten. Sonst ist hier keine einzige, außer der Äbtissin, älter als einundzwanzig.«

»Ja, mir ist aufgefallen, wie jung die Schwestern in dieser Abtei sind«, bestätigte Fidelma. »Das finde ich höchst merkwürdig, denn die Idee einer Gemeinschaft ist es Ja gerade, daß die Jungen von der Erfahrung und dem Wissen der Älteren profitieren.«

In Schwester Bronachs Stimme lag ein bitterer Unterton.

»Es gibt einen Grund dafür. Die Äbtissin umgibt sich nicht gerne mit Leuten, die ihre Autorität in Frage stellen könnten. Junge Menschen kann sie manipulieren, aber wir Älteren sind in der Lage, ihre Irrtümer zu erkennen, und wissen häufig weitaus mehr als sie. Sie kann einfach nicht vergessen, daß sie eine arme, ungebildete Bauerntochter war, bevor sie hierherkam.«

»Also mißbilligt Ihr die Äbtissin?«

Schwester Bronach blieb vor dem Eingang zum Gästehaus stehen und blickte sich ängstlich um, als wolle sie sichergehen, daß sie unbeobachtet waren. Dann deutete sie zur Tür.

»Wir gehen besser rein, um zu reden.«

Sie führte Fidelma den Korridor entlang zu einer kleinen Kammer, von wo aus sie ihre Aufgaben als Pförtnerin und Leiterin des Gästehauses erledigte.

»Nehmt Platz, Schwester«, sagte sie und setzte sich auf einen der beiden Holzstühle, die in dem winzigen Raum standen. »Nun, was war noch mal Eure Frage?«

Fidelma ließ sich auf dem anderen Stuhl nieder.

»Ich habe gefragt, ob Ihr Äbtissin Draigen mißbilligt, weil sie eine so junge, unerfahrene Gemeinschaft um sich versammelt? Zweifellos hat sie die Jugend und Unerfahrenheit von Schwester Lerben mißbraucht, um Berrach zu bedrohen. Mißbilligt Ihr Draigens Haltung gegenüber Berrach?«

Schwester Bronach verzog das Gesicht und brachte ihren Widerwillen deutlich zum Ausdruck.

»Jeder vernünftige Mensch würde ein Vorgehen, wie es die Äbtissin vorschlug, verurteilen, auch wenn ich bereit bin einzuräumen, daß es nicht allein Äbtissin Draigens Schuld war.«

»Nicht ihre Schuld?«

»Ich kann mir vorstellen, daß Schwester Lerben auch etwas damit zu tun hat.«

Fidelma war verdutzt.

»Nach meinem Verständnis stand Schwester Ler-ben völlig unter dem Einfluß von Draigen. Sie ist zu jung und war in diesem Spiel nur eine Marionette. Jemand hat mir erzählt, daß eine enge Beziehung zwischen der Äbtissin und Lerben besteht und daß Lerben - vergebt mir meine Offenheit, Schwester - manchmal das Bett mit der Äbtissin teilt. Dieselbe Person sagte mir, daß Ihr das bestätigen könnt.«

Die sonst so verdrossene Nonne begann zu lachen. Fidelma, die in Bronachs ernstem Gesicht noch nie eine Spur von Fröhlichkeit entdeckt hatte, erlebte nun einen Ausbruch echter Heiterkeit.

»Das weiß doch jeder, daß Schwester Lerben das Bett mit der Äbtissin teilt! Ihr seid schon seit zwei Tagen hier und habt noch nicht mitbekommen, daß Lerben Draigens Tochter ist?«

Fidelma war wie vom Donner gerührt.

»Und ich dachte, Lerben ...«, stieß Fidelma überrascht hervor, biß sich dann jedoch auf die Lippen.

Schwester Bronach lächelte belustigt vor sich hin. Ihr trauriges Gesicht wirkte völlig verwandelt, beinahe jung.

