Kapitel 6

Als Schwester Siomha eine halbe Stunde nach der Mittagszeit - der Zeit, zu der Fidelma sie um ihr Erscheinen gebeten hatte - noch immer nicht im Gästehaus aufgetaucht war, beschloß Fidelma, sich auf die Suche nach der Verwalterin zu begeben. Sie überprüfte die Uhrzeit an der prunkvollen bronzenen Sonnenuhr, die in der Mitte des Innenhofes stand und deren lateinische Inschrift ostentativ verkündete: >Horas non numéro nisi serenas - Ich zähle nicht die Stunden, es sei denn, sie sind heiter.< Es war ein kalter Tag, aber die nächtlichen Schneewolken waren weitergezogen, und der Himmel war strahlend und klar.

Die hübsche junge Schwester Lerben, die auf Fidelma wirkte wie die persönliche Dienerin der Äbtis-sin, schickte Fidelma zum Turm hinter der hölzernen Kirche und erklärte ihr, sie werde Schwester Siomha im oberen Stockwerk finden, wo sie die Wasseruhr beaufsichtige. Der Turm war ein großes Gebäude direkt neben dem gemauerten Vorratsraum, den Fidelma am vergangenen Abend betreten hatte. Sein Fundament bestand aus Steinen, die oberen Stockwerke waren aus Holz gebaut, und er ragte etwa zwölf Meter in die Höhe. Oben auf dem flachen Dach war die Hauptglocke zu sehen, die die Gemeinschaft zu den Gebeten rief.

Während Fidelma vom Erdgeschoß aus die hölzernen Stufen hinaufstieg, spürte sie zunehmenden Ärger über die Arroganz der Verwalterin, die ihre Vorladung einfach ignoriert hatte. Wenn ein ddlaigh das Erscheinen eines Zeugen verlangte, dann hatte der Zeuge dem nachzukommen. Andernfalls drohte ihm eine Geldbuße. Fidelma beschloß, dafür zu sorgen, daß die eingebildete Schwester Siomha diese Lektion lernte.

Der quadratische Turm war so konstruiert, daß die Räume übereinanderlagen und mit einer Treppe verbunden waren; die Fußböden bestanden aus Birkendielen, die auf starken Eichenbalken ruhten. Jeder Raum hatte vier Fenster, die einen Ausblick nach allen vier Himmelsrichtungen boten. Dennoch wirkten die Räume nicht lichtdurchflutet, sondern lagen eher im Zwielicht. Der Turm, zumindest die beiden unteren Stockwerke, beherbergte das Tech-screptra, das >Haus der Handschriften<, die Bibliothek der Gemeinschaft. Holzgestelle mit Reihen von Haken füllten den Raum, und an jedem Haken hing eine tiag liubhar oder Büchertasche.

Fidelma war erstaunt über die stattliche Sammlung, die die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen in ihrem Besitz hatte. Es mußten mindestens fünfzig oder mehr Büchertaschen sein, die in den beiden ersten Stockwerken an den Haken hingen. Einige davon nahm sie sorgfältig in Augenschein und fand zu ihrer weiteren Verblüffung unter anderem Kopien der Werke des berühmten irischen Gelehrten Longarad von Sliabh Marga. Eine andere Büchertasche enthielt die Werke von Dallan Forgaill von Connacht, der zu seiner Zeit den Vorsitz bei den Großen Bardenversammlungen geführt hatte und vor siebzig Jahren ermordet worden war. Der Verdacht fiel damals auf Guaire den Gastfreundlichen, den König von Con-nacht, doch man konnte ihm nie etwas nachweisen. Das war eines der großen Geheimnisse, über die Fidelma häufig nachdachte, und sie wünschte, sie hätte zu jener Zeit gelebt, um das Rätsel um Dallans Tod lösen zu können.

Sie schaute in die nächste Büchertasche und fand eine Kopie der Teagasc Ri, der Anweisungen des Königs. Der Autor dieses Handbuches war Oberkönig Cormac Mac Art, der im Jahre 254 A.D. in Tara gestorben war. Er hatte sich zwar nicht zum Christentum bekehren lassen, wurde aber dennoch als einer der weisesten und mildtätigsten Herrscher Irlands gerühmt. In seinem Werk waren Anweisungen zu Lebensführung, Gesundheit, Ehe und Benehmen zu-sammengestellt. Fidelma lächelte, als sie sich an ihren ersten Unterrichtstag bei ihrem Mentor, Brehon Mo-rann von Tara, erinnerte. Sie war sehr schüchtern gewesen und hatte kaum zu reden gewagt, doch Morann hatte ihr einen Satz aus Cormacs Buch vorgelesen: »Bist Du zu redselig, wird niemand Dich achten; bist Du zu schweigsam, wird niemand Dich beachten.«

Sie zog die Augenbrauen zusammen, während sie die Pergamentseiten des Buches durchblätterte. Viele waren mit rötlichem Schmutz befleckt. Wie konnte ein guter Bibliothekar zulassen, daß ein solches Kleinod derart verwahrloste? Sie nahm sich vor, mit der Bibliothekarin über den Zustand des Buches zu sprechen, und steckte es in seine Tasche zurück, während sie sich Vorwürfe machte, weil sie sich von dem Zweck ihres Besuches im Turm hatte ablenken lassen.