»Ihr dachtet, Lerben sei ihre Geliebte? Na, da hat man Euch Ja schlimme Geschichten erzählt.«

Fidelma war sichtlich bemüht, die Neuigkeit zu verdauen.

»War Schwester Siomha jemals die Geliebte von Draigen?«

»Nicht daß ich wüßte. Und soweit ich das beurteilen kann, gehört Draigen ohnehin nicht zu den Frauen, die sich für derlei fleischliche Beziehungen interessieren. Äbtissin Draigen ist äußerst launisch, oder besser: unberechenbar. Eine Menschenfeindin, eine Frau, die den Männern mißtraut und ihnen lieber aus dem Weg geht. Sie umgibt sich hier mit jungen Frauen, weil sie ihnen intellektuell überlegen ist, doch das hat nicht zwangsläufig etwas mit sexuellen Beziehungen zu tun.«

Fidelmas Gedanken überschlugen sich. Wenn das stimmte, war das Motiv, das Adnar und Bruder Febal vorgetragen hatten und das durchaus plausibel klang, hinfällig. Das änderte ihre Einschätzung der Lage von Grund auf.

»Ich habe viel Klatsch und Tratsch und viele Ver-mutungen über Draigen gehört. Wollt Ihr behaupten, daß all diese Geschichten nicht wahr sind?«

»Ich habe wenig Anlaß, die Äbtissin zu lieben, und ich muß gestehen, daß ich mich auf diesem Gebiet überhaupt nicht auskenne. Äbtissin Draigen umgibt sich einfach gern mit jungen Mädchen, weil die ihr Wissen und ihre Autorität nicht in Frage stellen. Einen anderen Grund sehe ich nicht.«

»Ihr sagt, daß sie allen Männern mißtraut und sie haßt, und doch war sie mit Bruder Febal verheiratet.«

»Febal? Eine Ehe, die nicht einmal ein Jahr hielt. Ich glaube, sie hatten einander verdient. In Wahrheit standen sie sich in nichts nach: er mit seiner Frauenfeindlichkeit, sie mit ihrem Männerhaß. Sie verabscheuten sich gegenseitig.«

»Ihr kanntet Febal, als er hier in der Abtei lebte?«

»O Ja«, antwortete Bronach mit düsterer Miene. »Ich kannte Febal gut.« Einen kurzen Augenblick blitzte es in ihren Augen. »Ich kannte Febal schon, bevor Draigen in die Abtei kam.«

»Warum haben sie geheiratet, wenn sie sich haßten?«

Schwester Bronach zuckte die Achseln.

»Diese Frage müßt Ihr ihnen selbst stellen.«

»Hat die frühere Mutter Oberin, Äbtissin Marga, diese Beziehung gebilligt?«

»Dies war damals ein gemischtes Kloster, und mehrere verheiratete Paare erzogen ihre Kinder hier zu frommen Christen. Marga hatte altmodische Vorstellungen und ermutigte Eheschließungen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft. Vielleicht war das der Hauptgrund für Draigens Heirat: sie wollte sich Mar-gas Gunst erschmeicheln. Draigen ist eine äußerst berechnende Frau.«

»Ihr lehnt Draigen ab, und doch bleibt Ihr in dieser Abtei. Warum?«

Fidelma suchte in Bronachs Miene nach einer Antwort. Die Glaubensschwester zuckte zusammen, und ein Ausdruck von Schmerz und Befremden schien über ihr Gesicht zu huschen.

»Ich bleibe hier, weil ich hierbleiben muß«, sagte sie ärgerlich.

»Aber Ihr verabscheut Draigen?«

»Sie ist meine Äbtissin.«

»Das ist keine Antwort.«

»Ich kann keine andere Antwort geben.«

»Dann laßt mich Euch helfen. Kanntet Ihr Draigen, als sie noch jung war?«

Schwester Bronach warf Fidelma einen verstohlenen Blick zu. Einen schnellen, abschätzenden Blick.