Widerstrebend verließ sie die Bibliothek und stieg in den dritten Stock hinauf. Dort befand sich das Skriptorium, wo die Schreiberinnen und Kopistinnen arbeiteten. Auf den Schreibtischen lagen Stapel von Gänse-, Schwanen- und Krähenfedern, die darauf warteten, angespitzt zu werden. Schreibrahmen standen bereit, bespannt mit Pergament oder den Häuten von Schafen, Ziegen oder Kälbern, sowie Gefäße mit tief schwarzer Tinte, die aus Kohlenstoff hergestellt und äußerst haltbar war.

Jetzt war das Skriptorium leer. Vermutlich nahmen die Schreiberinnen gerade ihre Mahlzeit ein, die dem mittäglichen Ängelus folgte. Durch das Süd- und das Westfenster warf die fahle Sonne einen scharf umris-senen Strahl durchsichtigen Lichtes in den Raum, der ihn erhellte und ihn trotz der eisigen Luft warm und anheimelnd wirken ließ. Was für ein geräumiger und sicherer Ort zum Arbeiten, dachte Fidelma. Der Ausblick war atemberaubend. Durch die Fenster sah sie im Süden und Westen das schimmernde Meer und die Landzungen, die die Meerenge umschlossen. Das gallische Schiff lag noch immer vor Anker. Die Segel waren eingerollt, doch von Odar und seinen Männern war nichts zu sehen.

Vermutlich ruhten sie sich aus oder nahmen ihr Mittagsmahl ein. Das Wasser rund um das Schiff glitzerte und spiegelte das zarte Blau des klaren Himmels wider. Genau im Westen konnte sie Adnars Festung erkennen, und wenn sie sich nach Norden und Osten wandte, lagen vor ihr die Wälder und die hohen, schneebedeckten Gipfel der Berge, die sich auf der Halbinsel dahinzogen wie das gezackte Rückgrat einer Echse.

Sie trat zum Nordfenster und spähte hinaus. Unter ihr gruppierten sich die Abteigebäude um die große Lichtung auf der tiefliegenden Landspitze. Jetzt wirkte alles verlassen und bestätigte Fidelmas Vermutung, daß die Schwestern gerade ihre Mittagsmahlzeit im Refektorium einnahmen. Die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen war zweifellos wunderschön gelegen. Das hohe Kreuz stand prachtvoll und weiß im Sonnenlicht. Direkt unter ihr befand sich der Innenhof mit der Sonnenuhr in der Mitte. Zahlreiche einzeln stehende Gebäude begrenzten den Hof an den Seiten, und die große Holzkirche, die duirthech, bildete den südlichen Abschluß des gepflasterten Platzes. Hinter den Hauptgebäuden, die den Innenhof umschlossen, standen noch weitere Häuser aus Holz sowie einige aus Stein, in denen die Nonnen wohnten und arbeiteten.

Fidelma wollte sich gerade umdrehen, als ihr eine kaum merkliche Bewegung ins Auge fiel. Auf einem Pfad, der sich etwa eine halbe Meile von der Abtei entfernt aus den Bergen hinunterschlängelte und am Waldrand zu verschwinden schien und der wahrscheinlich zu Adnars Festung führte, erspähte sie ein Dutzend Reiter, die ihre Pferde behutsam lenkten. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Den Reitern folgten Männer zu Fuß. Fidelma hatte Mitleid mit ihnen. Auf dem abschüssigen, felsigen Boden konnten sie nur unter großer Anstrengung mit den Berittenen Schritt halten.

Sie vermochte wenig zu erkennen, nur, daß die vordersten Reiter prunkvoll ausstaffiert waren. Die Sonne beschien ihre farbenprächtige Kleidung und funkelte und glühte auf ihren polierten Schilden. An der Spitze des Zuges trug einer der Reiter einen langen Stab mit einem Banner. Die wallende Seide flatterte so heftig im Wind, daß sie das Wappen darauf aus der Entfernung nicht ausmachen konnte. Auf den Schultern eines Reiters entdeckte sie etwas Sonderbares. Aus der Entfernung sah es auf den ersten Blick so aus, als hätte der Mann zwei Köpfe. Nein! Der seltsame Umriß bewegte sich, und Fidelma begriff, daß auf der Schul-ter des Reiters ein großer Falke saß. Reiter und Fußvolk verschwanden schließlich hinter dem Waldrand und damit aus ihrem Blickfeld.

Fidelma blieb noch ein Weilchen stehen und wartete gespannt, ob sie sie noch einmal zu sehen bekäme, doch der dichte Eichenwald rundherum verbarg sie nun, nachdem sie den Abhang hinter sich gelassen hatten, vor ihrem Blick. Sie fragte sich, wer die Männer wohl waren. Doch es hatte keinen Sinn, Zeit mit Fragen zu verschwenden, wenn sie keine Möglichkeit hatte, die Antwort zu finden.

Fidelma wandte sich vom Fenster ab und ging hinüber zur Treppe, die in das vierte und höchstgelegene Stockwerk des Turms führte.

Sie betrat den oberen Raum durch die Klappe im Boden, ohne vorher anzuklopfen oder ihr Kommen anderweitig anzukündigen.

Schwester Siomha war über ein großes Bronzebek-ken gebeugt, das dampfend auf einer steinernen Feuerstelle stand. Die rechtaire der Gemeinschaft blickte verärgert auf und verzog das Gesicht, als sie Fidelma erkannte.

»Ich habe mich schon gefragt, wann Ihr endlich kommen würdet«, begrüßte sie die ddlaigh gereizt.

Fidelma war sprachlos, und das geschah nicht sehr oft. Unwillkürlich weiteten sich ihre Augen.

Schwester Siomha rückte eine kleine Kupferschale zurecht, die oben auf dem dampfenden Bronzebecken schwamm. Dann erst richtete sie sich auf und drehte sich um.

Erneut fiel es Fidelma nicht leicht, dieses engelhafte, herzförmige Gesicht mit der verantwortungsvollen Stellung und den Aufgaben einer rechtaire in Einklang zu bringen. Sie musterte Siomha eingehend und bemerkte ihre großen bernsteinfarbenen Augen. Die Lippen waren voll, und hie und da lugte eine Strähne braunen Haares unter ihrer Kopfbedeckung hervor. Ihre Sommersprossen und die großen Augen wirkten entwaffnend und unschuldig. Dennoch funkelte etwas tief in diesen Bernsteinaugen, ein Ausdruck, den Fidelma nur mit Mühe deuten konnte - rastloser, alles verzehrender Haß.

Fidelma zog die Augenbrauen zusammen und versuchte, ihren Ärger von vorhin wieder zu spüren.

»Wir sind übereingekommen, uns zur Mittagszeit im Gästehaus zu treffen«, begann sie, doch zu ihrer Überraschung schüttelte die junge Schwester entschieden den Kopf.

»Wir sind nicht übereingekommen«, entgegnete sie schroff. »Ihr habt mir befohlen, mittags dort zu sein, und seid dann fortgegangen, bevor ich antworten konnte.«

Fidelma war perplex. Das war zweifellos eine mögliche Lesart ihres Wortwechsels. Man durfte jedoch die arrogante Anmaßung nicht vergessen, die das junge Mädchen von Anfang an an den Tag legte und die Fidelma zu ihrer Reaktion veranlaßt hatte, um ihrer Unverschämtheit und Respektlosigkeit zu begegnen. Doch offensichtlich hatte sie daraus keinerlei Schlußfolgerungen gezogen und Fidelma völlig falsch verstanden.

»Habt Ihr eigentlich begriffen, Schwester Siomha, daß ich eine Bevollmächtigte der Gerichtsbarkeit bin und über gewisse Rechte verfüge? Ich habe Euch als Zeugin vorgeladen, und wer meiner Vorladung nicht Folge leistet, wird nach dem Gesetz mit einer Geldbuße bestraft.«

Schwester Siomha schnaubte hochmütig.

»Ich interessiere mich nicht für Euer Gesetz. Ich bin Verwalterin dieser Abtei, und meine Aufgaben hier erfordern meine gesamte Aufmerksamkeit. In erster Linie bin ich meiner Äbtissin verpflichtet und den Regeln meiner Gemeinschaft.«

Fidelma schluckte sichtbar.

Sie wußte nicht genau, ob die junge Schwester sie aus Naivität behinderte oder ob sie einfach halsstarrig war.

»Dann habt Ihr noch viel zu lernen«, erwiderte sie schließlich schneidend. »Ihr werdet die Geldbuße zahlen, die ich festlege, und um sicherzustellen, daß Ihr meinen Anordnungen in Zukunft Folge leistet, soll dies in Anwesenheit von Äbtissin Draigen geschehen. Jetzt werdet Ihr mir erst einmal berichten, wie es kam, daß Ihr bei Schwester Bronach ward und mit ihr zusammen den Leichnam aus dem Brunnen geborgen habt.«

Schwester Siomha öffnete den Mund, als wolle sie mit Fidelma streiten, doch sie besann sich eines Besseren. Sie ging zu einem Stuhl und ließ sich darauf nieder. Ihre Bewegungen hatten wenig mit denen einer Nonne gemein: keine ruhige Ausgeglichenheit, kein bescheidenes Händefalten, keine beschauliche Ergebenheit. Ihr Körper strotzte nur so vor Aggression und Arroganz.

Der Stuhl war die einzige Sitzgelegenheit im Zimmer, und Fidelma blieb nichts anderes übrig, als vor dem sitzenden Mädchen stehenzubleiben. Sie blickte sich rasch um. Auch dieser Raum hatte vier Fenster, doch waren sie größer als in den unteren Stockwerken. An einer Wand waren Holzscheite und Zweige aufgestapelt, gegenüber befand sich die steinerne Feuerstelle, deren Rauch durch das Westfenster entwich. Wenn der Wind umschlug, wurde der Qualm wohl manchmal auch in den Raum hineingeweht, denn es roch durchdringend nach Holzfeuer. Das einzige andere Möbelstück im Zimmer war ein kleiner Tisch mit Schreibtafeln und mehreren graib, metallenen Schreibgriffeln, darauf. Vor dem Nordfenster stand ein großer, kupferner Gong mit einem Stock.