»Ich kannte sie«, gab sie vorsichtig zu.

»Und hat Eure Mutter sie gekannt?«

Schwester Bronach atmete tief durch und konnte ihren Schmerz nicht länger verbergen.

»So? Ihr habt also von der Geschichte gehört? Es gibt so viele Schwätzer in diesem Land.«

»Ich würde die Geschichte gern von Euch selbst hören, Schwester Bronach.«

Es dauerte eine Weile, bevor Bronach antwortete.

»Ich verabscheue Draigen mit einer Inbrunst, die Ihr nie verstehen würdet«, begann die Pförtnerin. Dann hielt sie inne und verfiel wieder in Schweigen, dieses Mal so lange, daß Fidelma sie gerade drängen wollte, als Bronach sie mit sorgenvollem Blick ansah. »Jeden Tag verbringe ich im Gebet und bitte Gott, den Allmächtigen, meinen Schmerz zu lindern und mir meinen Haß zu nehmen. Er tut es nicht. Ist es also Gottes Wille, daß sich diese Gefühle in mir stauen?«

»Warum bleibt Ihr hier?« drang Fidelma erneut in sie.

Die Antwort klang verbittert.

»Wieso fragt Ihr nicht das Meer, warum es immer an derselben Stelle bleibt? Ich kann nirgendwo anders hingehen. Vielleicht ist das die Strafe für meine Sünden: der Person zu dienen, die meiner Mutter das Leben nahm. Aber versteht mich nicht falsch. Ich würde Draigen niemals etwas antun. Ich möchte nicht, daß sie stirbt. Ich möchte, daß sie lebt - und daß sie jede Minute ihres Lebens leidet.«

»Erzählt mir, was damals passiert ist.«

»Draigen war zu jener Zeit fünfzehn Jahre alt. Ich war etwa Mitte dreißig und lebte schon als Nonne unter Äbtissin Marga in dieser Abtei. Meine Mutter, Suanach, war keine Christin. Sie zog es vor, den alten Gottheiten unserer Heimat die Treue zu halten. Sie war eine weise Frau. Sie kannte sämtliche Blumen und Kräuter, ihre Namen und ihre heilenden Kräfte. Sie war eins mit den Wäldern, in denen sie ihr Leben lang wohnte.«

»Und Euer Vater?« warf Fidelma ein.

»Ich habe ihn nie gekannt. Ich kannte nur meine Mutter und ihre Liebe zu mir.«

»Erzählt weiter.«

»In der Nähe des Waldes, in dem Suanach wohnte, lebte ein oc-aire, ein Mann mit einem kleinen Stück Land, das jedoch nicht ausreichte, um ihn und seine Familie zu ernähren. Der Mann war Adnar Mhor, der Vater von Draigen.«

»Auch der Vater von Adnar, der in der Festung am anderen Ufer der Bucht wohnt?«

»Derselbe. Meine Mutter hat Draigen manchmal geholfen. Als Adnar, der Sohn, fortging, um in das Heer von Gulban, dem Falkenauge, einzutreten, wurde Adnar, der Vater, zusehends kränker. Suanach hatte Mitleid mit dem jungen Mädchen. Als dann der Vater starb, erbot sich meine Mutter, Draigen bei sich aufzunehmen. Bald darauf starb auch ihre Mutter, und Draigen zog ganz zu Suanach in den Wald.«

»Standet Ihr damals schon im Dienste dieser Abtei?«

Bronach nickte abwesend.

»Damals war Draigen etwa vierzehn, wie man Euch vielleicht erzählt hat. Welch ein Jahr voller Unglück.«

Plötzlich traten Schwester Bronach Tränen in die Augen, und irgendwie hatte Fidelma das Gefühl, daß diese Tränen nicht nur um ihrer Mutter willen vergossen wurden.