Über eine Leiter in einer anderen Ecke gelangte man auf das Flachdach des Turmes, auf dem sich, wie sie wußte, das Gestell mit der großen bronzenen Glocke befand. Jeweils pünktlich zur Stunde der Andacht und des Gebetes stieg eine Schwester hinauf und läutete sie.

All dies erfaßte Fidelma mit einem kurzen Blick. Dann wandte sie sich wieder Schwester Siomha zu.

»Ihr habt meine Frage nicht beantwortet«, sagte sie ruhig.

»Schwester Bronach hat Euch zweifellos erzählt, was geschehen ist«, erwiderte Siomha stur.

In Fidelmas Miene glomm ein gefährliches Feuer.

»Und nun werdet Ihr es mir erzählen.«

Die Verwalterin unterdrückte einen Seufzer. Sie antwortete mit monotoner Stimme, wie ein Kind, das eine altbekannte Lektion herunterleiert.

»Es ist Schwester Bronachs Aufgabe, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen. Wenn Äbtissin Draigen vom Mittagsgebet aus der Kirche zurückkehrt, hat Schwester Bronach normalerweise in ihrem Gemach schon Wasser für sie bereitgestellt. An jenem Tag war jedoch weder von dem Wasser noch von Schwester Bronach etwas zu sehen. Die Äbtissin beauftragte mich als Verwalterin, Bronach suchen zu gehen ...«

»Schwester Bronach bekleidet das Amt der Pförtnerin dieser Abtei, nicht wahr?« schaltete sich Fidelma ein, die die Antwort zwar genau kannte, jedoch nach einer Möglichkeit suchte, den eintönigen Vortrag zu unterbrechen.

Siomha wirkte einen Augenblick verwirrt und nickte dann.

»Sie ist seit vielen Jahren hier und ist älter als die meisten anderen Mitglieder der Gemeinschaft, abgesehen von unserer Bibliothekarin, die die Älteste ist. Sie bekleidet dieses Amt mehr dank ihres Alters als dank ihrer Fähigkeiten.«

»Ihr könnt sie nicht leiden, nicht wahr?« schlußfolgerte Fidelma.

»Leiden?« Das junge Mädchen schien ob der Frage überrascht. »Hat nicht Äsop geschrieben, daß es wenig Zuneigung gibt, wo keine Gleichheit herrscht?

Zwischen Schwester Bronach und mir herrscht noch nicht einmal Ähnlichkeit.«

»Man muß nicht gleich seelenverwandt sein, um Zuneigung füreinander zu empfinden.«

»Mitleid ist keine Grundlage für Zuneigung«, erwiderte das Mädchen. »Und das ist das einzige Gefühl, das ich für Schwester Bronach aufbringen kann.«

Fidelma wurde klar, daß es Schwester Siomha trotz all ihrer Eitelkeit nicht an Intelligenz mangelte. Sie verfügte über eine bemerkenswerte Redegewandtheit, mit deren Hilfe sie ihre innersten Gedanken zu verbergen vermochte. Doch immerhin hatte Fidelma ihren Widerstand, der in ihrem monotonen Vortrag zum Ausdruck kam, gebrochen. Aus einer lebhafteren Stimme konnte man weitaus mehr Schlüsse ziehen. Sie beschloß, eine andere Richtung einzuschlagen.

»Ich habe den Eindruck gewonnen, daß Ihr in dieser Gemeinschaft mit fast niemandem freundschaftlichen Umgang pflegt. Ist das richtig?«

Sie hatte den Hinweis von Schwester Bronach aufgeschnappt, war jedoch überrascht, als Schwester Siomha das nicht abstritt.

»Als Verwalterin ist es nicht meine Aufgabe, es jedem rechtzumachen. Ich habe viele Entscheidungen zu treffen, und nicht alle gefallen meinen Schwestern im Glauben. Doch ich bin hier die rechtaire und bekleide eine verantwortungsvolle Position.«

»Aber Ihr trefft Eure Entscheidungen doch sicherlich mit Billigung der Äbtissin?«

»Ich genieße ihr uneingeschränktes Vertrauen.« In der Stimme des Mädchens lag ein prahlerischer Unterton.

»Ich verstehe. Nun, laßt uns auf die Entdeckung der Toten zurückkommen. Also, auf Verlangen der Mutter Oberin machtet Ihr Euch auf die Suche nach Schwester Bronach?«

»Sie war am Brunnen, hatte jedoch Schwierigkeiten, das Seil hochzuziehen. Ich dachte zuerst, sie wolle nur ihre Säumigkeit vertuschen.«

»Ach Ja? Warum denn das?«

»Ich hatte nur ein, zwei Stunden zuvor dort Wasser geschöpft und dabei keinerlei Probleme gehabt.«

Fidelma beugte sich rasch nach vorn. »Erinnert Ihr Euch genau, um welche Zeit Ihr Wasser aus dem Brunnen holtet?«

Schwester Siomha legte den Kopf auf die Seite und schien über die Frage nachzudenken.