»Was genau ist passiert?«

»Draigen ist eine eigensinnige Person und neigt zu Wutausbrüchen. Eines Tages hatte sie so einen Wutan-fall, packte ein Messer, das zum Häuten von Kaninchen benutzt wurde, und erstach meine Mutter Suanach.«

Fidelma wartete auf eine nähere Erklärung, und als keine kam, fragte sie danach.

»Seit dem Tod ihrer Eltern und seit ihr Bruder sie, wie sie es empfand, im Stich gelassen hatte, war Draigen sehr besitzergreifend geworden. Sie war aufbrausend und äußerst eifersüchtig, auch auf mich als Sua-nachs leibliche Tochter. Vielleicht war es gut, daß meine Pflichten in der Abtei mir nur wenig Zeit ließen, meine Mutter zu besuchen. Ich bin sicher, wir wären sonst häufiger und heftiger aneinandergeraten.«

»Ihr seid aneinandergeraten?«

»Unweigerlich. Jedes Mal, wenn ich zu meiner Mutter kam. Sobald Suanach mir aufmerksam zuhörte, kam Draigen und forderte doppelt soviel Aufmerksamkeit.«

»Also, zu dem Zeitpunkt, als Draigen Eure Mutter angriff ...? Was ist damals passiert?«

»Meine Mutter ...« Bronach zögerte, als fiele es ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. »Meine Mutter hatte ein kleines Baby in Pflege genommen. Es war das Kind einer . einer Verwandten.«

Fidelma entgingen die verlegenen Pausen nicht.

»Suanach dachte, Draigen würde ihr bei der Erziehung des Kindes behilflich sein, aber Draigen war genauso eifersüchtig auf das Kind wie auf alles und jeden, mit dem sie die Zuneigung meiner Mutter teilen mußte.«

»Sie griff Eure Mutter an, weil sie dem Baby zuviel Aufmerksamkeit schenkte?« Fidelma spürte kalten Abscheu in sich aufsteigen.

»So war es. Es war der Angriff einer Wahnsinnigen. Sie war damals fünfzehn. Das Kind, das meine Mutter in Pflege hatte, war erst drei. Der Brehon, der über diesen Vorfall zu Gericht saß, befand, daß Draigen nicht des vorsätzlichen Mordes schuldig war. Er ordnete die Zahlung einer Entschädigung an. Das winzige Stück Land, das Draigens Eltern gehört hatte, sollte verkauft werden und der Ertrag daraus Suanachs Erben zugute kommen. Das war ich, natürlich. Und da ich Mitglied dieser Gemeinschaft war, fiel das Geld an die Abtei. Jetzt ist Draigen hier Äbtissin - welche Ironie des Schicksals.« Bronach stieß ein trockenes Lachen hervor.

»Da fragt man sich doch, ob es einen Gott der Gerechtigkeit gibt, nicht wahr?«

»Hat Draigen dem dreijährigen Kind auch etwas zuleide getan?«

Schwester Bronach schüttelte den Kopf.

»Es wurde zurückgebracht . zu seiner leiblichen Mutter.«

»Der Brehon wird Draigen sicherlich Auflagen gemacht haben«, bemerkte Fidelma.

»Ja. Sie mußte einer religiösen Gemeinschaft beitreten, wo man sich ihrer annehmen würde, und sie mußte ihr Leben fortan der Wohltätigkeit widmen. Auch darin liegt eine gewisse Ironie, denn sie wurde in diese Abtei entsandt. Ausgerechnet in die Abtei, in der ich lebte.«

»Ah!« unterbrach Fidelma. »Jetzt verstehe ich, warum Adnars Anspruch auf seinen Anteil an dem Land abgewiesen wurde. Da es verkauft werden mußte, um eine gerichtlich verhängte Geldstrafe zu begleichen, verlor Adnar, als Draigens Bruder, seinen Anteil, denn die Angehörigen müssen die Strafe des Schuldigen begleichen, sofern der Schuldige sie nicht selbst bezahlen kann.«

»Ja, so ist es.«

»Doch nach dem Gesetz, Schwester Bronach, hat Draigen eine Wiedergutmachung geleistet und ihr Verbrechen gesühnt.«

»Ja, ich weiß. Äbtissin Marga hat ihr vor langer Zeit die vollständige Absolution erteilt. Und inzwischen ist Draigen erwachsen geworden. Seit jenem Tag, da sie meine Mutter getötet hat, ertrage ich Tag für Tag ihre Gegenwart - als Strafe für meine Sünden.«

Fidelma war bestürzt.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum Ihr hiergeblieben seid. Warum seid Ihr nicht in eine andere Gemeinschaft eingetreten, wo Eure Wunde heilen konnte, oder habt verlangt, daß Draigen in eine andere Abtei versetzt wird?«

Schwester Bronach stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. »Ich habe Euch den Grund genannt. Ich bleibe hier - als Strafe für meine Sünden.«

»Was sind das für Sünden, deren Ihr Euch schuldig gemacht habt?« fragte Fidelma. »Was konnte Euch dazu bewegen, Euer Leben in Gesellschaft eines Menschen zu verbringen, der Euer eigenes Fleisch und Blut getötet hat?«

Schwester Bronach zögerte erneut und schien dann einen Entschluß zu fassen.

»Im entscheidenden Moment war ich nicht da, um Draigens Angriff auf meine Mutter zu verhindern. Meine Sünde ist, daß ich nicht da war, als ich gebraucht wurde.«

»Das ist doch kein Grund für Selbstvorwürfe. Ihr habt Euch keiner Sünde schuldig gemacht.«

»Trotzdem fühle ich mich verantwortlich.«

Fidelma blieb mißtrauisch. Schwester Bronachs Erklärung erschien ihr nicht aufrichtig.

»Da kann ich Euch nicht helfen. Doch falls Ihr einen Seelen-Freund habt, vielleicht .«

»Ich kämpfe seit zwanzig Jahren mit diesem Problem, Schwester Fidelma. Es ist nicht in zwanzig Minuten zu lösen.«

»Ihr macht Euch selbst zu viele Vorwürfe, Schwester«, tadelte Fidelma. »Man soll die Dinge auch mit Barmherzigkeit betrachten. Vor zwanzig Jahren war Draigen ein junges Mädchen, ein unreifes, junges Ding. Was sie damals getan hat, gehört der Vergangenheit an. Heute ist sie wahrscheinlich ein ganz anderer Mensch.«

»Ihr seid sehr nachsichtig, Schwester.«

»Ihr stimmt mir nicht zu?«

»Draigen hat sich nicht verändert. Sie ist immer noch eifersüchtig, unermüdlich in ihrem Ehrgeiz und voller Mißgunst.« Die ältere Nonne hob unvermittelt die Hand, als wolle sie mögliche Einwände unterbinden. »Versteht mich nicht falsch, Schwester. Ich trage diese Last seit zwanzig Jahren und werde sie auch in Zukunft tragen. Es gibt auf dieser Welt keinen anderen Platz für mich. Dort oben in den Bergen sehe ich wenigstens das Grab meiner Mutter, und manchmal kann ich hingehen und ein Weilchen bei ihr sitzen.«

»Hattet Ihr nie das Bedürfnis, an Draigen Vergeltung zu üben?«

Als Antwort beugte Schwester Bronach das Knie.

»Ihr meint, ihr körperlichen Schaden zuzufügen? Quad avertat Deus! Gott behüte!«

»So was soll vorkommen.«

»Ich darf niemandem das Leben nehmen, Schwester. Ich darf keinem anderen Menschen ein Leid zufügen, egal, was er mir angetan hat. Das habe ich von meiner Mutter gelernt, nicht von Jesus Christus. Ich habe Euch bereits erklärt, daß es mir lieber ist, wenn Draigen am Leben ist und ihr Leben lang leiden muß.«

In Schwester Bronachs Gesicht lag ein Ausdruck würdevoller Aufrichtigkeit. Fidelma konnte Bronach durchaus verstehen - bis auf die Tatsache, daß sie all die Jahre in der Abtei geblieben war, in Draigens unmittelbarer Nähe, selbst dann noch, als Draigen zur Äbtissin gewählt wurde.