»Höchstens zwei Stunden vorher.«

»Und zu diesem Zeitpunkt ist Euch natürlich nichts Außergewöhnliches aufgefallen?«

»Wäre dem so gewesen«, erwiderte Siomha spöttisch, »hätte ich etwas gesagt.«

»Selbstverständlich hättet Ihr das. Aber laßt mich eines klarstellen - Euch ist nichts Ungewöhnliches am Brunnen aufgefallen? Kein Durcheinander, keine Blutflecken im Schnee?«

»Nichts.«

»War jemand bei Euch?«

»Wozu denn?«

»Egal. Ich wollte lediglich den Zeitraum eingren-zen, in dem die Tote in den Brunnen gehängt wurde. Es scheint, daß man den Leichnam erst kurz vor seiner Entdeckung dort versteckte. Das würde bedeuten, wer immer das tat, tat es am hellichten Tag, selbst auf die Gefahr hin, von jemandem aus der Abtei beobachtet zu werden. Findet Ihr das nicht merkwürdig?«

»Das kann ich nicht beurteilen.«

»Na schön. Fahrt fort.«

»Mühselig und langsam kurbelten wir das Seil nach oben. Dann fanden wir den Leichnam, der daran festgebunden war. Wir schnitten ihn ab und holten die Äbtissin.«

Die Einzelheiten stimmten mit dem Bericht von Schwester Bronach überein.

»Habt Ihr die Tote erkannt?«

»Nein. Wie sollte ich auch?« Ihre Stimme klang schneidend.

»Wird irgend jemand aus dieser Gemeinschaft vermißt?«

Die großen Bernsteinaugen von Schwester Siomha weiteten sich merklich, und einen Augenblick lang war Fidelma sicher, in ihren unergründlichen Tiefen Angst aufflackern zu sehen.

»Jemand aus Eurer Gemeinschaft ist verschwunden - um wen handelt es sich?« fragte sie schnell, in der Hoffnung, den kurzen Moment, in dem Siomha zumindest den Anflug eines Gefühls zeigte, ausnutzen zu können.

Doch Schwester Siomha blinzelte und hatte sich augenblicklich wieder unter Kontrolle.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr redet«, erwiderte sie. »Aus unserer Gemeinschaft ist niemand verschwunden.« Fidelma entging die kaum merkliche Veränderung der Betonung nicht. »Falls Ihr damit andeuten wollt, daß es sich bei der Toten um eine unserer Schwestern handelt, dann irrt Ihr Euch.«

»Denkt noch einmal nach und vergeßt nicht, welche Strafen Euch für das Verschweigen der Wahrheit vor einem Beamten der Gerichtsbarkeit drohen.«

Schwester Siomha sprang mit wütender Miene auf.

»Ich habe es nicht nötig zu lügen. Was werft Ihr mir eigentlich vor?«

»Ich werfe Euch gar nichts vor ... bis jetzt«, erwiderte Fidelma, unbeeindruckt von dieser Zurschaustellung unverhohlener Mißachtung. »Ihr behauptet also, daß niemand aus der Gemeinschaft verschwunden ist? Ihr könnt über all Eure Schwestern Rechenschaft ablegen?«

»Ja.«

Fidelma war das kurze Zögern vor Schwester Siom-has Antwort nicht entgangen, doch erschien es ihr sinnlos, die Verwalterin unter Druck zu setzen. Sie fuhr fort: »Als Ihr die Äbtissin holtet, deutete sie da in irgendeiner Weise an, daß sie den Leichnam erkannte?«

Die Verwalterin starrte sie an, als versuche sie, die Motive für diese Frage zu ergründen.

»Wie sollte die Äbtissin die Tote denn erkennen? Sie hatte doch keinen Kopf.«

»Also war Äbtissin Draigen beim Anblick des Leichnams überrascht und entsetzt?«

»Genau wie wir alle, Ja.«

»Und Ihr habt keine Ahnung, wer die Tote war?«

»Bei meiner Seele!« stieß das Mädchen hervor. »Das habe ich doch schon gesagt. Ich finde Eure Fragerei äußerst widerwärtig und werde Äbtissin Draigen davon berichten.«

Fidelma lächelte verkniffen.

»Ach, genau. Äbtissin Draigen. Wie ist eigentlich Euer Verhältnis zu ihr?«

Der funkelnde Blick der Verwalterin wurde unsicher.

»Ich verstehe nicht ganz, was Ihr meint.« Ihre Stimme klang eisig und bekam einen drohenden Unterton.

»Ich dachte, meine Worte waren deutlich genug.«

»Ich genieße das Vertrauen der Äbtissin.«

»Seit wann seid Ihr hier rechtaire?«

»Genau seit einem Jahr.«

»Wann seid Ihr in die Gemeinschaft eingetreten?«

»Vor zwei Jahren.«

»Ging das nicht alles ein bißchen schnell: kaum gehörtet Ihr der Gemeinschaft an, wurde Euch auch schon das zweitwichtigste Amt in der Abtei übertragen?«

»Äbtissin Draigen vertraut mir eben.«

»Danach habe ich nicht gefragt.«

»Ich erledige meine Arbeit einwandfrei. Wenn jemand für eine Aufgabe geeignet ist, dann spielt das Alter doch wohl keine Rolle, oder?«

»Dennoch, nach normalen Maßstäben ist eine bemerkenswert kurze Zeit vergangen zwischen dem Zeitpunkt Eures Eintritts in das Kloster und dem Zeitpunkt Eurer Ernennung für Euer Amt.«

»Ich habe keinen Vergleich, um das zu beurteilen.«

»Wart Ihr in einer anderen religiösen Gemeinschaft, bevor Ihr hierherkamt?«

Schwester Siomha schüttelte den Kopf.