»Es hat nicht den Anschein, als würde Draigen sonderlich leiden«, bemerkte sie.

»Vielleicht habt Ihr recht. Vielleicht hat sie alles vergessen und glaubt, auch ich hätte vergessen. Doch eines Nachts wird die Stunde kommen, in der sie voller Angst erwacht und sich erinnert.«

»Bruder Febal hat nichts vergessen.«

Bronach errötete.

»Febal? Was hat er gesagt?«

»Nicht viel. Kennt sonst noch jemand die Geschichte?«

»Nur ich . und Febal. Wenngleich er von Fall zu Fall entscheidet, woran er sich zu erinnern beliebt.«

»Sicher weiß auch Draigens Bruder Adnar von der Sache?«

»Er erfuhr davon, als er seine Klage wegen des Landes einreichte und feststellen mußte, daß er alles verloren hatte.«

»Wollt Ihr damit sagen, daß sonst niemand hier von Draigens Vergangenheit weiß?«

»Niemand.«

Erst in diesem Augenblick wurde Fidelma klar, was sie die ganze Zeit übersehen hatte. Wenn Lerben Draigens Tochter war, dann war doch sicher Febal ihr Vater? Dennoch hatte er seine frühere Frau und seine eigene Tochter bezichtigt, eine sexuelle Beziehung zu unterhalten! Was für ein Mann war Febal eigentlich?

»Weiß Febal, daß Lerben seine Tochter ist?« lautete Fidelmas nächste Frage.

Schwester Bronach wirkte überrascht.

»Selbstverständlich. Das nehme ich zumindest an.«

Fidelma schwieg eine Weile.

»Ihr habt gesagt, daß Eure Mutter dem alten, heidnischen Glauben ihrer Heimat anhing. Wißt Ihr gut über die alte Religion Bescheid?«

Schwester Bronach schien einen Augenblick verblüfft über Fidelmas plötzlichen Themenwechsel.

»Ich bin die Tochter meiner Mutter. Sie hat mich all die alten Traditionen gelehrt.«

»Ihr kennt also die heidnischen Götter und Göttinnen und die symbolische Bedeutung der Bäume, und Ihr versteht die Oghamschrift?«

»Ein bißchen. Ich weiß genug, um sie zu erkennen, aber ich kann die alten Schriftzeichen nicht lesen.«

Geschrieben wurde Ogham nicht mit den gebräuchlichen lateinischen Buchstaben, sondern unter Verwendung eines altertümlichen Zeichensystems, das man Bérla Féini nannte, die Sprache der Ackerbauern. Heutzutage studierten nur noch angehende Rechtsgelehrte die Oghamschrift.

»Schwester, erklärt mir die Bedeutung eines Espenholzstabes, der an der linken Hand befestigt ist.«

Schwester Bronach lächelte wissend.

»Das ist einfach. Die Espe ist ein heiliger Baum, von dem der fé, der Stab zum Abmessen eines Grabes, geschnitten wird. Darauf wird immer eine Zeile in Ogham eingeritzt. Diese Sitte ist noch heute in ganz Irland verbreitet.«

»Ja, das ist allgemein bekannt. Aber das Befestigen des am linken Arm - warum nicht am rechten? Was hat das zu bedeuten? Ihr habt erwähnt, daß Ihr Drai-gen darauf aufmerksam gemacht habt, als der erste Leichnam gefunden wurde.«

»Man bindet den an den linken Arm, wenn ein Mörder oder Selbstmörder beerdigt wird ...« Sie unterbrach sich und schlug bestürzt eine Hand vor den Mund. »Die Zeile in Ogham ist normalerweise eine Anrufung der Todesgöttin.«

»Wie zum Beispiel Morrigan? Der Göttin des Todes und der Kriege?«

»Ja.« Die Antwort klang schneidend.