»In welchem Alter seid Ihr also hier eingetreten?«

»Mit achtzehn Jahren.«

»Dann seid Ihr erst zwanzig?«

»In einem Monat werde ich einundzwanzig«, antwortete das Mädchen abwehrend.

»Dann muß Euch Äbtissin Draigen tatsächlich uneingeschränkt vertrauen. Von Eurer Eignung für Eure Aufgaben einmal abgesehen - Ihr seid ausgesprochen jung für das Amt einer rechtaire«, sagte Fidelma ernst, und bevor Schwester Siomha etwas entgegnen konnte, fügte sie hinzu: »Und Ihr wiederum vertraut Äbtissin Draigen selbstverständlich auch?«

Das Mädchen runzelte die Stirn und konnte der Richtung von Fidelmas Fragen offenbar nicht folgen.

»Natürlich vertraue ich ihr. Sie ist meine Äbtissin, das Oberhaupt dieser Abtei.«

»Und mögt Ihr sie?«

»Sie ist eine weise und verläßliche Beraterin.«

»Ihr habt nichts gegen sie vorzubringen?«

»Was sollte ich vorbringen?« stieß Schwester Siom-ha hervor. »Ich muß erneut feststellen, daß mir Eure Fragen nicht gefallen.«

Das Mädchen betrachtete Fidelma mit einer Mischung aus Mißtrauen und Verärgerung.

»Bei Fragen geht es nicht darum, ob sie einem gefallen oder nicht. Wenn sie von einer ddlaigh der Bre-hon-Gerichtsbarkeit gestellt werden, muß man sie beantworten.« Erneut hatte Fidelma beschlossen, dem Mädchen, das ihre Autorität immer wieder mißachtete, mit einer angriffslustigen Antwort zu begegnen.

Schwester Siomha zuckte zusammen. Sie war es nicht gewohnt, von jemandem so herausgefordert zu werden.

»Ich ... ich habe keine Ahnung, warum Ihr mir diese Fragen stellt, aber Ihr scheint damit irgendeine Kritik an mir und nun auch an der Äbtissin andeuten zu wollen.«

»Warum sollte ich Euch kritisieren?«

»Versucht Ihr jetzt, mir das Wort im Mund umzudrehen?«

»Das Wort im Mund umzudrehen?« wiederholte Fidelma überrascht. »Ich versuche keineswegs, Euch das Wort im Mund umzudrehen. Ich stelle lediglich Fragen, um mir ein Bild davon zu machen, was hier passiert ist. Beunruhigt Euch das so sehr?«

»Das beunruhigt mich überhaupt nicht. Je eher das Geheimnis aufgeklärt ist, desto eher können wir zu unserem normalen Alltag zurückkehren.«

Schwester Fidelma gab auf. Sie hatte versucht, Siomha ihren Hochmut auszutreiben, war dabei jedoch kläglich gescheitert.

»Na schön. Ihr seid meiner Meinung nach eine urteilsfähige und intelligente Person, Schwester Siomha. Ihr behauptet, die Tote ohne Kopf stamme nicht aus dieser Gemeinschaft. Was glaubt Ihr, woher sie kam?«

Schwester Siomha zuckte die Achseln.

»Ist es nicht Eure Aufgabe, das herauszufinden?« fragte sie sarkastisch.

»Und ich tue mein Bestes, um diese Aufgabe zu erfüllen. Wie dem auch sei, Ihr habt mir versichert, daß es sich nicht um ein Mitglied Eurer Gemeinschaft handelt. Könnte es sich denn um jemanden aus der Gegend hier handeln?«

»Die Tote war ohne Kopf. Ich habe Euch doch schon gesagt, daß ich sie nicht erkannt habe.«

»Aber sie könnte doch aus der Gegend hier stammen. Vielleicht gehörte das Mädchen zu Adnars Gemeinschaft jenseits der Bucht?«

»Nein!« Die Antwort kam so scharf und schnell, daß Fidelma überrascht die Augenbrauen hob.

»Ach? Kennt Ihr Adnars Gemeinschaft denn so genau?«

»Nein ... nein; es ist nur so, daß ich nicht glaube .«

»Ah«, Fidelma lächelte. »Wenn Ihr nur glaubt, daß es so ist oder nicht so ist, dann wißt Ihr es nicht. Ist dem nicht so? Also vermutet Ihr es lediglich, Schwester Siomha. Wenn Ihr in diesem Fall von Vermutungen ausgeht, habt Ihr das bei den Antworten auf meine vorherigen Fragen vielleicht auch nur getan?«

Schwester Siomha war empört.

»Wie könnt Ihr unterstellen .!«

»Entrüstung ist keine Antwort«, erwiderte Fidelma selbstgefällig. »Und Arroganz ist keine Lösung für .«

Ein schüchternes Klopfen ertönte. Schwester Bronach trat durch die Bodenklappe ein.

»Was gibt es?« fuhr Schwester Siomha sie an.

Die ältere Nonne zuckte angesichts der barschen Begrüßung zusammen.

»Die Mutter Oberin schickt mich. Sie verlangt Euch unverzüglich zu sehen.«

Schwester Siomha atmete langsam aus.

»Soll ich denn die Wasseruhr alleinlassen?« fragte sie in verbittertem, sarkastischem Tonfall und deutete auf die Schale hinter ihr.

»Ich werde mich darum kümmern«, erwiderte Schwester Bronach ruhig.

Schwester Siomha erhob sich und starrte Fidelma einen Augenblick an.

»Ich nehme an, ich habe Eure Erlaubnis, jetzt zu gehen? Ich habe Euch alles gesagt, was ich über diese Angelegenheit weiß.«

Fidelma neigte wortlos den Kopf, und die junge Verwalterin stapfte in unverhohlenem Zorn hinaus. Fidelma machte sich den Vorwurf, daß sie ihrem temperamentvollen Gegenüber gestattet hatte, den Ton der Befragung zu bestimmen. Sie hatte gehofft, ihr scharfer, unnachgiebiger Fragestil könnte Schwester Siomhas Hochmut bezwingen, doch sie hatte sich geirrt.

Schwester Bronach brach das Schweigen.

»Sie ist verärgert«, bemerkte sie leise, während sie zur Feuerstelle hinüberging und das Becken mit dem dampfenden Wasser kontrollierte.

Genau in diesem Augenblick sank die schwimmende Kupferschale plötzlich unter Wasser, und Schwe-ster Bronach trat unverzüglich zu dem großen Gong am offenen Fenster, ergriff den Stock und schlug den Gong so kräftig, daß es auf dem ganzen Abteigelände zu hören war. Dann beeilte sie sich, die Schale aus dem Wasser zu nehmen und auszuleeren, so daß sie wieder auf der Wasseroberfläche schwamm. Sie hantierte dabei geschickt mit einer etwa einen halben Meter langen hölzernen Zange, damit sie nicht mit dem heißen Wasser in Berührung kam.

Fidelma war von dem Vorgang fasziniert und vergaß darüber zeitweilig sogar Schwester Siomha. Sie hatte bisher erst ein- oder zweimal gesehen, wie eine Wasseruhr funktionierte.

»Erzählt mir etwas über die Wasseruhr«, forderte sie Bronach mit ehrlichem Interesse auf.

Schwester Bronach warf Fidelma einen unsicheren Blick zu, als überlege sie, ob hinter ihrer Frage eine verborgene Absicht steckte. Offenbar kam sie zu dem Schluß, daß dem entweder nicht so war oder daß sie es andernfalls doch nicht feststellen konnte, und deutete auf die Vorrichtung.

»Man muß die Wasseruhr oder die Klepsydra, wie wir sie nennen, ununterbrochen überwachen.«

»Das kann ich mir vorstellen. Erklärt mir den Mechanismus.«

»Dieses Becken«, Schwester Bronach deutete auf die große bronzene Schüssel, die auf dem Feuer stand, »ist mit Wasser gefüllt. Das Wasser wird ständig erhitzt, und obenauf schwimmt eine kleine, leere Kupferschale, die im Boden ein winziges Loch hat.«

»Ich sehe es.«

»Das heiße Wasser dringt durch das Loch im Boden der Schale und füllt sie allmählich, bis sie schließlich auf den Grund sinkt. Wenn das passiert, ist eine Zeitspanne von fünfzehn Minuten verstrichen. Wir nennen das eine pongc. Sobald die Schale auf den Grund des Beckens sinkt, muß die Aufseherin den Gong schlagen. Es gibt vier pongc pro uair, und sechs uair sind ein cadar. Nach jeder vierten pongc machen wir nach dem Gongschlag eine Pause und schlagen dann die Zahl der uair; nach jeder sechsten uair machen wir wiederum eine Pause und schlagen dann die Zahl der cadar, der Tagesviertel, an. Eigentlich eine sehr einfache Methode.«

Schwester Bronachs Erklärung wurde immer lebhafter, und zum ersten Mal in Fidelmas kurzen Begegnungen mit ihr wirkte sie richtig lebendig.

Fidelma schwieg einen Augenblick, in Gedanken versunken, und hatte plötzlich eine Idee, wie sie noch mehr in Erfahrung bringen könnte.

»Und die Wasseruhr ermöglichte Euch, den genauen Zeitpunkt anzugeben, zu dem Ihr den Leichnam gefunden habt?«

Schwester Bronach nickte abwesend, während sie die Wassertemperatur kontrollierte und das Feuer unter dem großen Becken schürte.

»Es ist also ein recht umständliches Geschäft, die Wasseruhr zu beaufsichtigen?«

»Ziemlich umständlich«, stimmte die Schwester zu.

»Um so mehr hat es mich verwundert, die rechtaire bei der Verrichtung dieser Aufgabe anzutreffen«, bemerkte Fidelma spitzfindig.