»Erzählt weiter«, sagte Fidelma ruhig.

»Ich kenne die Glaubensformel nicht wörtlich, aber sie beinhaltet die Anerkennung einer solchen Göttin. Bei der Leiche ohne Kopf ... der im Brunnen ... an ihrem linken Arm war ein Espenholzstab mit einer Og-haminschrift befestigt.«

»Bei Schwester Siomha auch«, bestätigte Fidelma.

»Was hat das zu bedeuten? Wollt Ihr etwa behaupten ...?«

»Ich behaupte gar nichts«, unterbrach Fidelma sie sogleich.

»Ich habe Euch lediglich gefragt, ob Ihr wißt, was der Gebrauch dieser Symbole bedeutet.«

»Natürlich weiß ich das.« Schwester Bronach schien jetzt gründlich nachzudenken. »Aber soll das heißen, daß die Tote im Brunnen eine Mörderin war?«

»Wenn dem so wäre, würde daraus folgen, daß man bei Schwester Siomha den gleichen Schluß ziehen müßte.«

»Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Vielleicht ergibt es Sinn für den Mörder. Sagt mir, Schwester Bronach, wer außer Euch weiß hier in der Abtei über diese Symbolik Bescheid?«

Die Pförtnerin zuckte die Achseln.

»Die Zeiten ändern sich, die alten Traditionen geraten in Vergessenheit. Ich bezweifle, daß eine der jüngeren Nonnen die Bedeutung dieser Dinge kennt.« Plötzlich weiteten sich ihre Augen. »Wollt Ihr damit vielleicht andeuten, daß ich die Täterin bin?«

Fidelma unternahm keinen Beschwichtigungsversuch.

»Durchaus möglich. Es ist meine Aufgabe, genau das herauszufinden. Wenn es um die Ermordung von Äbtissin Draigen ginge, hielte ich Euch für die Hauptverdächtige, denn Ihr hättet ein einleuchtendes Tatmotiv. Doch für die beiden Morde, mit denen wir es im Augenblick zu tun haben, sehe ich einfach kein Motiv bei Euch.«

Bronach betrachtete die Jüngere vorwurfsvoll.

»Ihr habt einen merkwürdigen Sinn für Humor, Schwester«, bemerkte sie mißbilligend. »Vielleicht gibt es hier auch noch andere, die sich mit den alten Traditionen genausogut auskennen wie ich.«

»Ihr habt bereits festgestellt, daß in dieser Abtei hauptsächlich junge Schwestern leben, die nicht darüber Bescheid wissen. Wer kennt denn dann noch den Gebrauch der alten Symbole?«

Schwester Bronach überlegte einen Augenblick.

»Schwester Comnat, unsere Bibliothekarin. Sonst niemand, außer .«

Sie hielt inne, und ihr Blick wurde plötzlich hart und hellwach.

Fidelma beobachtete sie aufmerksam.

»Außer .?« drängte sie.

»Niemand.«

»Oh, ich weiß, welcher Gedanke Euch gerade ge-kommen ist«, erwiderte Fidelma gelassen. »Ihr wart stolz auf die Kenntnisse der alten Traditionen, die Eure Mutter an Euch weitergegeben hat. An wen könnte sie dieses Wissen sonst noch weitergegeben haben? An jemanden, den sie aufzog? Kommt schon, der Name liegt Euch auf der Zunge.«

Schwester Bronach blickte zu Boden.

»Ihr wißt es bereits. Äbtissin Draigen natürlich. Sie weiß alles über die heidnische Symbolik, und .«

»Und?«

»Sie hat bereits bewiesen, daß sie fähig ist zu töten.«

Schwester Fidelma erhob sich und nickte ernst.

»Ihr seid schon die zweite, die mich in den letzten Stunden darauf hingewiesen hat.«

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