Bronach antwortete mit einem Kopfschütteln.

»Ganz und gar nicht. Wir sind sehr stolz auf die Genauigkeit unserer Klepsydra. Jedes Mitglied der Gemeinschaft erklärt sich beim Eintritt in die Abtei damit einverstanden, sich an der Beaufsichtigung der Uhr zu beteiligen. So steht es in unseren Regeln. Schwester Siomha ist immer sehr darauf bedacht, daß diese Regeln eingehalten werden. In den letzten Wochen hat sie sogar darauf bestanden, die meisten Nachtwachen selbst zu übernehmen - das heißt von Mitternacht bis zum morgendlichen Ängelus. Sogar unsere Mutter Oberin übernimmt manchmal die Aufsicht, wie alle anderen auch. Niemand darf die Uhr länger als ein cadar, also länger als sechs Stunden, beaufsichtigen.«

Fidelma runzelte plötzlich die Stirn.

»Wenn Schwester Siomha heute Nacht Dienst tut, was hatte sie dann jetzt, kurz nach der Mittagszeit, hier zu suchen?«

»Ich habe nicht gesagt, daß sie alle Nachtwachen übernimmt. Das wäre auch nicht erlaubt, schließlich muß jede Schwester mal die Uhr beaufsichtigen. Sie übernimmt allerdings die meisten Nachtdienste, und sie ist eine äußerst penible Person.«

»Und hatte Siomha auch Dienst in der Nacht, bevor der Leichnam entdeckt wurde?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Ein ziemlich langweiliger Dienst: immer nur dar-auf warten, daß die Schale sinkt, und sich dann erinnern, wie oft der Gong geschlagen werden muß«, bemerkte Fidelma.

»Nicht, wenn man ein kontemplativer Mensch ist«, erwiderte Schwester Bronach. »Es gibt nichts Entspan-nenderes, als das erste cadar zu übernehmen, von Mitternacht bis zum morgendlichen Ängelus. Diese Zeit mag ich am liebsten. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum Schwester Siomha gern den Nachtdienst übernimmt. Man kann in aller Ruhe seinen Gedanken nachhängen.«

»Aber Gedanken können sich selbständig machen«, erklärte Fidelma unbeirrt. »Ihr könntet vergessen, wieviel Zeit bereits verstrichen ist und wie oft der Gong geschlagen werden muß.«

Schwester Bronach ergriff eine Tafel, die aus einem Holzrahmen bestand, der eine Schicht weichen Lehms umschloß. Daneben lag ein Griffel, Sie machte mit dem Griffel ein Zeichen und reichte Fidelma die Tafel.

»Gelegentlich kommt das vor«, gestand sie. »Doch wir müssen gewisse Rituale einhalten. Jedesmal, wenn wir den Gong anschlagen, müssen wir pongc, uair und cadar hier verzeichnen.«

»Aber Fehler sind möglich?«

»O Ja. In der Nacht, von der Ihr spracht, in der Nacht, bevor wir den Leichnam entdeckten, hatte sich sogar Schwester Siomha verrechnet.«

»Verrechnet?«

»Zeitnehmerin zu sein ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe, aber sollten wir einmal vergessen, wie oft wir den Gong schlagen müssen, dann brauchen wir nur auf der Tafel nachzuschauen, und wenn sie voll ist, streichen wir sie einfach wieder glatt und beginnen von vorne. Schwester Siomha muß mehrere Zeiträume falsch berechnet haben, denn als ich sie am Morgen ablöste, war die Lehmtafel verwischt und ungenau.«

Fidelma musterte die Tafel eingehend. Sie interessierte sich weniger für die Zahlen, die dort verzeichnet waren, als vielmehr für die Beschaffenheit des Lehms. Er war von einem sonderbaren Rot, das ihr bekannt vorkam.

»Stammt der Lehm aus dieser Gegend?«

Schwester Bronach nickte.

»Und woher kommt diese merkwürdige rote Färbung?«

»Oh, das. Ganz in der Nähe gibt es Kupferminen, und dieser Lehm ist typisch für die Gegend hier: er ist eine Mischung aus Kupfer, Lehm und Wasser, daher die auffallende rote Tönung. Der Lehm ist einfach ideal für unsere Schreibtafeln. Die Oberfläche bleibt länger weich als bei normalem Lehm, so daß wir keine anderen Schreibmaterialien verschwenden müssen. Für die Aufzeichnungen über die Klepsydra gibt es nichts Besseres.«

»Kupfer«, flüsterte Fidelma nachdenklich. »Kupferminen.«

Sie fuhr mit einem Finger über die Oberfläche des weichen, feuchten Lehms, grub ihren Fingernagel tief hinein und hob ein Lehmbröckchen heraus.

»Vorsicht, Schwester«, protestierte Bronach, »zerstört doch nicht die Aufzeichnungen.«

Schwester Bronach wirkte etwas ungehalten, als sie Fidelma die Schreibtafel freundlich aus der Hand nahm und die weiche Oberfläche sorgfältig wieder glattstrich.

»Es tut mir leid.« Fidelma lächelte abwesend. Fasziniert betrachtete sie die rötliche Substanz an ihren Fingerspitzen.

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